Ein Jahr nach der Berliner Pannenwahl will ein Gericht jetzt über die Einsprüche verhandeln. Möglicherweise kommt es zu Neuwahlen. Warum dieser Prozess so wichtig ist und welche Folgen er nach sich ziehen könnte, erläutert die Politologin Dr. Julia Reuschenbach von der Freien Universität Berlin.
Frau Dr. Reuschenbach, am 28. September will der Berliner Verfassungsgerichtshof über potenzielle Teil- oder Neuwahlen des Berliner Abgeordnetenhauses (AGH) und der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) verhandeln. Danach soll es noch einmal dauern: Maximal drei Monate bis zur Entscheidungsfindung und maximal drei weitere Monate bis zu dem Zeitpunkt, an dem tatsächlich mögliche Neuwahlen stattfinden könnten. Ist das nicht viel zu spät?
Ja, grundsätzlich ist das ein Spagat, über den wir da sprechen. Einerseits, dass natürlich das Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger, vor allen Dingen der Wählerinnen und Wähler, die sich beteiligt haben an dieser Wahl, ist, dass solche Missstände, wie sie offenkundig vorzufinden waren im vergangenen Jahr schnell und gründlich aufgearbeitet werden. Andererseits sind demokratische Wahlen natürlich ein hohes Gut in unserer Demokratie. Entsprechend ist gleichzeitig die Erwartungshaltung, dass Menschen, die sich damit befassen, zum Beispiel an Gerichten, an Prüfstellen wie die Landeswahlleiter oder an anderen Institutionen, sich dem auch besonders gewissenhaft zuwenden.
Es gibt 35 Einwände. Vor Gericht werden aber nur vier verhandelt.
Ja. Die vier Einsprüche wurden von der AfD, der Partei „die Partei", von der Landeswahlleiterin und von der Senatsverwaltung für Inneres vorgebracht.
Und was ist mit den anderen 31 Einwänden?
Die Begründung ist die, dass das Gericht sagt, dass die vier Einsprüche, die jetzt verhandelt werden, alle Themenbereiche abdecken, die auch in den anderen Einsprüchen genannt werden. Dass man im Grunde bündeln kann, was es an Einwänden gibt und dass man das in diesen vier Einsprüchen zusammengeführt hat.
Für die Berlinwahl wurde eine Verhandlung beim Berliner Gerichtshof anberaumt, und über die von den Wahlpannen mitbetroffene Bundestagswahl will sich der Bundestag beraten. Warum wird da so unterschiedlich verfahren?
Die verfassungsrechtliche Regelung ist auf Bundes- und Landesebene in dem Fall unterschiedlich. Im Bundestag ist der Wahlprüfungsausschuss das entscheidende Gremium, wo auch schon Beratungen stattgefunden haben, aber derzeit noch andauern. Also das läuft im Grunde parallel zu den Aktivitäten hier auf der Landesebene. Insofern ist es aber wichtig, dass man das eben trennt. Das hat auch der Verfassungsgerichtshof noch mal klargemacht, dass am 28. September nicht die Bundestagswahl und damit auch nicht die Zusammensetzung des Bundestages in irgendeiner Form zur Diskussion steht, sondern es wirklich um die Landesebene geht. Und der Unterschied liegt eben nicht nur in der Zuständigkeit, sondern in der Frage, wer denn überhaupt Einsprüche gegen Wahlen erheben kann.
Falls entschieden wird, dass die Wahl wiederholt wird, welche Auswirkungen hätte das aus Ihrer Sicht?
Es geht darum, dass der Verfassungsgerichtshof prüfen wird, inwiefern die Unregelmäßigkeiten eine Mandatsrelevanz haben. Also es ist schon relativ offensichtlich, wenngleich auch das durch das Gericht natürlich noch mal beraten wird, dass es Probleme gegeben hat, also von falschen Stimmzetteln, fehlenden Stimmzetteln von Bürgerinnen und Bürgern, die ihre Stimmen gar nicht abgeben konnten und so weiter. Die entscheidende Frage für den verfassungsrechtlichen Maßstab, ob eine Wahl in Teilen wiederholt werden muss oder in Gänze, ob diese Unregelmäßigkeiten Auswirkungen haben auf die Mandatsstruktur, also auf die Zusammensetzung der BVV beziehungsweise des AGHsW, wie wir es jetzt momentan gegenwärtig haben. Und die meines Erachtens wichtigste Frage ist, es für die Wählerinnen und Wähler begreifbar zu machen: Wann sind denn Dinge mandatsrelevant? Ich glaube, dass vielen Menschen das sehr abstrakt erscheint, weil man sich zunächst vorstellt, dass, wenn tatsächlich Stimmzettel falsch ausgegeben oder gar nicht ausgegeben werden, dann muss das doch zwingend Auswirkungen haben. Das ist so die allgemeine Logik. Hinter diesen zusammengesetzten BVV und dem AGH stehen aber natürlich sehr komplexe Berechnungsverfahren wie ein solches Mandat entsteht. Ich glaube, da wird man sehr genau hinschauen, inwieweit der Verfassungsgerichtshof auch begründet, warum gegebenenfalls eine Wiederholung stattfindet. Denn es geht nicht nur um die Frage, ob jetzt vielleicht am Ende womöglich nur ein oder zwei Mandate betroffen sind. Sondern es geht zugleich – und das ist sehr wichtig – um die Integrität und das Vertrauen in die Demokratie.
Wahlen sind das höchste Gut, das wir haben für unsere repräsentative Demokratie, weil Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme übertragen, also Vertrauen schenken in die Repräsentantinnen und Repräsentanten. Wenn das Vertrauen ausgehöhlt wird, weil man das Gefühl hat – und das auch selbst erleben konnte in Berlin –, dass Wahlen nicht rechtmäßig stattfinden, ist das eine große Gefahr.
Wenn man das noch einen Schritt weiterdenkt vielleicht, dann muss man das auch betrachten vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das Demokratievertrauen in Teilen der Gesellschaft abnimmt. Dabei geht es nicht in erster Linie um die Staatsform, der die Menschen immer noch mit großer Zustimmung vertrauen und diese wertschätzen. Sondern es geht um ein sinkendes Vertrauen in die Institutionen einer Demokratie. Wir erleben momentan, dass auch das Vertrauen in andere wichtige Institutionen abnimmt. Denken wir zum Beispiel an die Medien, an die Krisen im RBB und im NDR. Das Problem ist, dass keine Demokratie unantastbar ist, sondern sie hat auch ihre Schwächen. Umso wichtiger ist es, sie gegenüber Diktaturen und Autokratien zu verteidigen und ihre Werte, die mit ihr verbunden sind. Das erleben wir gerade, wenn man auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine schaut. Insofern hat man hier vonseiten der Berliner Verwaltung und Wahlleitung erst mal Vertrauen verspielt. Und zwar ausgerechnet an der Stelle, an der Bürgerinnen und Bürger unmittelbar Gelegenheit haben, an Demokratie zu partizipieren. Wir haben ja nicht so viele direktdemokratische Elemente in unserem System –, auf der Landesebene noch mehr als auf der Bundesebene, wo Menschen noch mal anders an politischen Entscheidungen mitwirken könnten. Insofern richtet sich auf Wahlen ein besonderes Augenmerk. Solche Vorgänge wie die, die hier nun zur Diskussion stehen, sind geeignet, um das Vertrauen in die Demokratie und ihre Funktionsweisen nachhaltig zu erschüttern. Wahlen werden nicht von den Parteien organisiert, sondern durch die Verwaltung. Insofern gilt, dass dann umso mehr bei einer Wiederholung – falls sie denn kommt – der Ablauf der Wahl sehr genau beobachtet werden wird. Die größte Gefahr ist natürlich, dass solche Ereignisse dazu führen, dass Menschen sich abwenden und womöglich bei den nächsten Wahlen überhaupt nicht mehr zur Wahl gehen. Und das kann nicht im Sinne derjenigen sein, die für die Demokratie eintreten und solche Wahlen organisieren.