Von Arthouse-Movies zu Mainstream-Blockbustern – und wieder zurück. Will man die schottische Schauspielerin Tilda Swinton fassen, rinnt sie einem wie Quecksilber durch die Hände. Vielleicht kommt man ihr ja mit „Three Thousand Years Of Longing" (seit 1. September im Kino) etwas näher. Eine Spurensuche.
Femme Fatale, Mutter und Hausfrau, Leonardo DiCaprios Sidekick, Rechtsanwältin, Glam-Rock-Vampir, Virginia Woolfs Orlando, die Weiße Hexe von Narnia, der Erzengel Gabriel, David Bowies Ehefrau, Mentor von Doctor Strange, Madame D. –
Eigentümerin des Grand Hotel Budapest, Hollywood-Klatschbase: Das sind nur einige der Rollen, die sie in ihrer über 35 Jahre dauernden Karriere verkörpert hat. In ihrem neuen Film „Three Thousand Years Of Longing" (von „Mad Max"-Regisseur George Miller) ist sie Alithea Binnie, eine Akademikerin, die zu einer Konferenz nach Istanbul reist und dort auf einem Basar einen alten Glasflakon kauft. Als sie in ihrem Hotelzimmer das Souvenir reinigen will, löst sich der Verschluss und plötzlich entweicht ein Flaschengeist (Idris Elba). Dieser 3.000 Jahre alte Dschinn will Alithea drei Wünsche erfüllen – im Austausch gegen seine Freiheit. Doch wie Alithea aus den „Geschichten aus 1.001 Nacht" nur allzu gut weiß, gibt es bei so einem Deal oft einen Haken. Also unterhalten sich die beiden zunächst einmal. Und da beginnt der Flaschengeist aus seiner abenteuerlichen Lebensgeschichte zu erzählen. Zum Beispiel davon, wie er sich unsterblich in die Königin von Saba verliebt hat ...
Spieltrieb als Motivation
„Three Thousand Years Of Longing" ist eine höchst seltsame Mischung aus Dialog-Film und byzantinischer Fantasy-Exotik. Bei der bildgewaltigen Zeitreise in die Vergangenheit fühlt man sich manchmal in ein Marvel-Parallel-Universum versetzt, um dann wieder in einem langweiligen Hotelzimmer zu landen. „Mich hat an diesem Märchen vor allem gereizt, dass ich beim Drehbuchlesen lange nicht wusste, welche Wendungen die Geschichte nehmen würde und wie sie ausgeht", meint Tilda Swinton. „Und natürlich wollte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, mit Idris Elba gemeinsam vor der Kamera zu stehen. Ich dachte, wir beide könnten dabei viel Spaß haben. Genau so war es dann auch. Wir waren wie zwei ausgelassene Kinder in einem wunderbaren Spielzeugladen, der George Miller gehörte."
Der Spieltrieb ist für Tilda Swinton von jeher die größte Motivation, sich überhaupt vor eine Kamera zu begeben. Denn ein Filmstar wollte sie ganz bestimmt nie werden. „Ich wollte eigentlich nur einen einzigen Film machen. Ich dachte, das reicht doch, damit die Zuschauer mich kennenlernen." Das war der Experimental-Film „Caravaggio" (1986). Und sie fügt hinzu: „Wäre ich nicht diesem fantastischen Filmemacher Derek Jarman begegnet, wäre es wohl auch bei diesem einem Film geblieben."
Mit Derek Jarman hat Tilda Swinton noch sieben weitere Projekte realisiert. Jarman, der seine Homosexualität offen auslebte, wurde ihr Vertrauter, ihr Mentor. Bei ihm lernte sie, die nie eine Stunde Schauspielunterricht hatte, vor laufender Kamera zu agieren und dabei sie selbst zu sein. „Derek war ein wunderbarer Team-Player, der mir nicht nur das nötige Selbstvertrauen gab, frei und lustvoll zu performen, sondern auch sehr fordernd sein konnte. Er hat mich immer bis an meine Grenzen geführt – und darüber hinaus. Sein früher Tod 1994 war ein harter Schlag für mich. Ich vermisse ihn noch heute."
Aristokratische Herkunft
Der Kontrast zwischen ihrer aristokratischen Herkunft und ihrem sehr freizügigen und freigeistigen Londoner Bohème-Leben hätte kaum größer sein können. Geboren wurde Katherine Matilda Swinton in eine anglo-schottische Aristokraten-Familie, die ihre Abstammung bis ins Mittelalter zurückverfolgen kann. Der Swinton-Clan ist einer der ältesten Schottlands. Swinton besteht auch heute noch sehr gern darauf Schottin zu sein. Mit zehn Jahren wurde sie auf das West Heath-Internat geschickt, wo sie sich mit ihrer Klassenkameradin Lady Diana Spencer, der späteren Princess of Wales, anfreundete. „Ich fühlte mich aber in diesem Internat meist sehr alleine und isoliert. Ich wurde wegen meines Aussehens – Bohnenstange, karottenrote Haare – verspottet. Außerdem machte mich die Tatsache, dass ich intelligent war, mühelos lernen konnte und eine schnelle Auffassungsgabe hatte, bei meinen Mitschülern nicht gerade populär." Nach dem Internat ging sie auf die Cambridge University, mit dem Ziel, Dichterin zu werden. Was sie allerdings schnell wieder aufgab. „Das ist die große Schande in meinem Leben", gibt sie zu, „dass ich vieles anfange, um es dann sofort aufzugeben. Ich bin schamlos unambitioniert!"
Zum Glück blieb sie dann doch bei der Schauspielerei. An dieser Stelle gilt es darauf hinzuweisen, dass Tilda Swinton den Begriff „Actor/Schauspieler" überhaupt nicht mag. Und „Actress/Schauspielerin" schon gar nicht. Viel lieber benutzt sie für ihre Profession den deutschen Begriff „Mitarbeiter". „Dieses Wort beschreibt viel besser das, was ich eigentlich bei Dreharbeiten mache. Nämlich mich – im Kollektiv mit anderen – in einen ‚Kindergarten‘ zu begeben, um dort mit ihnen gemeinsam etwas zu lernen." Ob Tilda Swintons anarchistische Arbeitsauffassung mittlerweile bis in die Luxus-Etagen der Hollywood-Bosse durchgesickert ist, darf durchaus bezweifelt werden.
Anfang der 90er-Jahre besetzte Regisseurin Sally Potter sie als „Orlando" in der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Virginia Woolf. Für den Nobelmann Orlando, der im Verlauf seines 400 Jahre langen Lebens sein Geschlecht wechselt, gab es schlicht keine bessere Besetzung als die dandyhafte, androgyn-schillernde Tilda Swinton. Mit ihrer „Orlando"-Performance hatte sie dann auch ihren internationalen Durchbruch. Danach blieb Tilda Swinton einerseits ihrem Faible für Experimental-Filme und Arthouse-Movies treu, spielte aber auch in Hollywood-Kinohits mit wie zum Beispiel „The Beach" (2000) an der Seite von Leonardo DiCaprio und „Vanilla Sky (2001) mit Tom Cruise. Ein weiterer Meilenstein in ihrer illustren Karriere war dann 2007 der Thriller „Michael Clayton" mit George Clooney in der Hauptrolle. Für die Rolle als Rechtsanwältin Karen Crowder bekam sie ein Jahr später den Oscar für die Beste Nebenrolle. Danach rissen sich die coolen Filmemacher förmlich um sie, darunter Jim Jarmusch (mit ihm machte sie vier Filme, unter anderem „Broken Flowers" und „The Dead Don’t Die"), die Coen-Brüder mit „Burn After Reading" und „Hail, Caesar!", sowie Wes Anderson – vier Filme, unter anderem „Grand Budapest Hotel" und „The French Dispatch". Auch in Andersons neuem Film „Asteroid City" wird diese extrem wandlungsfähige „Mitarbeiterin" zu sehen sein.
Tilda Swinton erinnert sich: „Ich war ja inzwischen Mutter von Zwillingen (Honor und Xavier Swinton Byrne wurden 1997 geboren, Anm. d. Red.) und habe natürlich versucht, ein bisschen mehr Privatleben zu haben. Was mir allerdings nur bedingt geglückt ist. Denn die vielen tollen Angebote flatterten mir fast regelmäßig ins Haus. Es war wirklich ein großes Glück, dass mich Leute wie Jarmusch, Anderson und die Coen-Brüder immer wieder für ihre Filme haben wollten." Schon längst arbeitet Tilda Swinton nicht nur in in den USA, sondern war für Dreharbeiten in aller Welt unterwegs. Mit der Zeit wurde der Wunsch immer größer, endlich auch ein eigenes Heim zu haben. Also sagte sie eines Tages London Goodbye und zog zurück nach Schottland in die Highlands, in den kleinen Ort Nairn, unweit des Loch Ness. Dort lebt sie mit ihren Zwillingen, ihrem Lebenspartner, dem deutschen Konzeptkünstler Sandro Kopp und fünf Springer Spaniels. Von John Byrne, dem Vater ihrer Kinder, hat sie sich schon 2002 getrennt. Trotzdem lebte zweitweise der ganze „neue Swinton-Clan" in kreativer Einträchtigkeit unter einem Dach.
„Toleranz ist sehr wichtig"
Es ist schon bemerkenswert, dass Tilda Swintons androgyner Look, ihre Nonkonformität, ihre Queerness und ihre zum Teil radikal linken politischen Bekenntnisse ihrer Karriere nicht geschadet haben. Sie selbst führt ihren Erfolg darauf zurück, dass sie immer neugierig auf das Besondere war – und das Glück hatte, auf diesem Weg auch den richtigen Menschen zu begegnen. „Ich war immer offen und dialogbereit. Ich habe mich auch sehr gern mit Menschen auseinandergesetzt, deren Ansichten oder Meinungen ich nicht teilen konnte. Da ich mich fast mein ganzes Leben lang als Außenseiterin empfunden habe, war es mir immer sehr wichtig, diese Art von Toleranz auch zuzulassen. Toleranz ist für mich wirklich sehr wichtig. Auch deshalb bin ich von der sogenannten ‚Cancel-Culture‘ schwer enttäuscht. Da stelle ich einen krassen Mangel an der Bereitschaft zu debattieren fest. Und an der Größe zu sagen: Oh, interessant, dass du das denkst, denn ich denke etwas ganz anderes! Ich habe wirklich nichts dagegen Konflikte auszutragen. Das muss man im Leben doch aushalten können. Das ist doch das Salz in der Suppe. Das gilt übrigens auch für meine Arbeit."
Diese wilde Unerschrockenheit, sich auf Neues einzulassen und sich dann spielerisch in ihren Rollen auszuleben, macht Tilda Swinton bei fast jedem Film zum Ereignis. Dabei „spiele ich immer nur mich selbst", meint sie. „Alles, was ich mache, ist autobiographisch. Ich benutze meine Rollen als eine Art Prisma, in dem ich meine Wirklichkeiten spiegeln lasse. Und das hoffentlich auf eine sehr relaxte Art und Weise. Denn das Letzte, was ich will, ist, dass es so aussieht, als ob ich schauspielern würde." Das British Film Institute ehrte sie 2020 für ihr „gewagtes eklektisches und beeindruckendes Talent als Darstellerin und Filmemacherin" und lobte ihren „großen Beitrag zur Filmkultur und für die Philanthropie."
Diesen Mut, sich bei ihrer Arbeit und im wirklichen Leben auch auf unsicheres Gelände vorzutasten, um uns dann davon zu berichten, auch das macht ihre große Klasse aus. Und so passt es gut, dass uns Tilda Swinton als persönliches Credo den folgenden Satz mit auf den Weg gibt: „Meine Komfortzone ist, mich fremd zu fühlen."