Der erste Midye-Stand der Stadt macht nahe dem Hermannplatz auf sich aufmerksam. Battal Chuchek und Hüseyin Sanci bringen mit „M47" den türkisch-maritimen Miesmuschel-Snack den Berlinern bis in die Nacht und im Vorübergehen nahe.
Der große Gelbe am Kottbusser Damm/Ecke Urbanstraße ist der Matratzenladen. Der kleine Gelbe direkt daneben ist der erste Muschel-Imbissstand „M47" in der Stadt. Dort bringen Battal Chuchek und Hüseyin Sanci seit zwei Monaten den Berlinern Midye Dolma nahe. Auf gelb lackierten Tonnen stehen große Töpfe mit drapierten Miesmuscheln und Zitronen parat; die beiden Inhaber häufig genug selbst hinter der Theke. Battal Chucheks Familie hat in der Türkei ein Midye-Imperium aufgebaut. Nun gibt es das erste Mal in Berlin die Gelegenheit, die türkische Streetfood-Spezialität zu essen.
Das Probieren lohnt: Die mit Reis gefüllten, gekochten Muscheln lassen sich im Stehen wegsnacken. Ausgewiesene Midye-Fans setzen sich aber auch gern ins benachbarte „Mardin"-Restaurant und „löffeln" mehr als 50 Stück weg. „Frauen essen so 30 bis 50 Stück, Männer 30 bis unendlich", sagt Hüseyin Sanci. „Wenn man einmal damit angefangen hat, kann man nicht mehr aufhören, sagt man. Wir haben einen Gast, der isst sogar 200 Stück." Der Spruch von der „never ending love", der unendlichen Liebe zu den Muscheln, wird dabei sehr anschaulich.
Muscheln und Reis im Dampf gegart
Eigentlich sind Midye Dolma Teil eines Aperós in der Türkei. „Das ist kein Abendessen bei uns. Man nimmt eine Muschel, trinkt einen Schluck Weißwein und unterhält sich", erklärt Sanci. Die guten Stücke sind leicht und bekömmlich und haben was von türkischem Sushi: Wir naschen zwanglos eine „Muschelblume" von einer Platte und unterhalten uns über eben dieselben. Die Midye sind pikant. Sanci träufelt üppig Zitrone obenauf. Die frische Säure fängt die Schärfe ab. Das ist echt gut, obwohl ich kein Muschelfan bin. Pardon: war. Denn so, als „Sandwich" mit Reisfüllung, mag auch ich sie.
Bis die Midye in den Verkaufstöpfen, auf den Platten und in den To-go-Pappschachteln in Berlin landen, haben sie eine sehr flotte Lieferung vom Atlantik über den „Rungis Express" und einen kunstvollen Fertigungsprozess in der Küche hinter sich. Bei „M47" kommen sie aus Wildfang in Galizien und „nie aus dem Mittelmeer", sagt Sanci. „Die aus dem Atlantik sind die besten. Idealerweise sind sie sechs bis acht Zentimeter lang." Nun wächst die Muschel nicht auf Maß, aber für das Füllen mit gewürztem Baldo-Langkornreis und das Dampfgaren ist eine gewisse Einheitlichkeit von Vorteil.
Battal Chuchecks Onkel Abdul Karim wiederum ist in der Türkei der Großmeister der richtigen Gewürzmischung. Er liefert den Mix, der neben Nelken, weißem Pfeffer und Schwarzkümmel auch die unabdingbare Prise Familiengeheimnis enthält. Außer Battal Chucheks Bruder kennt niemand sonst das Rezept.
„Die Muscheln werden äußerlich gewaschen und gereinigt und portionierter Reis hineingegeben", sagt Battal Chuchek auf Englisch. Präzisere Erklärungen gibt’s auf Türkisch, Sanci übersetzt. Das hat Gründe: Chuchek war Arzt in Kiew, besaß dort auch ein Restaurant sowie Muschel-Stände. Nach Kriegsausbruch packte er seine Familie ins Auto und kam nach Berlin. Die wichtigsten Begriffe wie „lecker, lecker!" sind ihm natürlich geläufig, ein Deutsch-Kurs soll bald folgen. Gestik und Videos helfen vorerst ebenfalls bei der Verständigung.
Viel Erfahrung für die Füllung nötig
Zum Beispiel bei der Erklärung, wie die Füllung in die Muschel kommt. Die sauberen Muscheln werden vorsichtig so weit von Hand geöffnet, dass sie an der schmalsten Stelle der Schalen verbunden bleiben. Das Muschelfleisch liegt auf beiden Seiten, die vorbereitete Reisfüllung kommt in die Mitte. Ab geht es in eng gepackten Schichten in die Töpfe zum kurzen Ziehen mit sehr wenig Wasser und sehr viel heißem Dampf. „Beim Kochen zieht sich die Muschel zusammen und umschließt den Reis", erläutert Chuchek.
„Man braucht viele Jahre Erfahrung, um herauszufinden, wie viel Füllung man nimmt." Wer sich je selbst an beispielsweise Dumplings versuchte, ahnt, wie viel Fingerspitzengefühl und Übung nötig sind. „Wir kochen die Muscheln noch hier im Restaurant", ergänzt Hüseyin Sanci. „Aber die Nachfrage ist groß. Wir suchen gerade eine eigene Produktionsküche."
Die Muschel bleibt bis zum Verkauf geschlossen, in ihr umschließt das zusammengeschnürte Fleisch den Reis wie ein Sandwich. Das führt immer wieder zu Spekulationen: „Die wildeste Theorie war, dass wir ein Loch in die Muscheln bohren und den Reis mit dem Strohhalm hineinpusten", sagt Sanci lachend. Das ist selbstverständlich schon allein aus hygienischen Gründen undenkbar.
Das Öffnen der in der To-go-Version geschlossen eingetupperten Midye funktioniert andersherum: Man nimmt eine Muschel hochkant in eine Hand und verschiebt die beiden runden Enden mit den Fingern der anderen gegeneinander. Die schmale Verbinungsstelle ist das Scharnier. „Mit einem Klick öffnet sie sich", zeigt Sanci. Eine Hälfte der Schale wird als „Löffel" benutzt. „Zitrone darauf und allez hopp, ab in den Mund."
Bei so viel feuchter Handarbeit gehört Zitrone in Gestalt von Erfrischungstüchlein sowie im Lokal ein „80° Kolonya Klasik Limon" aus der großen Pumpspender-Flasche zur anschließenden Reinigung dazu.
Selbstredend gibt’s auch für die Nicht-Meeresgetier-Freunde eine Snack-Alternative: Çiğ Köfte. Die Häppchen aus stundenlang sehr fein gewalktem Bulgur mit Petersilie, Gewürzen, Tomaten- und Paprikamark werden – deutlich schärfer abgeschmeckt – auf kleinen Salatblättern präsentiert. Sie sind mit gehackten Walnüssen bestreut und mit Granatapfelsirup beträufelt.
Bis drei Uhr in der Nacht geöffnet
Der handliche Happen wird zusammengefaltet und nach Gusto in noch etwas mehr Sirup getunkt. Das bringt’s: Der Sirup ist ein sehr gutes Gegengewicht zu den wirklich scharfen kleinen Dingern. Sie werden in denselben Portionsgrößen und zum selben Preis wie die Midye verkauft, ein Stück für einen Euro, in Zehnerschritten. Wir trinken zu Muschel und Çiğ Köfte allerdings keinen Wein, sondern ein salziges, frisches Ayran, das durch einen Ayran-Hahn luftig-schaumig in die Gläser fließt – köstlich!
Sanci und Chuchek lernten einander erst in Berlin kennen. Ihre Familien stammen aus der Nähe von Mardin in Südost-Anatolien, das die Kfz-Nummer 47 trägt. „Wir sind 47er. Das versteht jeder in der Türkei", sagt Chuchek. Als er in Berlin neu anfing, erfuhr er: „Da ist einer, der kommt auch aus der Gegend von Mardin. Eure Dörfer liegen doch nur fünf Kilometer auseinander." Das verbindet. „In Mardin gibt’s keinen See, kein Meer und keinen Fisch", ergänzt Sanci. Das Muschel-Business entstand nicht dort. Battal Chucheks Familie ging nach einer Dürre in den 1960er-Jahren den Weg vieler Bauern – nach Istanbul. Bosporus, Muscheln und der Gedanke: „Warum das nicht wie Dolma machen?" trafen aufeinander. Die Armenier hatten es vorgemacht: „Aber auf eine süße Art, mit Rosinen", erklärt Chuchek. Die herzhaft-pikante Spielart kam an. Das Geschäft entwickelte sich prächtig und expandierte. „Alle Muschelmänner in der Türkei sind aus Battals Familie", sagt Sanci.
Er betreibt das seiner Mutter gewidmete „Mardin"-Restaurant seit einigen Jahren am Kottbusser Damm. Bislang waren die „Mardin"-Kebapspieße mit Käse und Pistazien – sehr zu Recht! – oder die milden, knusprigen Lahmacun-Fladen mit Lamm und frischen Kräutern seine Spezialität. Für die Geschäftsidee mit den Muscheln räumte Sanci einen Teil des Lokals frei. „Ich habe gesagt, lass uns das professionell machen", betont Chuchek. Gesagt, geplant, getan. Mit Erfolg und oft bis tief in die Nacht.
Wer über den Hermannplatz aus der U-Bahn oder dem Bus nach Hause fällt, bleibt häufig auf eine Portion Midye am Wegesrand hängen. „Wir sind bis 3 Uhr nachts geöffnet und stehen freitags selbst bis zum Schluss im Laden", sagt Sanci. „Danach bereiten wir alles vor, um am Samstag gleich früh zum Kollwitzmarkt zu fahren." Auch der Prenzlauer Berg soll nicht ohne Midye auskommen!
Die Midye haben bei so viel Frische und Handarbeit ihren gerechtfertigten Preis. Zehn Stück kosten zehn Euro – und zwei obenauf zum Einstand. Die Zehner-Portion ist der Klassiker, aber auch 20 oder 50 Stück sind üblich. „Klar, wenn einer große Mengen möchte, wird verhandelt", sagt Sanci. Ob beim Raki-Festival unlängst in der Malzfabrik oder auf den Märkten: Die beiden haben Größeres vor. „Wir wollen im Winter eine heiße, etwas schärfere Variante anbieten. Das passt sehr gut zu Glühwein", sagt Battal Chuchek. „In Kiew kam das sehr gut an." Ein weiteres Etappenziel für den Siegeszug der Midye Dolma in Deutschland steht für Chuchek schon fest: „Ich möchte damit aufs Oktoberfest." Mal sehen, ob 2023 ein gelb-schwarzes Festzelt mit aufgeklappter Muschel im Logo auf der Theresienwiese steht und Schweinshaxe und Wiesnhendl Konkurrenz macht. Bayerisches Bier und türkische Muscheln vertragen sich bestimmt bestens.