Gesundheitsminister Lauterbach hatte schon Anfang dieses Jahres große Hoffnungen in das Corona-Medikament Paxlovid gesetzt und möchte es neben der Impfung zum zweiten Standbein der Pandemie-Bekämpfung machen. Auch wenn es nur für eine begrenzte Patientengruppe vorgesehen war und hierzulande kaum verabreicht wird.
Während die Entwicklung wirksamer Corona-Vakzine im Eiltempo als große medizinische Erfolgsgeschichte angesehen werden kann, hinkt die Forschung in Sachen Medikamenten, mit deren Hilfe bereits Erkrankte heilend therapiert werden können, noch immer hinterher. Das allein ist schon dem Grundproblem geschuldet, dass Krankheiten, die durch Viren ausgelöst werden, gemeinhin nur schwer medikamentös behandelbar sind (das erste Medikament beispielsweise gegen HIV konnte seinerzeit erst rund 15 Jahre nach Ausbruch der Pandemie präsentiert werden) und es daher auch keine Breitband-Virostatika gibt, die ähnlich wie Antibiotika gegen Bakterien eingesetzt werden könnten. Anfangs versuchte man, bereits bekannte, ursprünglich zur Bekämpfung völlig anderer Krankheiten konzipierte antivirale Arzneien auch gegen Covid-19 einzusetzen. Inzwischen sind in der EU rund ein Dutzend Medikamente zur Therapie gegen das Covid-19-Virus in seinen verschiedenen Stadien zugelassen, wobei bei schweren Verläufen in den Krankenhäusern meist ein Cocktail der verschiedenen Mittel zum Einsatz kommt und für die medikamentöse Therapie prinzipiell die beiden Ansätze immunmodulatorisch (zur Steuerung körpereigener Abwehrreaktionen) und antiviral (Verhinderung des Eindringens oder Vermehrens der Viren) genutzt werden. Generell lassen sich die zugelassenen Medikamente in insgesamt drei Gruppen unterteilen: Antivirale Antikörper (in der Regel als Infusion verabreicht), intrazellulär wirksame Medikamente sowie Medikamente die die Immunreaktion dämpfen.
Vermehrung des Virus stoppen
Die größten Hoffnungen beruhen dabei dank durch Studien belegter Hochwirksamkeit bei bestimmten Risikogruppen auf den beiden oral in Tablettenform zu Hause einnehmbaren Mitteln Molnupiravir, das der Hersteller Merck Sharp & Dohme unter dem Namen Lagevrio in den Handel gebracht hat und dem Kombi-Mix Nirmatrelvir x Ritonavir, das der Corona-Impfstoff-Vorreiter Pfizer in Freiburg unter der Bezeichnung Paxlovid produzieren lässt. Molnupiravir, das unspezifisch antiviral wirkt und ursprünglich als Influenza-Medikament entwickelt worden war, kann die Vermehrung des Virus in einem Krankheitsfrühstadium stoppen. Nach der Tabletteneinnahme wandelt der Körper das Mittel in virus-ähnliche Bausteine um, die vom Virus in die eigene RNA eingebaut werden und bei der Replikation des Erbguts so viele Kopierfehler zur Folge haben, dass keine funktionsfähigen Viren mehr entstehen können. Eine klinische Studie des Herstellers Merck mit infizierten, ungeimpften Patienten, bei denen mindestens einer der zusätzlichen Risikofaktoren wie beispielsweise älter als 60 Jahre, Diabetes mellitus, chronische Niereninsuffizienz oder aktive Krebserkrankung vorlag, ergab, dass das Risiko einer Krankenhauseinlieferung und eines tödlichen Verlaufs halbiert werden konnte. Auch bei einer im August im Magazin „The Lancet" veröffentlichten Studie mit Omikron-infizierten Patienten in Hongkong hatte die Vergabe von Molnupiravir zu einer „signifikanten Verringerung des Risikos für Gesamtmortalität und Krankheitsprogression geführt. Die EU-Zulassung erhielt das Medikament wegen eingereichter Daten, die auf ein verringertes Risiko für eine Hospitalisierung und Sterberate von rund 30 Prozent schließen ließen. Vorausgesetzt die Patienten mit mindestens einem Risikofaktor für die Entwicklung eines schweren Krankheitsverlaufs hatten möglichst innerhalb der ersten fünf Tage nach Symptombeginn zweimal täglich jeweils vier Tabletten über fünf Tage in Folge geschluckt.
Doch mit dem Auftauchen von Paxlovid, das in der EU im Januar zugelassen wurde, war das Merck-Medikament Lagevrio als erste Wahl quasi aus dem Spiel genommen. Denn Pfizer konnte in einer eigenen Studie ganz andere, weitaus höhere Wirkungsraten nachweisen. Dabei hatte auch Pfizer sein Medikament an infizierten, ungeimpften Patienten mit auf einen schweren Corona-Verlauf hindeutenden Vorerkrankungen wie Diabetes oder Fettleibigkeit überprüft. Das Ergebnis, das eine Reduzierung des Risikos einer Klinikeinweisung oder eines Todesfalls um 89 Prozent nahegelegt hatte, hatte für sich gesprochen. Labortests hatten zudem bestätigen können, dass Paxlovid wohl auch gegen die Omikron-Variante erfolgreich eingesetzt werden kann.
Das Medikament Paxlovid, das von seinem Hersteller Pfizer als „Game Changer" in der Pandemie-Bekämpfung und von einigen deutschen Ärztevertretern zunächst nur als „Notnagel" deklariert worden war, setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: rosafarbene Pillen mit dem Wirkstoff Nirmatrelvir und weiße Tabletten mit dem Wirkstoff Ritonavir. Die Einnahme sollte, ähnlich wie auch bei Lagevrio, so früh wie nur irgend möglich nach der Diagnose Covid-19 vorgenommen werden, sprich innerhalb von fünf Tagen nach Auftreten der ersten Symptome. Die wesentliche Aufgabe des Wirkstoffs Ritonavir besteht darin, den Abbau des Wirkstoffs Nirmatrelvir durch den Körper deutlich zu verlangsamen. Die Therapie sieht das Schlucken von zwei rosafarbenen und einer weißen Tablette zweimal täglich über fünf aufeinanderfolgende Tage vor.
Paxlovid, speziell sein Wirkstoff Nirmatrelvir, gehört zur Klasse der sogenannten Protease-Hemmer. Das heißt der antivirale Wirkstoff verhindert, dass sich das Virus im Körper vermehren kann, indem er ein Enzym blockiert, das Sars-CoV-2 zur Vermehrung benötigt. Für die Vermehrung müssen die Viren in Zellen eindringen, wo sie sich auflösen und anschließend die Zelle dazu benutzen, um die eigenen Bestandteile wiederherzustellen. Dabei entstehen lange Eiweißketten, die durch ein spezielles Enzym in kurze Abschnitte zerlegt werden, aus denen sich die Viren dann wieder neu zusammensetzen können. Nirmatrelvir kann genau dieses spezielle Enzym blockieren und dadurch die Virenmehrung stoppen oder zumindest stark einschränken. Paxlovid ist nachweislich sehr wirksam, allerdings nur dann, wenn es innerhalb der ersten fünf Tage nach der Infektion eingenommen wird. Als mögliche Nebenwirkungen wurden Geschmacksstörungen, Durchfall, Kopfschmerzen oder Erbrechen genannt. Als weitaus problematischer gelten unerwünschte Wechselwirkungen mit anderen von den Patienten eingenommenen Medikamenten. Allerdings konnte bislang keine signifikante Wechselwirkung zwischen einer Paxlovid-Behandlung und einer Corona-Impfung festgestellt werden.
Wirksamkeit in mehreren Studien bestätigt
Eine Handvoll Länder, darunter Deutschland, hatten schon in einem ganz frühen Entwicklungsstadium das mit 500 Euro ziemlich teure Medikament geordert. Auch wenn in einigen Teilen der wissenschaftlichen Welt dieses staatliche Vorpreschen einzig auf Basis der Hersteller-Studie doch für Verwunderung gesorgt hatte. Außerdem hatte es sich bei den Studienteilnehmern nur um eine ziemlich begrenzte Gruppe gehandelt, und es gab keinerlei Hinweise darauf, ob die Verabreichung des Mittels auch für andere Patienten beispielsweise ab einem Alter von 60 Jahren unabhängig von Begleiterkrankungen sinnvoll sein könnte, von geimpften Personen ganz zu schweigen. Auch Nebenwirkungen oder bedenkliche Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten wurden erst einmal weitgehend außen vor gelassen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hatte jedenfalls schon im Januar eine Million Dosen Paxlovid geordert, sicherlich auch, um den Fehler seines Vorgängers Jens Spahn bei der Impfstoff-Bestellung zu vermeiden. Schließlich hatten die USA sich gleichzeitig allein schon 20 Millionen Dosen gesichert, und die Gefahr eines Paxlovid-Lieferengpasses war daher nicht von der Hand zu weisen. Zudem begann Lauterbach schon im Januar eine Kombination von Impfung und Medikamentenbehandlung zu propagieren: „Wenn wir eine Grundimmunisierung auch der älteren Vulnerablen geschafft und Medikamente wie Paxlovid oder Molnupiravir oder andere zur Hand hätten, dann wären wir ja durch."
Immerhin bestätigte sich die hohe Wirksamkeit von Paxlovid bei bestimmten Risikogruppen auch durch verschiedene spätere Studien, beispielsweise zwei Forschungsarbeiten aus Israel, die im Juni beziehungsweise August in Fachmagazinen veröffentlicht wurden. Gleichzeitig konnte jedoch die Erkenntnis gewonnen werden, dass sich ein positiver Effekt bei Jüngeren, bei Patienten ohne Risikofaktoren oder Geimpften kaum feststellen ließ. Die israelische Studie zum Wirkstoff Nirmatrelvir vom August hatte bei über 65 Jahre alten Patienten, die an der Omikron-Variante erkrankt waren, nach Verabreichung des Medikaments eine Verringerung der Krankenhauseinweisungen um 67 Prozent und der Sterberate um 81 Prozent ermitteln können. Bei jüngeren Erwachsenen konnte hingegen kein signifikanter Nutzen bei der Vermeidung schwerer Folgen von Covid-19 ermittelt werden.
Laut der WHO-Empfehlung ist Paxlovid für die Behandlung von Patienten mit milder Corona-Erkrankung sinnvoll, bei denen das Risiko eines schweren Verlaufs wegen fortgeschrittenem Alter, Immunschwäche oder Ungeimpft-Status am höchsten ist. Die EU empfiehlt das Medikament für Risikopatienten mit leichten bis mittelschweren Krankheitssymptomen, aber ausdrücklich nicht für Menschen ohne Risikofaktoren. Das Bundesgesundheitsministerium rät inzwischen zum Einsatz „vor allem in vulnerablen Gruppen", um „schwere Covid-19-Verläufe zu verhindern". Das geht über die noch im März beschlossenen Behandlungsleitlinien für den Paxlovid-Einsatz, Patienten ohne Impfschutz und mindestens einem Risikofaktor für einen schweren Krankheitsverlauf, hinaus. Und Behördenchef Lauterbach erweiterte jüngst den Kreis möglicher Paxlovid-Patienten via Twitter ziemlich nebulös in Richtung betagterer Menschen: „Paxlovid senkt bei Älteren die Corona-Sterblichkeit um bis zu 90 Prozent." In einem wenig später veröffentlichten Interview wurde der Minister etwas deutlicher: „Wir wollen, dass Risikopatienten und Menschen über 60 Jahren schneller mit Paxlovid versorgt werden. Für Ältere ist Paxlovid lebensrettend, wenn es schnell eingesetzt wird." Mit der wiederholten Verwendung des Wortes „Ältere" mag Lauterbach womöglich auch versucht haben, die öffentlich teils heftig kritisierte eigene Einnahme von Paxlovid zur Behandlung seiner zweiten Corona-Erkrankung zu verteidigen. Denn eigentlich kann der 59-jährige Minister im Unterschied zu US-Präsident Joe Biden, der sich auch mit Paxlovid therapieren ließ, wohl kaum der Gruppe der „vulnerablen" Risikopersonen zugerechnet werden, zumal für seine Person auch keine für einen schweren Krankheitsverlauf sprechende Risikofaktoren bekannt sind.
Die georderten Dosen drohen zu verfallen
Lauterbachs viel größeres Problem, jenseits des für einen verantwortlichen Minister nicht gerade vorbildlichen Missachtens hauseigener Medikamenten-Einsatz-Empfehlungen, dürfte aber sein, dass die georderten, gerade mal ein Jahr haltbaren Paxlovid-Dosen ungenutzt verfallen könnten. Denn bislang wird das Medikament von deutschen Ärzten so gut wie gar nicht verschrieben. Jüngsten Informationen zufolge wurden bislang gerade mal gut 30.000 Dosen bundesweit verabreicht. Zum Vergleich: In den USA beispielsweise erhalten täglich etwa 40.000 Corona-Patienten das Medikament. Dafür wird als Grund die unter deutschen Medizinern weit verbreitete Skepsis gegenüber Paxlovid und die Rücksichtnahme auf die Gesundheit ihrer älteren Patienten genannt.
Denn Paxlovid, speziell der den zu schnellen Abbau von Nirmatrelvir hemmende Wirkstoff Ritonavir, kann negative Folgen auf die Wirksamkeit anderer, gerade für ältere und kränkliche Menschen dringend benötigter Medikamente haben. Deshalb müssten letztere teilweise abgesetzt werden und ein heikler neuer Medikationsplan müsste erstellt werden. Die meisten hiesigen Ärzte, die zudem die schwierige Aufgabe zu lösen haben, quasi in Windeseile auf Basis eines positiven PCR-Tests die Eignung eines Patienten für die Paxlovid-Verschreibung wegen eines möglicherweise schweren Krankheitsverlaufs schon im Infektionsfrühstadium entscheiden zu müssen, scheuen daher das Risiko, innerhalb kürzester Zeit die Medikamentierung ihrer älteren und teils schwerkranken Patienten grundlegend umzustellen. Natürlich spielt auch das enge Zeitfenster für den Beginn der Therapie von wenigen Tagen nach erfolgter Infektion eine gewisse Rolle für die geringe Anwendung von Paxlovid, doch dafür müsste sich ja ähnlich wie in den USA eine Lösung finden lassen.
Das mag sich auch der Gesundheitsminister gedacht haben, weshalb Karl Lauterbach jüngst zur schnelleren Verfügbarkeit des Corona-Medikaments sogar ein wohlbehütetes Monopol, nämlich das sogenannte Dispensierrecht der Apotheken, ausgehebelt hat. „Ab sofort", erklärte Minister Lauterbach, „dürfen Hausärzte das Medikament selbst dem Patienten abgeben auch ohne Gang zur Apotheke." Auch in den Pflegeheimen, die neben einem Impffachmann auch einen Paxlovid-Beauftragten ernennen sollen, soll künftig ein kleiner Vorrat des Corona-Medikaments gelagert werden dürfen. Doch vermutlich werden all diese ministeriellen Vorgaben dennoch nicht ausreichen, um den von Karl Lauterbach so sehr erhofften Ansturm auf Paxlovid auslösen zu können. Ohne eine ganz konkrete Empfehlung über die „vulnerablen" Risikogruppen hinaus wird es wohl nicht gehen. Allerdings ist fraglich, ob sich unter anderem die Stiko zu einer solchen Empfehlung, beispielsweise für alle frisch infizierten Bundesbürger ab 65 Jahren, wird durchringen können. Nur würden dann wohl auch die eine Million Dosen, die bestellt wurden, kaum ausreichen.