So langsam realisieren sie bei Union Berlin: Der Sprung an die Tabellenspitze der Bundesliga ist kein Traum – ein Zufall ist er ohnehin nicht. Auch gegen Wolfsburg tritt der Club wie ein Spitzenteam auf.
Auch während der Länderspielpause thront Union Berlin an der Tabellenspitze der Fußball-Bundesliga. Und so mancher Fan fragt sich, ob am Ende der Saison vielleicht tatsächlich der Clubname in die Meisterschale eingraviert wird. Das Kuriose: Dort steht „Union Berlin" sogar schon drauf, obwohl der Verein aus Köpenick kein einziges Mal den Titel gewonnen hat. Weil den Verantwortlichen aber der Name des Deutschen Meisters von 1905, dem „Berliner Thor- und Fußballclub Union 1892", zu lang für die Gravur gewesen war, hatten sie ihn einfach auf „Union Berlin" gekürzt. Darüber berichtete der langjährige Union-Reporter und -Fotograf Matze Koch im „Bild"-Podcast „Stammplatz": „Vielleicht hat es damals schon jemand gewusst, dass sich über 115 Jahre später der wahre 1. FC Union Berlin anschickt, diese Schale mal in den Händen zu halten."
„Das ist sehr außergewöhnlich"
Das war natürlich als Scherz gemeint, doch so langsam kommt einem der Fakt, dass Union Berlin der Bundesliga-Spitzenreiter ist, gar nicht mehr wie ein großer Witz vor. Die Eisernen verteidigten durch den souveränen 2:0-Heimsieg gegen den VfL Wolfsburg ihre in der Vorwoche eroberte Tabellenführung erfolgreich. Durch die Länderspielpause thront der Club aus Köpenick also mindestens drei Wochen an der Spitze – mit zwei Punkten Vorsprung auf Borussia Dortmund und gar fünf auf Rekordmeister Bayern München. „17 Punkte nach sieben Spieltagen – das ist aus meiner Sicht außergewöhnlich", sagte Trainer Urs Fischer. Sein Team wirkt derzeit so gefestigt, dass es nicht viele Gründe gibt, warum der krasse Außenseiter von den Titelanwärtern so schnell von ganz oben heruntergeholt werden sollte.
Die Frage eines Reporters, wie er diesen sensationellen Erfolg schaffen würde, verdarb Fischer etwas die Feierstimmung. „Wie wir das machen – und nicht ich", maßregelte der Trainer den Journalisten ein wenig – und der bekam damit schon eine Antwort auf seine Frage. „Am Ende steht eine Mannschaft auf dem Platz, die es machen muss", so Fischer. Das Denken und Handeln im Team, die Solidarität – „das ist unsere große Stärke". Dazu kommt die Fokussierung auf die Basics wie kollektives Verteidigen und hohe Laufbereitschaft, „das setzt die Mannschaft sehr gut um", sagte Fischer, „und natürlich wollen wir uns auch spielerisch weiterentwickeln".
Timo Baumgartl erlebte im Spiel gegen Wolfsburg auch persönlich einen perfekten Nachmittag. War der Innenverteidiger in der Vorwoche beim Auswärtsspiel in Köln noch nicht zum Einsatz gekommen, durfte er diesmal sogar von Beginn an ran. Etwas mehr als vier Monate nach dem Bekanntwerden seiner Hodenkrebs-Erkrankung fühlte sich das für den 26-Jährigen wie eine Befreiung an. „Das ist genau das, was ich mir während der Chemo die ganze Zeit erträumt hatte", sagte Baumgartl, „das sind emotionale Momente für mich." Auch, weil er seit seiner Chemotherapie auf der Onkologie-Station der Berliner Charité auch für die Patienten kämpft, mit denen er dort eine schwere Zeit teilte. „Mir haben so viele geschrieben, dass sie stolz sind und dass es ihnen einen positiven Input gibt, dass ich jetzt schon wieder auf dem Platz bin", berichtete Baumgartl: „Für sie alle habe ich das auch gemacht."
Seit seinem Wiedereinstieg ins Training brennt der Abwehrspieler auf Einsätze, das wollte Fischer unbedingt belohnen. „Es war an der Zeit, ihn reinzuwerfen", meinte der Coach. Einen Tag vorher habe er mit dem Profi ein kurzes Gespräch geführt und ihm dabei mitgeteilt, „was ich im Kopf habe" und ihn gefragt, „ob er sich das zutraut". Das tat Baumgartl, der eine solide Leistung zeigte, auch wenn ihm in der ein oder anderen Situation die fehlende Spielpraxis anzumerken war. Der Startelf-Einsatz war aber keine barmherzige Geste des Trainers, der Schweizer verspricht sich davon auch viel für die nächste Zeit: „Nach der Länderspielpause kommen sechs sehr anstrengende Wochen auf uns zu, da brauchen wir jeden Spieler." Das werde „eine ganz schwere Phase" für den Club, betonte Fischer, „und die wird sicher auch nicht immer so erfolgreich sein".
International läuft es bei den Eisernen überhaupt nicht. „Union hat die Euro-Flatter" titelte die „Bild"-Zeitung nach der zweiten Niederlage in der Europa League. Nach der Start-Pleite zu Hause gegen St. Gilloise (0:1) verlor Union auch auswärts in Portugal bei Sporting Braga (0:1). Auch Trainer Fischer erkennt ein deutliches Missverhältnis zwischen den Auftritten seiner Mannschaft in der Liga und im Europapokal. „Da musst du mehr aufwenden. Wir müssen ans Limit kommen", kritisierte der Schweizer. Das sei gegen Braga zumindest offensiv nicht der Fall gewesen, was er schon an der Anzahl der Sprints erkennen könne: „130 Sprints – das reicht bei Weitem nicht. Normalerweise bewegen wir uns bei 200."
Mit angezogener Handbremse kann Union keinen Gegner schlagen, international erst recht nicht. „Dieses Unermüdliche, dieses Eklig-Sein", sagte Fischer auch als Warnung an seine Spieler, „das ist eine Voraussetzung". Will der Club noch eine realistische Chance aufs Weiterkommen haben, muss im dritten Gruppenspiel am 6. Oktober bei Malmö FF unbedingt ein Sieg her. Der schwedische Vertreter ist genau wie Union mit null Punkten aus zwei Spielen gestartet.
Enttäuschung in der Europa League
In der Liga tritt Union dagegen sensationell stark auf. Die Leistung gegen Wolfsburg war – vor allem in der zweiten Halbzeit – die eines Spitzenteams. „Da war ich begeistert, das muss ich zugeben", sagte Fischer, der sonst eher ungern in höchsten Tönen schwärmt: „Drei Tage nach einem schwierigen Europapokalspiel mit einer nicht einfachen Rückreise insgesamt 120 Kilometer zu laufen – die Mannschaft hat unheimlich viel aufgewendet, um dieses Spiel zu gewinnen." Anders als in Braga sei man „gierig im Strafraum" gewesen, „die Konsequenz auf den letzten 30 Metern und im Strafraum" habe ihn begeistert.
Dafür verantwortlich waren vor allem die Torschützen Jordan Siebatcheu und Sheraldo Becker, die einmal mehr prächtig miteinander harmonierten. „Sie haben es sehr gut gemacht, nicht nur offensiv, sondern auch gegen den Ball", lobte Fischer. Stoßstürmer Siebatcheu habe „unermüdlich gearbeitet" und „immer wieder den Ball festgemacht". Und Becker suchte wie von Fischer zuvor gefordert verstärkt Eins-gegen-eins-Situationen, die wie vor dem 1:0 für Gefahr sorgten. „Das muss er noch viel öfter provozieren", forderte der Trainer, „dann kann man ihn mit seiner Geschwindigkeit fast nicht mehr verteidigen".
Mit dem aktuell besten Scorer der Liga und dessen kongenialen Sturmpartner mischt Union derzeit die Liga auf. Von den Gegnern gibt es an jedem Wochenende wahre Lobeshymnen, so auch von Wolfsburgs Trainer Niko Kovac. „Union ist mit Ball und gegen den Ball sehr aggressiv, sie suchen jeden Zweikampf mit großer Körperlichkeit, sind physisch vielleicht die stärkste Mannschaft der Liga", sagte Kovac, der einst als Profi ähnlich agierte. Union suche ohne viel Schnörkel stets den direkten und schnellen Weg zum Tor, „da wollen wir auch hin". Union als Vorbild selbst für so ambitionierte Clubs wie den VfL Wolfsburg – „natürlich fühlt sich das gut an", gab Fischer zu. Aber er betonte auch: „Es gibt immer etwas zu verbessern."