Für die Handball-Bundesliga sehen Experten gleich mehrere ernsthafte Titelanwärter. Neben Meister SC Magdeburg rechnen sich auch die Teams aus Kiel, Flensburg und Berlin Chancen auf Platz eins aus.
Wer Erfolg hat, der wird hofiert. Das haben auch die Handballer des SC Magdeburg nach ihrem überraschenden Meistertitel in der Saison 2021/22 erfahren. Es gab etliche Ehrungen, Empfänge und Sponsorentreffen. Profis, die nicht im Fußballgeschäft ihr Geld verdienen, sehen solche Termine in der Regel nicht als lästige Pflicht. Doch ganz im Gegenteil. Auch die SCM-Spieler genossen das Rampenlicht, so wie beim jüngsten „Sport Bild"-Award in Hamburg, bei dem das Team als „Überraschung des Jahres" einen Preis überreicht bekam. Auf dem roten Teppich machten Philipp Weber und Co. auch im Anzug eine gute Figur und antworteten sympathisch auf alle Fragen – und waren sie noch so merkwürdig.
Rückraumspieler Christian O’Sullivan wurde zum Beispiel von der Moderatorin gefragt, ob denn er oder Fußballstar Erling Haaland in seiner norwegischen Heimat berühmter sei. „Das ist schon Haaland", sagte O’Sullivan lächelnd. 7.600 (O’Sullivan) zu 17,8 Millionen Follower (Haaland) allein auf Instagram lassen da keinen Interpretationsspielraum. Trotzdem haben auch die handballverrückten Norweger registriert, dass der 31-jährige O’Sullivan in der Handball-Bundesliga (HBL) mit Außenseiter Magdeburg den Titel gewonnen hat. Auch im hohen Norden hat die Szene darüber gestaunt. „Dieses Jahr haben wir es gewonnen, sonst immer Kiel und Flensburg", sagte O’Sullivan. „Wir hoffen, dass wir wieder um den ersten Platz kämpfen können." Titelverteidiger Magdeburg zählt natürlich mit zu den Favoriten der neuen HBL-Saison, die am 1. September mit vier Partien – darunter das „kleine" Nord-Derby zwischen dem HSV Hamburg und der SG Flensburg-Handewitt – gestartet ist. Einen Tag zuvor war es im Supercup in Düsseldorf zum ersten Schlagabtausch zwischen Magdeburg und Rekordmeister THW Kiel gekommen. Der Supercup-Titel ist ganz nett, doch was für die Topteams wirklich zählt, ist, nach 34 Spieltagen auf Platz eins der Tabelle zu stehen. Experten erwarten einen Vierkampf zwischen den beiden Nordclubs Kiel und Flensburg sowie Magdeburg und den Füchsen Berlin. Nicht unwahrscheinlich, dass erst der letzte Spieltag am 11. Juni 2023 über den Meister der 56. Bundesligasaison entscheidet.
Bis zu sechs Titelkandidaten
SCM-Geschäftsführer Marc-Henrik Schmedt glaubt sogar, dass „bis zu sechs Mannschaften um den Titel spielen können". Die HBL sei „nicht nur die stärkste Liga der Welt, sondern auch die ausgeglichenste Liga der Welt". Hier könne sogar „der Erste gegen den Letzten verlieren", meinte Schmedt, „das ist Spannung, das macht die Bundesliga aus und ist sehr interessant für den Zuschauer". Langeweile wie in der Fußball-Bundesliga, in der Rekordmeister Bayern München schon früh in der Saison andeutete, in einer eigenen Liga zu spielen, dürfte also nicht aufkommen.
„Ich bin davon überzeugt, dass es spannend wird", sagte auch Flensburgs Trainer Maik Machulla. Eine perfekte Saison, wie sie der THW Kiel 2012 unter dem heutigen Bundestrainer Alfred Gislason mit 68:0 Punkten hingelegt hatte, sei daher unvorstellbar. „Jeder wird einen Hänger haben, weil die Liga zu gut ist", erklärte Machulla: „Man muss immer 100 Prozent geben, gegen Kiel genauso wie gegen den Bergischen HC." Vor allem gegen Teams wie dieses. „Denn das sind letztendlich die Punkte, die darüber entscheiden, ob du dein Ziel erreichst oder nicht", meinte Machulla, der betonte: „In den großen Spielen verlierst du die Meisterschaft nicht."
Ähnlich sieht es sein Kieler Trainerkollege Filip Jicha. „Du musst eine gewisse Konstanz zeigen, um den Titel zu holen", weiß der Tscheche. Diese Konstanz fehlte dem Rekordchampion in der Vorsaison, deswegen gab es nach den Meisterschaften 2020 und 2021 eine Titel-Pause. Jicha hofft, dass sein mit etlichen Stars besetztes Team aus diesen Fehlern gelernt habe, „dann werden wir um die Schale kämpfen". Und dabei versuchen, die Machtverhältnisse im deutschen Handball wieder geradezurücken.
Wiegert gilt als toller Motivator
Magdeburg geht als Gejagter in die Saison – eine völlig neue Herausforderung für die Protagonisten. Doch Lukas Mertens sieht die Umstellung für den Kopf nicht besonders problematisch. „Im Leistungssport ist es so: Du hast immer Druck", sagte der Linksaußen: „Wir haben letzte Saison dem Druck standgehalten, und ich hoffe, das geht die nächsten Jahre so weiter." Doch auch die Doppelbelastung mit der Champions League müssen die Magdeburger erst einmal meistern. Meistertrainer Bennet Wiegert will über die möglichen negativen Auswirkungen auf den Ligabetrieb aber nicht nachdenken. „Wir freuen uns auch auf die Champions League. Wir haben lange darauf gewartet, auch in diesem Wettbewerb dabei sein zu dürfen", sagte er. Der als großer Motivator bekannte Wiegert will seine Jungs auch in der Königsklasse nicht zügeln, nur um in der Liga vielleicht etwas frischer an den Start gehen zu können. Eine Alternative zum Vollgas-Handball, der das Team in der Vorsaison ausgezeichnet hat, gebe es nicht: „Wer uns kennt, der weiß, dass die Freude mit dem Gewinnen kommt. Wir versuchen natürlich auch dort, so oft wie möglich zu gewinnen."
Magdeburg startet am 4. September mit einem Heimspiel gegen den ASV Hamm-Westfalen in die Saison, und auch am zweiten Spieltag gegen den VfL Gummersbach geht es gegen einen Aufsteiger. Das Startprogramm hätte schlimmer kommen können – doch genau in diesem Denken lauert die Gefahr, warnt Wiegert.
Der 40-Jährige sieht die „vielleicht schwierigste Saison" seit seiner Amtsübernahme 2013 auf sich zukommen. Bestätigt wurde er in manchen Testspielen, so wie beim ersten vor heimischen Fans gegen den französischen Erstligisten Chambéry Savoie Mont Blanc Handball. Der Bundesliga-Erste gewann zwar gegen den Fünften der französischen Liga mit 31:28, und die Fans feierten jedes Tor – doch Wiegert war überhaupt nicht zufrieden: „Mir haben heute die Laufbereitschaft gefehlt und die Bereitschaft, alles rauszuhauen." Wer Wiegert kennt, der weiß, dass die Bereitschaft für ihn ein neuralgischer Punkt ist.
Ebenfalls heikel: Auf der im Handball so wichtigen Torwart-Position gibt es einen Wechsel. Die Ära Jannick Green Krejberg ist beendet, das neue Torwartduo bilden Nikola Portner und Mike Jensen. Neuzugang Portner, ein Schweizer Handballspieler serbischer Abstammung, der zuletzt in Frankreich unter Vertrag stand, ist heiß auf den Saisonstart. Er sieht keine großen Umstellungsprobleme: „Ich habe die Spiele der Magdeburger natürlich verfolgt, die Art und Weise, wie die Mannschaft spielt, und natürlich, wie die Verteidigung funktioniert."
Beim THW Kiel steht weiterhin der Superstar Niklas Landin im Tor – allerdings nur noch eine Saison. Der aktuelle Welthandballer wird im kommenden Sommer in seine dänische Heimat zu Aalborg Handbold zurückkehren. Sein Vertrag beim deutschen Rekordmeister wäre noch zwei Jahre gelaufen, doch Landin wollte diesen Schritt aus „rein familiären Gründen" schon jetzt gehen. Motivationsprobleme gebe es keine, versicherte der vielleicht beste Handballtorwart der Welt: „Der Abschied aus der Bundesliga ist in meinem Kopf noch ganz weit weg. Ich will bis dahin alles mit dem THW Kiel gewinnen und genieße noch einmal die verbleibende Zeit. Ich habe Bock, dass es wieder losgeht!"
Ein Kieler Erfolgsgarant bleibt dagegen bis 2026: Trainer Jicha hat seinen Vertrag kurz vor Saisonstart verlängert. Er werde solange bleiben, wie er „die Energie" spüre, er das Vertrauen des Vereins spüre und seine Familie keine Einwände hege. „Ich bin sehr stolz, unseren eingeschlagenen Weg weitergehen zu dürfen", sagte der Trainer, der in drei Jahren sechs Titel mit den Zebras gewann. Personell freut sich Jicha auf seine „Wunschspieler" Eric Johansson, Karl Wallinius (beide Rückraum), Petter Øverby (Kreis) und Tomas Mrkva (Torwart). Sorgen bereiten ihm aber die schweren Verletzungen der Führungsspieler Sander Sagosen und Hendrik Pekeler, die wohl erst zu Beginn der Rückrunde wieder zur Verfügung stehen werden.
Golla mit mehr Verantwortung
Bei den Flensburgern wurde der langjährige Star Lasse Svan verabschiedet, auf den breiten Schultern von Johannes Golla lastet nun noch mehr Verantwortung. Der Abwehrchef wurde – genau wie in der Nationalmannschaft – zum Kapitän der SG gewählt. „Es wird wohl so sein, dass ich mehr gefordert sein werde, wenn es mal nicht so gut läuft und mehr Gespräche geführt werden müssten", sagte Golla. Damit hatte er schon in der Vorbereitung viel zu tun, denn so ganz rund lief diese nicht. „Die ersten Testspiele waren in Ordnung. Hin und wieder unterlaufen uns noch die gleichen Fehler", meinte Golla. Als Neuzugänge sollen Jóhan á Plógv Hansen (Rechtsaußen) und August Pedersen (Linksaußen) die Qualität im Kader erhöhen.
Als vierter im Bunde rechnen sich die Füchse Berlin Chancen auf den Meistertitel aus. Nach Platz drei in der Vorsaison wird nun einer der ersten beiden Ränge angegriffen. Größter Hoffnungsträger ist ein 23-Jähriger: Mathias Gidsel.
Der dänische Shootingstar wird von Sportvorstand Stefan Kretzschmar als „eines der größten Talente unserer Zeit" gepriesen, und Trainer Jaron Siewert erwartet, dass der Linkshänder das „Niveau anheben" werde. Vor allem, weil auf Gidsel in engen Spielsituationen Verlass sei. „Er ist einer, der bewiesen hat, dass er in der Crunchtime wenig Fehler macht und eine extrem hohe Effizienz hat", sagte Siewert: „Das sind genau die Punkte, die wir bei uns verbessern wollen."
Für die ambitionierten Pläne des Hauptstadtclubs wolle er „ein Puzzle" sein, meinte Mathias Gidsel. Doch als Messias sieht er sich nicht: „Ich bin nicht Superman." Nur im Zusammenspiel sei großer Erfolg möglich. Neben Gidsel sollen auch die Neuzugänge Max Darj und Wiktor Kirejew für einen Leistungsschub sorgen.