Meditation, Bewegung, Selbstverteidigung und Heilung – alle diese Facetten vereint die chinesische Bewegungskunst Tai Chi. Kein Wunder, dass sie hierzulande inzwischen fast so beliebt ist wie in Fernost.
Der Lehre des Tai Chi nach soll es einen positiven Einfluss auf den Menschen haben und die Lebensenergie wieder aufladen. Sobald Körper und Geist im Einklang stehen, können die sanften Übungen sogar Krankheiten wie Arthrose, COPD und Parkinson lindern. Davon sind zumindest chinesische Forscher überzeugt, die deren positive Wirkung bei oben genannten Leiden wissenschaftlich nachweisen konnten.
Gemäß einer Studie der Fuijan University of Traditional Chinese Medicine ließ sich belegen, dass die rund 300 Probanden bei regelmäßigen Übungen ihre Arthrose-Beschwerden reduzieren konnten. Und das in einem Zeitraum zwischen drei Wochen und sechs Monaten. Dafür mussten sie aber mindestens 20 bis 65 Minuten ein- bis zweimal wöchentlich trainieren. Ähnliche Erfolge zeigten die 400 Probanden mit beginnenden typischen Parkinson-Symptomen wie Steifheit, Zittern und Bewegungsstörungen. Auch hier linderte das regelmäßige Üben ihre Symptome. Allerdings nur im Anfangsstadium, wie die Forscher betonten. Bei fortgeschrittenen Stadien von Parkinson sei es schwer, überhaupt selbstständig koordinierte Bewegungsmuster zu verfolgen. COPD ist eine Erkrankung der Lunge, die zu Atemproblemen führt. Auch hier halfen schon fünf Stunden Tai Chi pro Woche, um die Beschwerden deutlich zu reduzieren, wie eine Studie unter Mitarbeit von Dr. Nan-Shan Zhong aus dem Jahr 2018 zeigte. Diese wurde im Fachmagazin „Chest" veröffentlicht. Ausgehend von einer Übungsgruppe und einer Kontrollgruppe, die die typischen Reha-Maßnahmen durchführte, zeigte sich, dass anfangs beide Gruppen ähnliche Ergebnisse zeigten. Am Ende aber schnitt die Tai Chi-Gruppe besser ab bei den Lungenfunktionswerten.
Positiv für das Gehirn und seine Funktion
Selbst auf das Gehirn und seine Funktion scheint sich diese Bewegungskunst durchaus positiv auszuwirken. Zu diesem Ergebnis kamen jedenfalls amerikanische Wissenschaftler im Jahr 2014 und veröffentlichten ihre Erkenntnisse im „Journal of the American Geriatrics Society". Sie ließen 2.553 Senioren über 60 regelmäßig Tai Chi praktizieren, auch solche mit leichter Demenz. Sie stellten nach mehr als einem Jahr regelmäßiger Kontrollen eindeutig fest, dass die Demenz-Symptome etwas abnahmen und die kognitiven Fähigkeiten sich steigerten. Sie folgerten aus diesen Ergebnissen, dass die Übungen den geistigen Abbau zumindest verlangsamen können.
Das Geheimnis des Tai Chi liegt in seiner inneren Kraft und der langsamen Ausübung und Wiederholung spezieller Bewegungsabläufe. Dabei ist dies eine Abkürzung, eigentlich heißt diese Bewegungskunst Tai Chi Chuan. Genau übersetzen lassen sich diese Begriffe nicht. Tai Chi meint das höchste Äußere, Chuan bedeutet Kampf(kunst). Unter Chi verstehen die Chinesen die allumfassende Energie. Diese wird in der traditionellen chinesischen Medizin auch als Qi bezeichnet. Durch regelmäßiges Üben wächst diese Energie und erfährt Stärkung. „Tai" stammt aus dem Daoismus und meint das kosmische Urprinzip der Natur, welches gemeinhin unter dem Wechselspiel von Yin und Yang bekannt ist. Darunter sind zwei gegensätzliche Elemente zu verstehen, die sich trotzdem in voller Harmonie ergänzen.
In Europa lange als Schattenboxen bekannt
Einer alten Legende nach entwickelte ein taoistischer Mönch namens Zhang Sanfeng den Bewegungsstil in einem Shaolintempel am heiligen Berg Wudang bereits im 13. Jahrhundert. Historische Zeugnisse belegen die Entstehung für das 17. Jahrhundert, dort auch unter den Bezeichnungen Chen-Stil oder Chen Wangting. Das deutet an, dass Tai Chi tatsächlich eine echte Familientradition wurde, weitergetragen von der Familie Chen über fünf Generationen bis Chen Wangting (1597 – 1664). Später kam diese besondere Kunst nach Europa und war hier lange Zeit als Schattenboxen bekannt. Das lag ganz einfach daran, dass viele Bewegungen so wirken, als würde man mit einem Geist kämpfen.
Im Land des Lächelns zählt Tai Chi längst zum Volkssport. Überall in den öffentlichen Grünanlagen und Gärten treffen sich täglich kleinere Gruppen von Sportbegeisterten, die gemeinsam trainieren. Wer dies regelmäßig macht und alle Übungen korrekt ausführt, der soll seine Körperwahrnehmung verbessern, Haltungsschäden vorbeugen, die Beweglichkeit erhöhen und Muskelverspannungen gezielt lösen. Die wiederkehrenden Übungen stärken die Wirbelsäule und wirken sich positiv auf die Psyche aus. Die tiefe Bauchatmung baut Verspannungen und Stress ab. Deshalb zählt Tai Chi zum Gesundheitssport und wird sogar von einigen Krankenkassen entsprechend bezuschusst. Er ist geeignet für alle Altersklassen, von Kindern bis hin ins hohe Alter hinein sind die Bewegungen gut und sicher durchzuführen. Wer sich schwertut, der kann die Übungen in einem Trainingscenter oder einer Tai-Chi-Schule lernen. Später finden sie dann ganz natürlich Einzug in den Bewegungsalltag und formen sich zum festen Ritual. Hier geht es nicht um Wettbewerb und Leistung, es geht um das Lernen und die eigene körperliche sowie geistige Entwicklung. Nach chinesischem Maßstab sind beide niemals abgeschlossen, sondern das Resultat lebenslangen Übens.
Den Mittelpunkt des regelmäßigen Trainings bilden festgelegte Abfolgen von fließenden Bewegungsmustern, die Formen. Jede neue Körperposition formt ein Bild, diese verschwimmen gewissermaßen ineinander. Dabei trägt jedes Bild einen eigenen Namen wie zum Beispiel „Über den Lotus streifen" oder „Der Kranich breitet seine Flügel aus". Insgesamt sind 24 Bilder gebräuchlich, die es zu perfektionieren gilt. Jede Übung findet in entspannter, aufrechter Haltung statt. Dabei bilden Bewegung, Geist und Atmung ein untrennbares Ganzes, welches es gilt, synchron aufeinander abzustimmen. Innerhalb des Tai Chis gibt es unterschiedliche Richtungen.
Unterschiedliche Richtungen
Europaweit ist der sogenannte Yang-Stil, von einer gleichnamigen Familie entwickelt, beliebt. Dabei finden alle Übungen langsam, fast wie in Zeitlupe statt. Andere Stile wiederum integrieren auch Bewegungsmuster, in denen schnelle Abfolgen und Sprünge eingebettet sind. Viel Platz oder besondere Hilfsmittel braucht es dazu nicht. Bequeme Kleidung reicht vollkommen aus. Den zeitlichen Ablauf bestimmen die Teilnehmer selbst. Eine Übungseinheit unter Leitung eines Meisters dauert in der Regel zwischen einer und 1,5 Stunden. Wer wenig Zeit hat für komplette Kurse, für den können sich auch Mini-Intervalle von zehn bis 20 Minuten lohnen. Pro Bild sind dabei etwa fünf Minuten eingeplant. Lehrer mit entsprechenden Angeboten finden sich in jeder größeren Stadt. Eine Ausbildung in dieser Bewegungskunst wird von offiziellen Verbänden unterstützt und mit einem Qualitätssiegel zertifiziert.
Wichtig ist, eine Regelmäßigkeit in den Ablauf hineinzubringen. Das betrifft nicht nur die Übungen selbst, sondern auch die Zeiten, die dafür einzuplanen sind. Da die Einheiten eher Konzentration als Schweiß erfordern, können sie in jedem Alter durchgeführt werden. Trotz der langsamen Bewegungsabläufe handelt es sich nicht um einen klassischen Seniorensport, selbst Kinder können sich schon in das Üben vertiefen und lernen. Erfahrene Sportler widmen sich neben den Bewegungen alleine auch dem Kampfcharakter und integrieren Waffen wie Säbel, Schwerter, Speere, aber auch Fächer, Bälle und Bänder in die Vorführungen.