Seit vier Bundesliga-Spielen ist der FC Bayern München bereits ohne Sieg. Das klingt gar nicht mal so dramatisch – ist es ansatzweise aber schon.
Als der FC Bayern München zuletzt ein Bundesliga-Spiel gewann, gab es noch das 9-Euro-Ticket und den Tankrabatt. „Layla" war noch die Nummer eins der deutschen Charts. Michail Gorbatschow und Queen Elisabeth II. lebten noch. Und Boris Johnson war noch britischer Premierminister. Das ist natürlich ironisch und zugespitzt. Doch die vier Spiele, die die Münchener in der Liga nicht gewannen, sind für ihre Verhältnisse durchaus eine handfeste Ergebniskrise. Denn es ist stolze 21 Jahre her, dass der Serienmeister zuletzt so viele Spiele auf einen Sieg warten musste.
Damals, zwischen November 2001 und Januar 2002 waren es sogar sieben Spiele, die das von Ottmar Hitzfeld trainierte Team um Stefan Effenberg, Oliver Kahn und Mehmet Scholl hintereinander nicht gewann. Und am Ende wurde Dortmund Meister. Wenn die Bayern nun am 30. September als Tabellenfünfter Bayer Leverkusen empfangen, liegt der letzte Bundesliga-Sieg mehr als einen Monat zurück. Und Bayer ist trotz oder gerade wegen der Krise immer ein gefährlicher Gegner. Von den letzten drei Spielen in München verloren die Leverkusener nur eines. Und danach geht es für die Bayern zum Gipfel nach Dortmund, der BVB liegt aktuell drei Punkte vorne. Das ist durchaus ein explosives Gemisch. Auch für Trainer Julian Nagelsmann.
Als die Münchener am 21. August mit 7:0 in Bochum gewannen und nach drei Spieltagen mit neun Punkten und 15:1 Toren an der Spitze thronten, dazu beim 5:3 im Supercup in Leipzig glänzten, da gingen die ironischen Kommentare eher in die Richtung, ob die Münchener sich den elften Meistertitel in Folge im Januar oder erst im Februar sichern werden. Damals wurde zuweilen auch spekuliert, der Abgang von Weltfußballer Robert Lewandowski zum FC Barcelona sei eine Befreiung. Weil es beim 6:1 in Frankfurt und jenem 7:0 in Bochum jeweils fünf verschiedene Torschützen gab. Die Bayern, so meinten viele, müssten nicht mehr für den Egoisten Lewandowski spielen, seien unberechenbarer und dadurch noch gefährlicher.
Fehlt dem Club nun der klassische Neuner?
Doch dann folgten die vier Spiele ohne Sieg. Und das keineswegs gegen übermächtige Gegner. Borussia Mönchengladbach, Union Berlin (beide 1:1), VfB Stuttgart (2:2) und der FC Augsburg. Das waren der 5., 10., 14. und 15. des Vorjahres. Auch wenn die Bayern gegen ebenjene Gegner da schon Probleme hatten, gegen Gladbach zu Hause und in Augsburg je 1:2 verloren und gegen Stuttgart auch 2:2 spielten. Doch das waren andere Situationen. Gegen Gladbach waren die Bayern Corona-geschwächt, gegen Stuttgart standen sie schon als Meister fest.
Diesmal stehen solche Ausreden nicht zur Verfügung. Die Bayern stecken rechtzeitig zum Start des Oktoberfests in der „Wiesn-Kris’n". Und plötzlich scheint genau die Offensive das Problem. In Augsburg blieben die Bayern zum ersten Mal nach 87 Liga-Spielen und 54 Auswärts-Partien ohne Tor. Der Saisonstart ist nun der schlechteste seit zwölf Jahren, also dem vorletzten Dortmunder Meisterjahr. Der gefeierte Neuzugang Sadio Mané – von dem eigentlich jeder wusste, dass er kein Mittelstürmer und damit kein positionsgetreuer Ersatz für Lewandowski ist – hat seit fünf Spielen nicht getroffen. Nach sieben Spieltagen ist Jungstar Jamal Musiala mit vier Bundesliga-Treffern der beste Schütze. Lewandowski hat in sechs Spielen in der spanischen Liga schon achtmal getroffen.
Haben die Bayern und der für seine Transfers um Mané und Abwehrspieler Matthijs de Ligt gefeierte Sportchef Hasan Salihamidzic im Sommer versäumt, einen klaren Neuner zu holen? Zwischenzeitlich fragten sich im Sommer einige, ob der FCB künftig mit Lewandowski, Erling Haaland oder Cristiano Ronaldo im Sturm spielt. Jede der einzelnen Entscheidungen gegen diese drei der weltbesten Stürmer ist für sich verständlich. Im Fall von Lewandowski nahm man die 45 Millionen Euro Ablöse statt zu riskieren, dass der Pole ein Jahr Unfrieden schiebt und dann ablösefrei geht. Im Fall von Haaland wollten die Bayern das teilweise absurde Wettbieten nicht mitmachen und konnten und wollten mit Manchester City nicht mithalten, wo der Norweger gerade alles kurz und klein schießt. Und im Fall von Ronaldo wollten sich die Münchener nicht mit der ganzen Mannschaft, ja dem ganzen Verein, einem 37-Jährigen ausliefern.
Für Verbesserungen sei noch Raum
Wie gesagt: Jede Entscheidung für sich war verständlich. Doch wer ist nun der klare Neuner der Münchener? Der Stürmer Nummer eins? Sadio Mané und Serge Gnabry spielen lieber auf dem Flügel, Thomas Müller und Musiala lieber zentral hinter einer Spitze. Sie alle können das spielen, fühlen sich aber woanders besser aufgehoben. Eric-Maxim Choupo-Moting war in den vergangenen Jahren Lewandowskis Edeljoker, der für zwei, drei Spiele eine Lücke füllen konnte. Als Stürmer Nummer eins für einen Club, der Ambitionen auf den Champions-League-Sieg hat, ist er sicher eine Nummer zu klein.
Trainer Julian Nagelsmann hatte Fragen nach diesem Thema Anfang September noch tendenziell positiv beantwortet: „Wir haben viele flexible Spieler im Sturm, die sehr gut kombinieren können", hatte er gesagt. Auch, wenn es „sicherlich noch Raum für Verbesserungen" gebe. Nach der Niederlage gegen Augsburg reagierte er dann ungewohnt gereizt: „Wir haben die klassische Neun mit Choupo-Moting heute eingewechselt, und einen anderen haben wir nicht", hatte er gesagt. Und angefügt: „Es ist doch eigentlich egal, was ich jetzt antworte. Wenn ich Nein sage, dann heißt es: ‚Er erkennt das Problem nicht.‘ Wenn ich Ja sage, dann schreiben alle: ‚Er vermisst Lewandowski.‘"
In diese Aussagen könnte man so viel hineininterpretieren. Vom Abrücken von den Spielern bis zu dem von den Bossen, die ihm den Kader hingestellt haben. Das wäre aber alles sicherlich zu viel reininterpretiert. Umgekehrt aber steigt der Druck, den die Bosse zwischen den Zeilen auf Nagelsmann machen. Wenn Sportvorstand Hasan Salihamidzic sagt, dass es nun „keine Ausreden mehr gibt", dann gilt das auch für den Trainer – über den er kurz vorher noch gesagt hatte, dass dieser „gerade seinen Stil findet". Denn „so einen Kader hat er noch nicht gehabt".
Heißt: Nach zehn Meistertiteln in Folge wird in München in der Liga sowieso nichts als anderes akzeptiert als Platz eins. Doch Nagelsmann muss auch darüber hinaus liefern. In der Champions League. Doch was sind nun die wahren Bayern? Die aus der ersten Saisonphase, die jeden noch so starken Gegner dominiert haben? Oder die aus der zweiten Phase, die selbst mit harmloseren Gegnern große Probleme haben, sobald diese nur konzentriert und leidenschaftlich verteidigen? Oder hat die Liga nach den vielen Titeln an Reiz verloren, und die Konzentration liegt zu sehr auf der Champions League, wo die Bayern mit 2:0-Siegen bei Inter Mailand und gegen Barcelona sehr gut gestartet sind?
14 Tage Zeit für kritische Analyse
Über alledem steht sowieso die Frage, wie ernst die immer wieder aufkommenden Berichte zu nehmen sind, dass sich in der Kabine immer mehr Unmut gegen den Trainer richtet. Angefangen von Unzufriedenheit über mangelnde Einsatzzeit, wie es sie bei den Bayern immer gibt, bis hin zu einem breiteren Kader wie er nun eben verstärkt wurde. Hinzu kommen Berichte über angeblich mangelnde Souveränität und zu komplexe Taktik-Anweisungen.
Als solche Dinge bei Niko Kovac aufkamen, ließen die Bosse die Gerüchte viel zu lange laufen, bis sie sich verselbstständigt hatten. Nun taten sie das, was man in einer solchen Situation als Entscheidungsträger tun muss: Sie stützen Nagelsmann sehr deutlich. „Wir werden dem Ganzen auf den Grund gehen. Wir haben jetzt die Möglichkeit, einmal 14 Tage in die Analyse zu gehen, uns kritisch miteinander auseinanderzusetzen und viele Gespräche zu führen", sagte Vorstandschef Oliver Kahn und sorgte dafür, dass man dies nicht als Misstrauensvotum gegen den Coach werten kann: „Wir beschäftigen uns jetzt nicht mit irgendwelchen anderen Trainern. Wir sind von Julian total überzeugt." Und das sei wörtlich zu nehmen: „Es geht nicht um Durchhalteparolen. Wir stehen Gott sei Dank noch relativ am Anfang der Saison. Wir haben jederzeit die Stärke, wieder ganz nach vorne zu kommen."
Das muss Nagelsmann liefern, doch die klare Ansage Kahns gibt ihm etwas Ruhe und stärkt seinen Status. Ganz nach dem Motto: Es braucht kein Spieler zu kommen und über den Trainer zu jammern. Und es braucht auch niemand über Schattentrainer wie Thomas Tuchel zu spekulieren. Sollten sich die Bayern nach den Spielen gegen Leverkusen und in Dortmund immer noch in der Krise befinden, könnte sich das alles freilich sehr schnell ändern.