In der Traditionellen Chinesischen Medizin sollen mithilfe der sogenannten Zungendiagnose Krankheiten, speziell auch einzelner Organe, allein anhand des Aussehens abgelesen werden können. Die westliche Schulmedizin stellt dies allerdings infrage.
Die jahrtausendealte chinesische Heilkunst wird hierzulande meist mit der Akupunktur verbunden, bei der feinste Nadeln an speziellen Punkten der Haut, genau definierten „Energiebahnen" des Körpers, den sogenannten Meridianen, eingestochen werden. Ist der Fluss der als Qi bezeichneten Lebensenergie durch diese Meridiane, die auch für das Funktionieren der Organe verantwortlich sind, gestört, kann es zu Erkrankungen kommen. Bei der Akupunktur kann das durch Lösung von Energieblockaden und Aktivierung der körperlichen Selbstheilungskräfte behoben werden. Klingt alles gut, konnte allerdings bislang wissenschaftlich noch nicht ausreichend belegt werden.
Bei der Akupunktur handelt es sich um ein alternatives Heilverfahren, das zu den fünf Säulen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) zählt. „Die chinesische Medizin beschränkt sich im Westen überwiegend auf die Akupunktur, ihre weiteren Aspekte sind weitgehend unbekannt", so der Internist Professor Carl-Hermann Hempen von der Technischen Universität München. „In China ist die Akupunktur ein Randbereich, ungefähr 90 Prozent der Beschwerden werden mit Kräutern behandelt."
Viele Disziplinen der TCM wie die Kräutertherapie oder die Tuina-Massage blieben im Westen lange unbekannt. Für die konkrete Beurteilung des Gesundheitszustandes kommen bei der TCM vor allem zwei Ansätze zum Einsatz: die Pulsdiagnostik, bei der die energetische Gesamtverfassung des Organismus überprüft wird, und die Zungendiagnostik. Womit wir beim eigentlichen Thema angelangt sind: Die Zungendiagnostik – oft auch nur als Zungendiagnose bezeichnet – wird in jüngster Zeit auch hierzulande immer häufiger als neue therapeutische Wunderwaffe gefeiert.
In Frauenmagazinen wie der „Elle", in Lifestyle-Publikationen oder auch aus dem naturkundlich-homöopathischen Bereich wird ziemlich unkritisch über diese Methode der Alternativmedizin berichtet. Diese gibt vor, aus dem Lesen und Bewerten von Veränderungen auf der Zunge, die als Träger von Reflexzonen für den gesamten Körper deklariert wird, direkte Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand eines Patienten ziehen zu können. Ähnlich wie bei der Akupunktur konnten bislang allerdings keine wissenschaftlichen Belege über ihren Nutzen erbracht werden. „Nur anhand des Aussehens der Zunge eine Krankheit eindeutig zu diagnostizieren, ist in den allerwenigsten Fällen möglich. Die Inspektion der Zunge liefert aber manchmal relevante Zusatzinformationen in Kombination mit anderen Untersuchungen", so Professor Markus Brunner, HNO-Spezialist an der Medizinischen Universität Wien.
Es ist kein Zufall, dass an dieser Stelle ein österreichischer Mediziner zitiert werden kann. Dort hat die TCM nämlich einen wesentlich größeren Stellenwert als beispielsweise in der Bundesrepublik, wo bislang nur die TCM-Klinik im oberpfälzischen Bad Kötzting als Facheinrichtung anerkannt ist – samt Kostenübernahme des stationären Aufenthalts durch die meisten Krankenkassen. Das ist bei anderen Einrichtungen wie der privat geführten Klinik am Steigerwald im bayerischen Gerolzhofen in der Regel nicht der Fall. In Österreich können Ärzte ein Zusatzdiplom für „Chinesische Diagnostik und Arzneitherapie" bei der Österreichischen Ärztekammer erwerben. Und es gibt auch eine von der Allgemeinmedizinerin Dr. Doris Verena Baustädter geleitete Wiener Schule für TCM, wo Studierende Wissen über dieses Fachgebiet erwerben können. Das mag erklären, warum in österreichischen Medien wie dem „Standard" immer wieder mal kontroverse Meinungen von Medizinern zum Thema TCM veröffentlicht werden, während im deutschen Blätterwald von seriöser Stelle bislang so gut wie niemand öffentlich Stellung dazu bezogen hat.
Dr. Baustädter ist eine glühende Verfechterin des wissenschaftlich umstrittenen Ansatzes, wonach die Zunge als Spiegel der Gesundheit angesehen werden kann. Die Mehrzahl ihrer Patienten, so Dr. Baustädter, nähme die Aufforderung zum Herausstrecken der Zunge meist mit Überraschung zur Kenntnis. Bei der Betrachtung der Zunge stehen im Rahmen der TCM vier Parameter im Mittelpunkt: die Größe der Zunge in Relation zur Mundhöhle, Farbe des Zungenkörpers, Farbe und Beschaffenheit des Zungenbelags und topologische Besonderheiten der Zunge wie Risse oder Furchen.
Zungen in allen Formen und Farben
Hinter alledem steht natürlich, wie auch bei der Akupunktur, die Lebensenergie Qi mitsamt den Meridianen und den beiden gegensätzlichen und sich dennoch ergänzenden Manifestationen des Qi, nämlich Yin (das dunklere, für alles Weibliche, Ruhe und Kälte stehende Element) und Yang (das hellere, für Männlichkeit, Kraft und Hitze stehende Element). In der TCM ist ein Mensch nur dann gesund, wenn die Lebensenergie ungestört fließen kann und Yin und Yang in ihm im Gleichgewicht sind. Wenn ein Mensch krank ist, bedeutet das folglich, dass seine Lebensenergie blockiert ist und Yin und Yang aus dem Gleichgewicht geraten sind. Für viele Menschen aus westlichen Kulturen dürften das ungewohnte Vorstellungen sein.
In der TCM werden verschiedene Areale der Zunge bestimmten Organen im Körper zugeordnet: „Die Zungenspitze steht für das Herz", so Dr. Baustädter, „der Bereich dahinter für die Lunge, der Mittelteil für den Magen und die Verdauung, die Ränder für die Leber und die Zungenwurzel für Niere und Dickdarm." In der klassischen Schulmedizin wird über diese Zonenaufteilung der Zunge und die Zuweisung zu einzelnen Organen nur der Kopf geschüttelt – weil man aus ihrer Sicht überhaupt mit dem Konzept von Yin und Yang der Boden der wissenschaftlichen Tatsachen verlassen werde und sich dabei schon sehr auf das Feld von Glaube oder Aberglaube begebe. „Es gibt sehr wenig belastbare wissenschaftliche Evidenz für die Effekte von TCM im Vergleich zu Placebo", so der Allgemeinmediziner und ehemalige Vorsitzende des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin Professor Andreas Sönnichsen gegenüber dem „Standard". Dr. Baustädter hatte das mit den Hinweis gekontert, dass es kaum möglich sei, die TCM, die in China an circa 45 Universitäten gelehrt wird, mit westlich-wissenschaftlichen Kriterien zu überprüfen: „Doppelblindstudien sind nicht das geeignete Forschungsinstrument für eine ganzheitliche Betrachtung, individuelle Diagnostik und Therapie."
Neben der Aufteilung der Zunge in mit Organen verbundene Areale steht bei der Zungendiagnostik die Begutachtung des Zungenkörpers im Hinblick auf Form, Farbe und Beweglichkeit im Mittelpunkt, um Auskunft über den energetischen Zustand der Organe zu gewinnen, und anhand von Farbe, Beschaffenheit und Dicke des Zungenbelags seien Erkenntnisse über krankhafte Einflüsse und Veränderungen der Organe zu erhalten.
Auch hier können die Interpretationen mit oberstem Bezug zur Lebensenergie Qi von der Schulmedizin nicht geteilt werden. Eine für Gesundheit sprechende Zunge sollte in der TCM blassrosa, leicht gerötet sein. „Das heißt", so Dr. Baustädter gegenüber dem „Standard", „dass das Blut gut zirkuliert und genügend Qi (Energie) vorhanden ist." Falls das Organ hingegen stark gerötet sein sollte, lasse das auf große Hitze im Körper schließen, wofür Stress, falsche Ernährung oder zu wenig Schlaf verantwortlich sein könnten. Das Gegenteil, nämlich eine Blässe der Zunge, deute auf einen Mangel an Qi oder eine „innere Kälte" hin. „Innere Kälte hat ihre Ursachen ebenfalls häufig in einseitiger Ernährung, Stress, Erschöpfung oder klimatischen Bedingungen", so Dr. Baustädter. Eine violett oder bläulich verfärbte Zunge weise auf eine „Stagnation" im Körper hin. „Diese Stagnation ist eine Störung des freien Flusses von Qi und Blut. Schmerzen, aber auch Druck- und Engegefühl sind eine häufige Folge", so Dr. Baustädter.
Was den Zungenbelag betrifft, so sollte dieser im Idealfall dünn und weiß sein. „Eine Zunge ganz ohne Belag zeigt eine Störung mit Mangelmustern an", so Dr. Baustädter. Falls der Belag ganz dick oder auch gelb gefärbt sein sollte, könnte das ein Zeichen für ein Ungleichgewicht mit Energie-Überfluss im Körper sein. „Dies hat seine Ursache im Verdauungssystem, ein Problem bei der Transformation von Nahrung in Qi", so Dr. Baustädter.
Professor Markus Brunner hält es dagegen für völlig abwegig, allein vom Zungenbelag auf Krankheitsbilder schließen zu wollen: „Das liegt vor allem an den enormen Unterschieden des Erscheinungsbildes der Zunge, auch bei gesunden Menschen. So wirken manche Zungen immer weißlich belegt, andere haben tiefe Furchen, flächige weiße Areale oder sind praktisch immer schwarz. All das ohne eine Erkrankung."