Wie positiv sich das Laufen auf Menschen mit Depressionen auswirkt, kann man an der gestiegenen Zahl von Lauf- und Bewegungstreffs für Betroffene ablesen. Sport-Therapeutin Christina Terán spricht über die verschiedenen Aspekte einer effektiven Bewegungstherapie am Beispiel ihres Lauftreffs „Laufen für die Seele".
Dass Winston Churchill trotz schwerem Alkohol- und Tabakgenuss, hohem Blutdruck und Übergewicht ein Alter von 91 Jahren erreichte, verdankte er einer populären Überlieferung zufolge dem Lebensmotto „No Sports", bei uns frei übersetzt mit „Sport ist Mord".
Extremsportler sind natürlich gefährdet, an ihrer Passion zu sterben, aber im Allgemeinen genießt Sport als Hobby in Vereinen, in losen Gruppen und auch als Individualbeschäftigung ein positives Image. In der Leistungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts steht er für körperliche Disziplin, gutes Aussehen, Vergleichbarkeit durch Selbstbespiegelung in den sozialen Medien – Churchill hätte an einer App-getriebenen Sportindustrie sicherlich wenig Gefallen gefunden. Obwohl er seinen „schwarzen Hund" – wie er seine Depression nannte – ein Leben lang mit eisernem Willen bekämpfte, empfahl ihm niemand, seine Depression mit Sport zu bekämpfen. Man hatte keine Ahnung, welchen Gewinn man gerade vom Laufen haben würde. Heutzutage ist die positive Auswirkung von sportlicher Betätigung auf die Psyche weitestgehend untersucht und durch Studien belegt.
In einer davon wurden 41 Betroffene in zwei Gruppen aufgeteilt: Eine Gruppe durchlief ein mehrwöchiges Bewegungsprogramm, die andere blieb bewegungslos. Das Ergebnis war eine Rückläufigkeit der Symptome bei all jenen, die sportlich aktiv waren. Dieser Effekt blieb bei der bewegungslosen Kontrollgruppe aus. Einen kausalen Zusammenhang zwischen Veränderungen des Gehirns und dem Rückgang der Symptome kann damit noch nicht hergestellt werden. Man weiß nur, dass körperliche Aktivität dem Gehirn guttut, da sie die Neubildung von Verbindungen zwischen Nervenzellen fördert. Die Studie „Physical activity reduces clinical symptoms and restores neuroplasticity in major depression" erschien am 9. Juni 2021 in „Frontiers in Psychiatry".
„Menschen in Bewegung bringen"
Sport als Therapie funktioniert am besten in Kombination mit Gesprächstherapien und, nötigenfalls, Antidepressiva. Sie kann das Warten auf einen Therapieplatz beim Psychologen zumindest überbrücken, beträgt die Wartezeit aktuell doch mehrere Monate. Allerdings ist Bewegung kein Substitut für die beiden anderen Säulen mentaler Gesundheit. Das bestätigt auch Christina Terán, Sporttherapeutin am Alexianer St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin. Sie leitet eine ambulante Lauf- und Nordic-Walking-Gruppe für aktuelle und ehemalige Patientinnen und Patienten, Angehörige und Freunde sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des St. Hedwig-Krankenhauses und der Charité.
Wobei die Nachfrage durchaus größer ist: „Wir können aus Qualitätsgründen die Gruppe gar nicht weiter öffnen, eine zu große Gruppe könnten wir nicht mehr betreuen", erklärt Terán. Dazu gehöre im Einzelfall etwa der Hinweis auf falsche Lauf-Technik wie auch das Motivieren der Mitlaufenden, am Ball zu bleiben. „Unser Anliegen ist hauptsächlich, Menschen in Bewegung zu bringen", so Terán. „Laufen ist im Gegensatz zu anderen Sportarten ein weit erforschtes Feld, weil man bei Ausdauersport die Messungen über eine gewisse Zeit am einfachsten bewerkstelligen kann. Mittlerweile kommen aber auch andere Angebote wie Yoga, Pilates oder Klettern ins Spiel. Ob diese genau den gleichen Effekt erzielen, ist bisweilen noch nicht ausgiebig untersucht."
Christina Terán bezeichnet das Sitzen als das neue Rauchen und weist auf die Tatsache hin, dass sich Menschen immer weniger bewegen. Die Zunahme der Bewegungslosigkeit resultiert natürlich aus dem Wandel der Berufe. Weg vom Handwerk, hin zum Studium, weg von schwerer manueller Tätigkeit hin zu Bürojobs, wobei das Abhängen am Computerbildschirm zu Hause meistens noch eine Fortsetzung findet.
Der gut erforschte Hirnstoffwechsel wird nicht nur durch Antidepressiva beeinflusst. Eine Forschergruppe um Professor Manfred Spitzer der Universität Ulm fand heraus, dass regelmäßige körperliche Aktivität unseren Hormonhaushalt dauerhaft beeinflusst.
Es kommt zu einem verlangsamten Abbau des Botenstoffs Dopamin. Das im Volksmund als Glückshormon bekannte Dopamin ist nicht nur ein körpereigener Stimmungsaufheller. Er wird für wichtige kognitive Prozesse im Präfrontalen Kortex gebraucht. In diesem Areal der Großhirnrinde laufen Gefühlsbewertungen, Denken und Planen ab. Aufmerksamkeit, Konzentration sowie auch andere geistige Fähigkeiten lassen nach, wenn der Dopaminspiegel sinkt. Ob aber das Hormon nun für eine verbesserte Hirnleistung verantwortlich ist, weiß man bis heute nicht abschließend. Einer der Effekte könnte sein, dass mehr Sauerstoff ins Gehirn gelangt. Bereits im Jahr 2000 formulierte der Hirnforscher Arne Dietrich von der American University of Beirut diese These.
„Wir wissen auch, dass in den Muskelzellen Stoffe gebildet werden, die einen anti-depressiven Effekt haben. Die große Frage, um die es eigentlich immer geht, ist nach der Häufigkeit, wie viel und wie oft wir sportliche Aktivitäten brauchen, um einen anti-depressiven Effekt nachzuweisen", so Terán.
„Für den Ausdauersport ist es um die dreimal pro Woche 45 bis 50 Minuten. Wir hatten Probanden mit zweimal 60 Minuten. Man weiß, dass es drei Monate braucht, bis sich ein dauerhafter Effekt einstellt. Es kommt darauf an, was man genau untersuchen möchte. Es gibt eine schon etwas ältere Doktorarbeit über eine Studie, in der man rausgefunden hat, dass sich anti-depressive Effekte bereits nach 45 Minuten auf einem Fahrrad eingestellt haben."
Das könnte daran liegen, dass dem Wohlgefühl womöglich eine ganz andere Klasse belohnender Moleküle zugrunde liegt. Wissenschaftler des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf fanden heraus, dass der Körper beim Ausdauersport einen Stoff ausschüttet, der an die gleichen Rezeptoren andockt wie im Hanf vorkommende Stoffe. Diese können unter anderem schmerzstillend, angstlösend und mild euphorisierend wirken.
Natürlich gibt es neben den biologischen auch psychosoziale Faktoren eines Lauftreffs, die sich positiv auf die mentale Verfassung der Mitlaufenden auswirken. Dazu Christina Terán: „Der Sport bietet eine Möglichkeit darauf zu schauen, wie ich mich selbst erlebe. Wie kompetent nehme ich mich in der Gruppe wahr, wie zufrieden bin ich mit ihr und wie kann ich mich einbringen? Generell ist eine angeleitete Gruppe mit psychologischer Betreuung besser aufgestellt als ohne diese Unterstützung. Wenn wir den Mitgliedern nur eine Anleitung in die Hand drücken würden, mit der Aussicht auf zeitlich auseinanderliegende Fragerunden, wie es den Läufern zwischenzeitlich so ergangen ist, hätten wir weniger positive Effekte als bei einer Gruppe, bei der jemand mitläuft und anleitet." Natürlich nutzt der größte Motivationstrainer nichts, wenn man sich gar nicht fürs Laufen begeistern kann. Wichtiger ist es, ein Gebiet zu finden, auf dem man sich als kompetent erleben kann. Wenn dieser Effekt ausbleibt, wird man früher oder später das Engagement einstellen. Eine Anleitung von psychologisch ausgebildeten Mitlaufenden ist auch deshalb wichtig, weil es bei Depressiven schnell zu Missmut kommt, wenn der soziale Vergleich einsetzt.
„Das Bestmögliche aus dem Miteinander"
„Wir können schon im Vorfeld schauen, was zur Homogenisierung einer Gruppe beiträgt, wenn wir auch ‚überambitionierten‘ Teilnehmern sagen, dass es bei dieser Veranstaltung nicht auf Höchstleistung ankommt; dass die oder der Schwächste, im Endeffekt aber wir das Tempo bestimmen. Pädagogik, Didaktik, Methodik sind dabei enorm wichtig, wenn wir über Laufgruppen mit depressiven Menschen sprechen", so Christina Terán.
Die eingangs erwähnte „Leistung" ist für Depressive das Reizwort beim Thema Sport. Selbst bei leichten bis mittelgradig Depressiven ist der Gedanke, sich körperlich zu betätigen, an eine enorme Überwindung gekoppelt. „Ich stelle mich auch stets als Bewegungs- und nicht als Sporttherapeutin vor, weil man damit schon so viel assoziiert, was das Ziel, den Menschen in Bewegung zu bringen, erst einmal nur hemmt. Die meisten Gruppen heißen Bewegungstherapie-Gruppen. Unser Kernanliegen hier in Berlin-Mitte mit Einzugsgebiet Wedding ist es, auch Leute mit Migrationshintergrund in einer Gruppe mit anderen zu haben und dafür zu sorgen, dass jede und jeder das Bestmögliche aus dem Miteinander rausholt", so das Credo von Christina Terán.
Wer weiß: Vielleicht wäre Churchill mit einer Bewegungstherapeutin ein begeisterter Läufer geworden. Der „schwarze Hund" wäre dafür hinterm Ofen liegen geblieben.