Sie waren Ikonen der Stabilität, die es heute nicht mehr gibt
Wie kann es sein, dass eine freundlich winkende alte Frau rund um den Globus Ikonen-Status bekommt? Eine Frau, die vor prächtiger Palastkulisse die Gäste zum Tee-Plausch empfängt? Eine Frau ohne jegliche politische Macht, ohne mitreißende Rhetorik, ohne Drang zur Selbstdarstellung? Die im Alter von 96 Jahren verstorbene britische Königin Elizabeth II. schaffte dies. Sie geht als Jahrhundertfigur in die Geschichte ein.
Das Gleiche trifft auf den kurz zuvor verschiedenen ehemaligen sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow zu. Auch er erlangte als Jahrhundertfigur historische Bedeutung – allerdings mit geteilter Bewertung. Im Westen wurde „Gorbi" als Staatsmann gefeiert, der den Kalten Krieg beendete und die deutsche Einheit ermöglichte. Im Osten gilt er bei vielen als Totengräber der UdSSR, der sein Land ins Chaos stürzte und soziale Verwerfungen auslöste.
Die Queen und der durch die West-Brille betrachtete Gorbatschow stehen beide für etwas, das es heute nicht mehr gibt: Stabilität. Elizabeth II. war mehr als 70 Jahre lang eine institutionelle Konstante, ein Fels in der Brandung inmitten von Umbrüchen und Spannungsphasen. Der Zerfall des Britischen Empires, die Suezkrise 1956, der Falkland-Krieg zwischen Argentinien und Großbritannien 1982, Trennungen, Skandale und Intrigen am Königshof, der Unfalltod von Lady Diana 1997, die Brexit-Wirren 2016 und in den Jahren danach, die zirkushaften Eskapaden von Premier Boris Johnson: Die Queen hielt stand. Sie war einfach immer da und strahlte eine unverrückbare Unerschütterlichkeit aus.
Gorbatschow vermittelte den Europäern das Gefühl, dass der Zweite Weltkrieg und der danach folgende Ost-West-Konflikt für alle Zeiten der Vergangenheit angehörten. Die Friedensordnung nach 1945, die Unverletzlichkeit der Grenzen galten als in Stein gemeißelte Prinzipien. Vor Wladimir Putin hielten sich alle Kremlchefs daran. Selbst die hartgesottensten Führer der Sowjetunion wie Leonid Breschnew bekannten sich hierzu. Dass mit der russischen Invasion in die Ukraine der Krieg auf den alten Kontinent zurückkehrte, galt bis vor wenigen Monaten als unvorstellbar. Mittlerweile kann selbst ein taktischer Atomschlag Moskaus auf die Ukraine nicht mehr ausgeschlossen werden.
Die heutige Faszination für Elizabeth II. liegt auch daran, dass die Britin etwas verkörpert, das aus der Zeit gefallen scheint: Uneitelkeit, Zurückhaltung, Opferbereitschaft. Das im April 1947 ausgesprochene Bekenntnis, das die gerade mal 21 Jahre alte Frau aussprach und bis zu ihrem Tod Tag für Tag umsetzte, zeugt von einem eisernen Willen zum Verzicht: „Ich erkläre vor Ihnen allen, dass ich mein gesamtes Leben, möge es lang oder kurz sein, dem Dienst an Ihnen und dem Dienst an unserer großen imperialen Familie widmen werde."
Die Queen ist in ihrer Reserviertheit eine Gegenfigur zum narzisstischen Zeitgeist, wo viele ihr Leben auf Facebook, Instagram und anderen sozialen Netzwerken bis ins kleinste Detail aufblättern. Die Reduktion auf die Rituale des Hofes wirkt wie ein kollektives Ruhekissen.
Das war nicht immer so. Als Lady Diana in der Nacht zum 31. August 1997 in einem Pariser Autotunnel auf der Flucht vor Paparazzi in den Tod raste, stand auch Elizabeth II. in der Kritik. Das um Contenance bemühte Königshaus galt auf einmal als herzlos, unempathisch und als menschenfeindliches Bollwerk der Macht. Doch vor dem Hintergrund der Unruhe, die die Welt in diesen Tagen erfasst hat, gab der stille Kontrapunkt der Queen den Menschen Halt.
Gorbatschow löst heute im Westen eine Nostalgiewelle aus, weil er für eine untergegangene Welt steht. Nach dem Fall der Mauer war der jahrzehntelang präsente Feind im Osten weg. Viele glaubten, dass mit dem Kollaps des Kommunismus ein neues Zeitalter des Friedens angebrochen sei. Putins Angriffskrieg in der Ukraine, der mit der Zerstörung von Wohnblocks, Krankenhäusern und Kindergärten einhergeht, hat eine neue Ära der Barbarei eingeläutet. Der auf Ausgleich bedachte Gorbatschow war ein Antipode zu Putin.
Elizabeth II. und Gorbatschow galten als Figuren, die Konstanz, Überschaubarkeit und Ordnung symbolisierten. In der heutigen Zeit der Unsicherheit, in der sich viele Gewissheiten auflösen, wirken sie wie Ikonen aus einem vergangenen Jahrhundert.