Durch das konstruktive Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt am 1. Okober 1982 konnten die Unionsparteien mit Unterstützung der FDP nicht nur die 13-jährige Ära der sozial-liberalen Koalition beenden, sondern es verhalf Helmut Kohl auch zum Start in die längste Amtszeit eines deutschen Regierungschefs.
Als die Abgeordneten des deutschen Bundestages am Morgen des 1. Oktober 1982 den Bonner Plenarsaal betraten, dürfte allen bewusst gewesen sein, dass sie wenig später Zeugen eines historisch noch nie zuvor dagewesenen Ereignisses werden würden. Angesichts der klaren Mehrheit, über die die Unionsparteien zusammen mit der einige Tage zuvor nach 13-jähriger Zusammenarbeit aus der sozial-liberalen Koalition ausgestiegenen FDP verfügten, war es eigentlich nur noch Formsache, die achtjährige Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Schmidt zu beenden. Zwar waren die gleichen Partner zehn Jahre zuvor schon einmal mit einem konstruktiven Misstrauensvotum beim Sturzversuch gegen Willy Brandt überraschend gescheitert, doch diesmal sprachen die Stimmenverhältnisse eindeutig gegen die Sozialdemokraten.
Der gegen 14.25 Uhr beginnenden Abstimmung über den Antrag, „Herrn Bundeskanzler Schmidt seines Amtes zu entheben und Herrn Doktor Kohl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu wählen", war eine sehr emotionale, sechsstündige Debatte vorausgegangen. Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte dabei seine Enttäuschung über die abtrünnige FDP, der er Wählertäuschung, Verrat und Wortbruch vorwarf, in ungewohnt drastischen Worten zum Ausdruck gebracht. Das Grundgesetz habe zwar, so Schmidt, die rechtliche Basis für die Handlungsweise der Antragsteller geschaffen, „aber sie hat keine innere, keine moralische Rechtfertigung". Natürlich antworteten die Attackierten mit ähnlichen verbalen Rundumschlägen, wobei Rainer Barzel, der für die Union die Einreichung des konstruktiven Misstrauensantrags begründete, die SPD als „regierungsunfähig" bezeichnete und den Genossen vorwarf, „ein blühendes Gemeinwesen in ein krisengeschütteltes Land verwandelt" zu haben.
Amtszeit dauerte 16 Jahre und 26 Tage
Um 15.10 Uhr stand fest, dass erstmals in der Historie der Bundesrepublik ein Regierungswechsel durch einen konstruktiven Misstrauensantrag erfolgreich über die politische Bühne gegangen war. 256 der 495 Abgeordneten hatten mit „Ja" für den Antrag gestimmt, sieben mehr als die benötigen 249. „Der Abgeordnete Dr. Helmut Kohl ist zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt", stellte Bundestagspräsident Richard Stücklen nach Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses fest und ließ sich anschließend von Kohl vor dem Plenum unter donnerndem Applaus der Unions- und FDP-Abgeordneten die Annahme der Wahl bestätigen.
Der Pfälzer Helmut Kohl, der in seiner Heimat schon mit 39 Jahren zum jüngsten Ministerpräsidenten der Landesgeschichte aufgestiegen war, hatte sein ehrgeiziges, jahrelang trotz diverser Rückschläge unerschütterlich verfolgtes Ziel, deutscher Regierungschef zu werden, im Alter von 52 Jahren erreicht. Er war erst der sechste Bundeskanzler der Bundesrepublik.
Im Oktober 1982 hätte sich wohl niemand vorstellen können, dass Kohl, dessen unbedingter Machtwille lange Zeit unterschätzt wurde, der als rhetorisch unbedarft, als zögernder Taktierer mit dem Hang zum Aussitzen von Problemen und in seinem Auftreten im Vergleich zu seinem eloquent-weltmännischen Vorgänger als provinziell abgestempelt wurde, dieses Amt 16 Jahre und 26 Tage würde behaupten können. Nicht einmal die fast genauso lange amtierende spätere Kanzlerin Angela Merkel konnte Kohl den Ehrentitel als „Rekord-Kanzler" streitig machen, zumal er mit 25 Jahren an der CDU-Spitze auch noch zum „Rekord-Parteichef" werden sollte.
Kohl setzte sich trotz demoskopisch häufig prognostizierter Niederlagen gemäß seinem ewigen Diktum „Die anderen gewinnen die Umfragen, wir die Wahlen" in vier Bundestagswahlen – 1983, 1987, 1990 und 1994 – gegen die jeweiligen SPD-Kanzlerkandidaten Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau, Oskar Lafontaine und Rudolf Scharping durch. Erst 1998 musste er sich dem SPD-Herausforderer Gerhard Schröder geschlagen geben. Zu seinem langen Machterhalt dürfte ihm fraglos der Mauerfall in die Hände gespielt haben. Auch ohne größeres eigenes Zutun wurde er als „Kanzler der Deutschen Einheit" gefeiert. Dabei konnte er sein im Zusammenhang mit der verfrühten Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion gegebenes Versprechen „blühender Landschaften" ebenso wenig einhalten wie die im Oktober 1982 gegebene und viel belächelte Zusage einer „geistig-moralischen Wende". Spätestens nach seiner Falschaussage vor dem Untersuchungsausschuss um die Flick-Spendenaffäre Ende 1983 konnte sich Kohl kaum mehr als Protagonist für die Rückbesinnung auf ethische Werte oder soziale Tugenden präsentieren.
Als Strauß verlor, war der Weg frei für Kohl
In die Rolle des konservativen Moralapostels war Kohl im Zuge der sogenannten Bonner Wende des Jahres 1982 wohl nur zur zusätzlichen Rechtfertigung des ungewöhnlichen Schritts des Regierungswechsels hineingeschlüpft. Schon nach Übernahme des CDU-Bundesvorsitzes 1973 hatte er nur ein Ziel, das er zwei Jahre später klar formulierte: „Ich will Kanzler werden." Auf dem Weg dorthin stand mit CSU-Chef Franz Josef Strauß allerdings ein mächtiger unionsinterner Konkurrent im Wege, der die Ambitionen des Pfälzers knapp einen Monat nach dessen nur knapp an der absoluten Mehrheit gescheitertem Wahlergebnis als Kanzlerkandidat 1976 in seiner legendären „Wienerwald-Rede" regelrecht abgekanzelt hatte: „Er ist total unfähig. Ihm fehlen die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen."
Den Rivalen Strauß konnte Kohl nur dadurch loswerden, indem er ihm den Vortritt als Unions-Kanzlerkandidat bei den Bundestagswahlen 1980 gelassen hatte, weil er im Land noch keine Chance auf eine politische Wechselstimmung erkannt hatte. Nach der Niederlage von Strauß kehrten sich die Machtverhältnisse in der Union um. Kohl war nun unumstritten die Nummer Eins. Seine ganze Hoffnung setzte er auf die FDP, deren vorzeitigen Ausstieg aus der sozial-liberalen Koalition er im Unterschied zu Strauß noch in der laufenden Legislaturperiode für möglich hielt.
Die Spannungen innerhalb der von Schmidt geführten Regierung wurden angesichts der auch für die Bundesrepublik gravierenden Auswirkungen der weltweiten Wirtschaftskrise immer größer. SPD und FDP waren sich zunehmend uneinig darüber, mit welchen Instrumenten man die Massenarbeitslosigkeit, das Schrumpfen des Bruttosozialprodukts oder die ausufernde Staatsverschuldung bekämpfen wollte. Während der Kanzler auf die Staatsschulden weiter nach oben treibende Investitionsprogramme setzte, wollte die FDP zur Entlastung der öffentlichen Haushalte tiefe Einschnitte bei verschiedenen Sozialleistungen vornehmen lassen und gleichzeitig als Unternehmensanreize die Gewerbe- und Vermögenssteuer senken. Die FDP hatte sich damit unter Federführung von Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff auf den Weg von einer explizit liberalen Partei zu einer Wirtschaftspartei gemacht.
Teile der FDP waren gegen neuen Kurs
Dem Kanzler, der schon wegen seines Eintretens für den Nato-Doppelbeschluss in den eigenen Reihen reichlich unter Beschuss geraten war und daher im Februar 1982 im Parlament die Vertrauensfrage gestellt hatte, war klar gewesen, dass er den neuen Wirtschaftskurs der FDP mit seiner Partei nicht mitgehen konnte.
Nachdem Genscher schon im August 1981 in einem parteiinternen Schreiben von einer „Wende" genannten Kurskorrektur in der Wirtschaftspolitik gesprochen hatte, sorgte das am 9. September 1982 von Otto Graf Lambsdorff veröffentlichte sogenannte Wende-Papier für den offenen Bruch der Koalition. Mit den darin enthaltenen Forderungen der konsequenten Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien, Kürzung von Sozialleistungen und Haushaltskonsolidierung war das Papier nichts anderes als eine von der FDP taktisch geschickt inszenierte Provokation der SPD mit dem klaren Ziel eines Wechsels an die Seite der Union, mit der es im Vorfeld schon Geheimverhandlungen über einen Regierungswechsel gegeben hatte.
Der zwangsläufigen Entlassung durch den Kanzler waren die vier FDP-Bundesminister am 17. September 1982 durch Rücktritte zuvorgekommen. Nach dem erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotum, das in der Öffentlichkeit mit gemischten Gefühlen aufgenommen wurde und von einem Teil der FDP auch nicht akzeptiert werden konnte, versprach Kohl baldige Neuwahlen, um sich die verfassungsmäßig eigentlich nicht nötige Legitimation seiner Regierung durch das Volk zu sichern. Durch die bewusst von Kanzler Kohl herbeigeführte Niederlage in der Vertrauensfrage am 17. Dezember 1982 war der Weg frei für Neuwahlen am 6. März 1983, die von der CDU mit gloriosen 48,8 Prozent gewonnen wurden und der FDP trotz Verlusten immerhin noch sieben Prozent bescherten.