Außerhalb der Tischtennis-Szene war Dang Qiu bis zu den European Championships in München nahezu ein Nobody. Nach seinem Überraschungs-Triumph aber gilt der erste deutsche Nationalspieler mit der chinesischen Penholder-Griffhaltung als Hoffnungsträger für die Zeit nach Timo Boll.
Bis zur zweiten August-Hälfte war Dang Qiu in der deutschen Tischtennis-Nationalmannschaft vor allem wegen Äußerlichkeiten etwas Besonderes. Neben Ikonen wie Timo Boll oder auch dem Saarbrücker Starspieler Patrick Franziska fiel der gebürtige Nürtinger der breiten Öffentli
chkeit vor allem als erster Spieler im Team von Bundestrainer Jörg Roßkopf mit chinesischen Wurzeln und der für die Heimat seiner Eltern typischen Penholder-Griffhaltung auf.
Seit den European Championships in München aber ist Qiu auch Sportfans außerhalb der Szene ein Begriff. Durch seinen sensationellen Einzeltriumph im Endspiel seines EM-Debüts im Einzel gegen Saarbrückens slowenischen Europe-Top-16-Cup-Sieger Darko Jorgic besonders nach einem erdbebenähnlichen Viertelfinal-Coup über Titelverteidiger, EM-Rekordgewinner und Publikumsliebling Boll ist der Wahl-Düsseldorfer selbst zu einer großen Nummer am Tisch avanciert. Immerhin führte die Weltrangliste Qiu nach München als Nummer neun und damit erstmals in seiner Laufbahn als höchstnotierten Spieler aus Deutschland. An die voraussichtlichen Veränderungen für seine Karriere durch den EM-Erfolg und die womöglich langfristige Sonderstellung als deutscher Nummer eins denkt der 25-Jährige mit einer sympathischen Mischung aus bodenständigem Selbstbewusstsein und auch Demut: „München und der eine andere Erfolg kurz vorher habe ich insgesamt noch nicht realisieren können. Ich war bei der EM als der vier topgesetzten Spieler ja auch schon einer der Gejagten, und natürlich sind der EM-Titel und die Top-10-Platzierungen große Errungenschaften, aber da gibt es in Deutschland noch ganz andere Legenden vor mir, die noch sehr viel mehr erreicht haben als ich bisher. Im Vergleich zu anderen Nationalspielern muss ich erst noch einiges mehr gewinnen."
Mischung aus Selbstvertrauen und Demut
Gewonnen hat Qiu alleine in den vergangenen 18 Monaten jedoch schon eine Menge. Vor seinem EM-Gold feierte der Schwabe bei den kontinentalen Titelkämpfen 2021 auch schon die Titel im Mixed (mit Nina Mittelham) und mit der Mannschaft, holte an der Seite von Boll mit Rekordchampion Borussia Düsseldorf den Bundesliga-Titel (im Finale gegen den 1. FC Saarbrücken-TT), gewann beim WTT-Turnier in Perus Hauptstadt im Finale gegen seinen um ein Comeback kämpfenden Nationalmannschafts-Kollegen Dimitrij Ovtcharov seinen zweiten internationalen Titel und räumte bei der Einzel-DM in Saarbrücken mit seinem fünften Erfolg nacheinander im Doppel (mit Benedikt Duda) sowie seinem Premieren-Sieg im Einzel ab. So unverhofft seine Erfolgssträhne für viele Außenstehende erscheinen mag, so sehr ist Qius kometenhafter Aufstieg in die Weltspitze vor allem das Resultat von jahrelanger Arbeit. „Die Ergebnisse kamen zuletzt alle in einem sehr kurzen Zeitraum, aber ich würde schon sagen, dass ich eigentlich schon über zwei Jahre ziemlich konstant und auch sehr gut gespielt habe. Ich habe mich konstant weiterentwickelt und beständig gute Ergebnisse gebracht. Das hat mir natürlich viel Selbstvertrauen gebracht und dementsprechend auch die Erfolge. Aber was daraus geworden ist – das hätte ich mir tatsächlich nicht vorstellen können", meint der Rechtshänder.
Auffällig in Qius Aussagen ist die Häufigkeit des Begriffes „Konstanz" – nicht von ungefähr: „Kontinuität ist meine Philosophie. Ich habe viele Jahre hart gearbeitet, und wenn es trotzdem zwischendurch auch einmal nicht so läuft wie gewünscht, muss man immer weitermachen und immer daran glauben."
Nur einmal hat Qiu den Glauben an etwas im Tischtennis verloren: als Siebenjähriger an die westliche Shakehand-Griffhaltung. „Ich hatte", blickt Qiu auf die womöglich schon entscheidendste Weichenstellung seines Sportler-Lebens zurück, „ich hatte tatsächlich mit dem Shakehand-Griff angefangen, konnte aber wegen des längeren Griffs dabei keine Rückhand spielen, weil dabei immer mein Unterarm oder Handgelenk berührt wurde. Da hat mein Vater eigentlich im Spaß gesagt, probiere doch mal, Penholder zu spielen. Weil das auch richtig gut gepasst hat, bin ich dann auch dabei geblieben, wobei man mit sechs, sieben Jahren ja auch noch gar nicht wissen kann, wo die Reise einmal hingehen wird, und dadurch war Penholder erst einmal einfach nur ganz lustig und cool."
Die Expertise seines Vaters ist kein Zufall gewesen. Qiu Jianxin spielte einst in der chinesischen Nationalmannschaft, war Studenten-Weltmeister und siedelte später mit seiner Frau Chen Hong, ebenfalls eine Nationalspielerin, nach Deutschland über. Nach seiner aktiven Karriere beim TTC Frickenhausen führte Qiu senior das Team 2006 und 2007 als Chefcoach zu zwei Meister-Titeln. Unweit seines Clubs baute sich Qiu mit Chen in Nürtingen durch die Gründung einer Tischtennis-Schule auch eine Existenz auf. Veranlagung und Prägung des heutigen Europameisters ließen sich schon kurz nach Dangs Geburt auf einem Foto des Sprösslings mit einem Miniatur-Schläger erkennen.
Als buchstäblicher „China-Faktor" wächst Qiu inzwischen in den Erfolgsrechnungen von Bundestrainer Roßkopf für den nächsten Angriff auf die chinesischen Dauer-Sieger zu einer immer wichtigeren Größe heran. „Wie ich Dang kenne, wird er weiter akribisch arbeiten und seine nächsten Ziele verfolgen", setzt der frühere Doppel-Weltmeister Hoffnungen und Erwartungen gleichermaßen in den Shootingstar seiner Mannschaft.
„Noch keine Wachablösung"
Einen Freifahrtschein in die französische Hauptstadt hat Qiu durch seinen EM-Titel allerdings noch längst nicht sicher. „Das", meint Roßkopf über die Ereignisse von München und mit Blick auf Boll, Ovtcharov und Franziska, „das war noch keine Wachablösung. Dafür sind die anderen noch zu gut."
Die Zeit spielt aber vor allem für Qiu. Mit 25 Jahren ist der EM-Gewinner der jüngste Spieler in Roßkopfs Spitzenquartett. „Methusalem" Boll wirkt mit 41 Jahren zwar weiter zumeist unverwüstlich und für jeden Sieg gut, erreicht aber auch immer seltener sein früheres Topniveau; Ovtcharov kämpft mit 33 Jahren nach zwei Knöcheloperationen noch um die Rückkehr zu seiner einstigen Spitzenform, und Franziska ist während der EM mit 30 Jahren zum ersten Mal Vater geworden. Roßkopf fühlt sich durch Qius Heimsieg an seine persönlichen Triumphe vor eigenem Publikum erinnert und sieht seinen derzeitigen Topspieler auch als mögliche Leitfigur für die Zukunft. „Dang hat im eigenen Land einen herausragenden Titel gewonnen. Mein WM-Titel im Doppel 1989 in Dortmund und mein EM-Erfolg 1992 in Stuttgart waren auch Startschüsse für Generationen, die dann nachgekommen sind, auch ein Timo Boll", sagte der 53-Jährige: „Dadurch haben wir in den vergangenen 30 Jahren viele Erfolge feiern können und sind froh, dass wir schon wieder gute Spieler haben, die große Ziele vor Augen haben können."
Dafür hält der WM-Dritte und ehemalige Weltranglistenerste Boll seinen Nachfolger auf dem EM-Thron auch auf jeden Fall bereit: „Dang lebt Tischtennis von morgens bis abends. Er guckt jedes Spiel, auch wenn er ein Turnier mal nicht spielt. Er ist ein Tischtennis-Verrückter oder sogar Tischtennis-Wahnsinniger im positivsten Sinne. Dabei hat er im Laufe der Jahre ein gutes Gespür dafür entwickelt, was er zu spielen hat."
Solche Fortschritte wertet Sportdirektor Richard Prause beim Deutschen Tischtennis-Bund (DTTB) auch als Beweis für die Qualität der Trainingsarbeit des Verbandes im Nachwuchsbereich und auch in den Nationalmannschaften. „Dang hat als Schüler und bei den Jugendlichen nicht so viele Medaillen abgeräumt wie andere. Aber in unserem System können wir jeden einzelnen Spieler noch lange weiterentwickeln und immer noch auf ein höheres Niveau bringen", sagt der frühere Nationalspieler und betont: „Daran sieht man, dass unser System funktioniert. Manchmal braucht es Geduld."