Es war ein zäher Prozess auf dem Weg zu einem neuen Infektionsschutzgesetz. Die Regeln für den Herbst sind jetzt beschlossen – aber längst nicht alle Fragen geklärt.
In einigermaßen normalen Zeiten hätte das Ringen um Corona-Schutzmaßnahmen die ungleichen Partner der Ampel-Koalition in eine ernste Zerreißprobe stürzen können. Phasenweise schien es auch so, als könnte trotz Krieg, Energiekrise und Inflation der symbolische Maskenstreit eskalieren.
Am Ende steht nun ein Gesetzespaket, womit im Kern die Länder einen Instrumentenkasten haben, um auf regionale Entwicklungen reagieren zu können. Die früheren ganz scharfen Schwerter wie flächendeckender Lockdown, Betriebs- und Schulschließungen oder Demonstrationsverbote gehören nicht dazu. Die sieht das Gesetz nicht mehr vor. Fast alle anderen bekannten Maßnahmen können je nach Lage der Entwicklung aktiviert werden.
Bis zuletzt blieb der Maskenstreit auf der Agenda. Maskenpflicht im ÖPNV bleibt, in Flugzeugen nicht. Das kann man begründen, aber das hätte für andere Regelungsalternativen auch gegolten. Womit der Vorwurf der Linken, vieles sei „unplausibel", nicht völlig von der Hand zu weisen ist. Während die AfD-Forderung, Menschen „Freiheit und Eigenverantwortung" zurückzugeben, Wiederholung einer Floskel bleibt.
Länder agieren selbstständig
Entscheidender ist die Frage, ob das Land mit diesem Gesetz in den erwarteten dritten Pandemieherbst „diesmal besser reingeht", wie es Gesundheitsminister Karl Lauterbach im Bundestag versprach. Oder ob sich die Unions-Kritik bestätigt, dass auch dieses Gesetz „erhebliche handwerkliche Mängel" habe.
Nach der Vorlage des Entwurfs der Ampelkoalition wenige Tage vor der Verabschiedung hatten Bundesärztekammer und Deutsche Krankenhausgesellschaft (DGK) bereits Kritik angemeldet, weil klare Kriterien fehlten zur Beurteilung ausgerechnet des immer wieder erklärten wichtigsten politischen Ziels, eine Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern. DKG-Vorstandsvorsitzender Gerald Gaß erklärte gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland: „Unklar bleibt aber noch immer, anhand welcher Indikatoren tatsächlich Gefährdung festgestellt werden muss."
Minister Lauterbach erklärte dann in der Bundestagsdebatte, es werde bessere, tagesaktuellere Daten über Klinikbelegungen geben als in der Vergangenheit. Leisten soll das ein „Pandemieradar". In dem unter anderem Daten über Belegungen von Krankenhäusern, aber auch aus dem Abwassermonitoring die bisherigen Daten wie Inzidenz- oder R-Werte ergänzen sollen. Die Sommerwelle hat allerdings gezeigt, dass die Belegung alleine noch nicht zwingend aussagekräftig ist, wenn gleichzeitig selbst infiziertes Personal an allen Ecken und Enden fehlt. Auch Bundesärztekammer-Präsident Klaus Reinhardt sprach davon, dass das Gesetz an einigen Punkten „leider noch im Vagen" bleibe. Immerhin sei das Gesetz aber „mit Rücksicht auf die Kinder" formuliert. Kinder und Jugendliche seien Hauptleidtragende bisheriger Schutzmaßnahmen gewesen.
Der Deutsche Lehrerverband begrüßte die Möglichkeit, dass Länder künftig an weiterführenden Schulen Maskenpflicht verhängen können – um den Präsenzunterricht aufrechterhalten zu können. Warum das dann aber bei Grundschulen nicht vorgesehen sei, sei dagegen nicht nachvollziehbar.
So ähnlich klingen viele der Reaktionen, alle im Wesentlichen aus den Debatten bekannt, die im Zuge der Formulierung des Gesetzes geführt wurden. Zu einigen der damals geäußerten Kritikpunkte gibt es Klarstellungen, insbesondere hinsichtlich Ausnahmeregelungen. So wurde zum Beispiel definiert, dass als „frisch geimpft" gilt, bei wem die letzte Impfung höchstens drei Monate her ist. Als „vollständig geimpft" gilt ab dem 1. Oktober, wer drei Impfungen (Grundimmunisierung und eine Booster-Impfung) vorweisen kann. Und für den Fall, dass Länder aufgrund der Entwicklung eine Maskenpflicht in Innenräumen verhängen, gilt: Ein Impfnachweis ist nicht erforderlich, Befreiung von der Maskenpflicht ist möglich mit tagesaktuellem Test oder für frisch Geimpfte und Genesene. Komplizierter bleibt es bei dem Punkt, welche Maske wo vorgeschrieben ist. Grundsätzlich empfohlen wird eine FFP2-Maske, wegen der höheren Schutzwirkung ist sie auch überall dort angesagt, wo es Umgang mit vulnerablen Menschen gibt.
Für Maßnahmen, die die Länder ergreifen können, gibt es im Grundsatz einen Zwei-Stufen-Plan, aber keinen harten Kriterienkatalog. Die Länder müssen deshalb unter Zuhilfenahme verschiedener Indikatoren entscheiden, wie etwa Inzidenzen oder Versorgungslage. Das gibt flexiblere Reaktionsmöglichkeiten auf das Geschehen vor Ort, macht aber Entscheidungen nicht unbedingt einfacher.
Entscheidend für den Verlauf einer möglichen Herbstwelle bleibt weiterhin der Schutz durch Impfungen. An die Omikron-Variante angepasste Impfstoffe sind seit Anfang September zugelassen und stehen zur Verfügung. Von einem großen Run war allerdings in der ersten Woche nichts zu hören. Impfen wird vor allem über Arztpraxen erfolgen, es gibt aber auch weiterhin Impfzentren; ansonsten haben Länder und Kommunen unterschiedliche Strategien entwickelt, um auch Gruppen zu erreichen, die deshalb nicht unbedingt eine Arztpraxis aktiv aufsuchen. Mobile Impfteams oder spezielle Quartier-Kampagnen sollen Angebote vor Ort machen.
Die Argumente fürs Impfen sind durch die neuen Impfstoffe und die zahlreichen weiter laufenden Studien immer wieder bekräftigt worden. Wer nach wie vor Zweifel an der Wirksamkeit hat, kann einen Blick auf die Entwicklung der Klinikaufnahmen von Patienten mit Corona werfen. Die Verlaufskurven zeigen eindrucksvoll: Am niedrigsten ist die Zahl der Einweisungen von Patienten mit drei Impfungen, etwas höher die mit zwei Impfungen, und mit deutlichem Abstand darüber liegt die Kurve für diejenigen ohne Impfung. Das gilt für den gesamten bisherigen Verlauf, seit Impfstoffe zur Verfügung stehen, und hat sich während der Sommerwelle noch einmal eindrücklich gespiegelt.
Impfquote stagniert
Trotzdem hat sich an der bescheidenen Impfquote in Deutschland in den letzten Monaten nicht viel verbessert. Die Sommerwelle war von den meisten völlig unterschätzt worden, vermutlich auch, weil es so gut wie keine Einschränkungen mehr im Alltag gab, was für viele den Eindruck einer gewissen Normalität signalisiert haben mag.
Das neue Infektionsschutzgesetz sagt aber ziemlich deutlich, dass ein ganzer Instrumentenkasten von Maßnahmen für den Herbst bereitsteht. Und wenn schon nicht medizinisch-wissenschaftlich begründete Argumente überzeugen, könnte die Aussicht drohender Einschränkungen die Bereitschaft, sich präventiv impfen zu lassen, erhöhen. Ähnlich wie es der Fall war, als für Geimpfte mehr Möglichkeiten offenstanden als für Nicht-Geimpfte. Diesen Effekt hat auch das Impfmonitoring „Covimo" des Robert-Koch-Instituts bestätigt. Analysen zur Erklärung des Impfverhaltens haben gezeigt: Je überzeugter Menschen waren, dass sie durch Impfung Freiheiten zurückgewinnen können, umso mehr stieg die Bereitschaft.
Umgekehrt zeigte sich aber auch: Je mehr sich Menschen zur Impfung gedrängt fühlten, umso zurückhaltender wurden sie. Was die Studie aber auch gezeigt hat: Bei einem Teil der Menschen sind Verunsicherungen durch mangelnde Kenntnis oder (klassische) Impfmythen nach wie vor weit verbreitet. An dieser deutschen Impfskepsis haben klassische Aufklärungs- und Informationsanstrengungen wenig geändert.
Bei vielen europäischen Nachbarn sieht das anders aus, die Einstellungen zu Impfungen sind vielfach deutlich positiver, was sich auch an Impfquoten ablesen lässt. In Deutschland lag die Quote bei der Grundimmunisierung (zwei Impfungen) Anfang September bei 76,3 Prozent. Zum Vergleich: Spanien: 85,6 Prozent, Portugal: 86,6 Prozent, Italien: 81,0 Prozent. Frankreich: 78,7 Prozent. Die Zahlen in Österreich liegen gleichauf mit Deutschland.