Karl Geiger hat sich auch für diesen Winter viel vorgenommen. Er will den Fluch bei der Vierschanzentournee endlich beenden und peilt sein fünftes WM-Gold an. Kraft zieht er aus seinem Familienleben.
Seit Töchterchen Luisa vor fast zwei Jahren zur Welt kam, ist es mit der Ruhe im Hause Geiger vorbei – vor allem in den frühen Morgenstunden. Dann treibt das muntere Kleinkind den Eltern gewissermaßen die Müdigkeit aus. „Wir sind beide extreme Morgenmuffel, da wird nix geredet, da ist erst mal Ruhe", sagte Franziska Geiger über sich und ihren Ehemann Karl: „Da ist Luisa die, die am meisten redet." Und sie ist es auch, die dafür sorgt, dass der beste deutsche Skispringer mal nicht über Schanzen, Telemark oder Wind-Faktoren nachdenkt.
„Man macht schon die Erfahrung, dass es im Leben wichtigere Dinge gibt als Skispringen", sagte Geiger gegenüber FORUM, „dass die Familie gesund ist und man eine schöne Zeit zusammen hat." Seit der Geburt seines ersten Kindes fällt es dem viermaligen Weltmeister einfacher, den Wettkampfmodus auszuschalten. „Wenn man mit der Kleinen zu Hause spielt, verlagert sich schnell der Fokus. Diese Zeit genieße und schätze ich extrem", sagte er. Auf die Frage, ob einen das Vater- und Muttersein im Leistungssport besser oder schlechter macht, gibt es nur höchst individuelle Antworten. Karl Geiger zieht daraus viel Kraft und Energie. „Ich glaube, dass es den nötigen Abstand zum Sport geben kann, wenn man sich mal komplett mit etwas anderem beschäftigt. Mit etwas Schönem, was einem unglaublich Spaß macht", meinte der 29-Jährige: „Das schafft auch die notwendigen Freiräume, damit man auf der Schanze komplett frisch ist und mit Vollgas an die Sache gehen kann."
Meisterschaft als Warm-up
Das ist auch notwendig, denn Geiger hat im kommenden Winter viel vor. Die Deutschen Meisterschaften am 22. und 23. Oktober in Hinterzarten sind ein erstes Warm-up. Nach zwei zweiten Plätzen (2019/20 und 2021/22) nimmt der Oberstdorfer dann im Gesamtweltcup einen neuen Anlauf auf den Gesamtsieg. Dafür will er schon beim Auftakt am 5. und 6. November im polnischen Wisla vorne mitspringen. Der Saisoneinstieg wurde vom Weltverband FIS nach vorne gezogen, um eine Terminkollision mit der Fußball-WM in Katar (20. November bis 18. Dezember) zu vermeiden. Aufgrund des zu dieser Jahreszeit sehr wahrscheinlichen Schneemangels wird es der erste Weltcup in der Geschichte sein, der auf Matten ausgetragen wird. Wichtig im Weltcup-Kalender sind für Geiger auch die Heim-Springen in Titisee-Neustadt (9. bis 11. Dezember) und Willingen (3. bis 5. Februar). Doch die ganz großen Höhepunkte sind die Vierschanzentournee (29. Dezember bis 6. Januar) und die Weltmeisterschaften im slowenischen Planica (21. Februar bis 6. März).
WM-Gold oder Triumph bei der Vierschanzen-Tournee? Die Frage, was ihm lieber wäre, will Geiger nicht so recht beantworten. „Es sind beides richtige Highlights in unserer Saison." Und warum sollte er sich auch für eine Sache entscheiden? „Ich würde lügen, wenn ich sage, ich will bei beiden Events nicht ganz oben stehen", sagte der zweimalige Olympiadritte der Winterspiele von Peking. Da aber die Konkurrenz groß ist und es gerade im Skispringen viele nur schwer zu kalkulierende Variablen gibt, scheut Geiger das Benennen von konkreten Zielen. Er gebe alles und hoffe, „dass das notwenige Glück auf unserer Seite ist". Die Betonung liegt auf dem Wort „unserer". Geiger ist ein absoluter Teamplayer, der Einzelsiege auch seinen Kollegen Markus Eisenbichler, Stephan Leyhe, Andreas Wellinger, Constantin Schmid oder Pius Paschke gönnt. Vor allem bei der Vierschanzentournee. „Ob das jetzt ich bin oder ein anderer Deutscher", sagte Geiger: „Es wäre schön, wenn es einer von uns gewinnen könnte."
Denn auf dem traditionsreichen Event scheint ein Fluch zu lasten. 21 Jahre ist es nun schon her, seit mit Sven Hannawald ein deutscher Ski-Adler die Gesamtwertung der vier Springen in Oberstdorf, Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen gewinnen konnte. Im Vorjahr war Geiger als Weltcup-Gesamtführender mit großen Erwartungen angetreten – am Ende reichte es „nur" zu Platz vier. Dabei hatte der Allgäuer den Triumph schon nach der Hälfte des Wettbewerbs abgeschrieben, nachdem er beim Neujahrsspringen nur auf Platz sieben gelandet war. Weil die Wind-Bedingungen nicht passten, weil die Form nicht stark genug war. „Dass das gerade jetzt wieder bei der Tournee passiert, ist halt echt zum Kotzen", wetterte Geiger im TV-Interview, das aufgrund seiner Wortwahl nicht gerade als Neujahrsansprache taugte: „Ich bin ehrlich gesagt stinksauer." Die ganze Situation nerve ihn gewaltig, weil „das Ding schon wieder weg" sei.
Doch das Gute im Skispringen ist: Es gibt immer wieder einen neuen Anlauf. Die Vorbereitung sei „ganz gut" verlaufen, verriet Geiger. Mit den Ergebnissen beim Sommer-Grand-Prix war er zufrieden – bis auf den Abschluss in Klingenthal. Dort tat sich Geiger extrem schwer, was der enttäuschende 21. Platz belegte. „Da sind mir ein paar Fehler passiert", erklärte Geiger, „die ärgern mich, aber ich hoffe, dass ich jetzt die richtigen Schlüsse daraus ziehe, damit sie im Winter möglichst nicht mehr passieren". Das ist auch bitter nötig, denn die Konkurrenz um Dawid Kubacki, Ryōyū Kobayashi und Marius Lindvik scheint sich schon wieder auf absolutem Top-Level zu bewegen. „An denen bin ich noch nicht ganz dran", gab Geiger zu, „aber wir haben noch ein bisschen Zeit". Er werde in jedem Fall alles geben, „dass ich im Winter wieder in Schlagdistanz bin".
Richtige Schlüsse aus Fehlern ziehen
Hannawald traut ihm das allemal zu. Während Markus Eisenbichler, der zweite deutsche Topspringer, wie „eine kleine Pralinenschachtel" sei und nicht immer berechenbar springe, sei Geiger „der Stabile, der sich nicht aus der Ruhe bringen lässt". Auch Widrigkeiten bei Wind und Wetter würden den Oberbayern in der Regel nicht großartig aus dem Konzept bringen. „Ich glaube, dass der das gar nicht mitkriegt, ob es schneit oder windet", schwärmte Hannawald über Geigers Nervenstärke. Der Vielgelobte vertraut weiter auf sein System, das sich seit vielen Jahre bewährt hat. Trotz leichter Regeländerungen bei den Anzugsschnitten habe er in der Vorbereitung nicht viel verändert, „für mich ist das A und O, dass ich an meinen Sprüngen weiterarbeite und dass das Niveau besser wird". Er wolle „stabiler und auf höherem Niveau" springen, „damit erhoffe ich mir, dass die Ergebnisse von ganz alleine kommen".
Und falls nicht, wird ihn seine Familie emotional schon wieder aufbauen. Während Töchterchen Luisa noch nicht versteht, was ihr Papa da beruflich so macht, weiß es Ehefrau Franziska nur zu genau. Sie drückt ihrem „Karle" natürlich bei jedem Wettkampf fleißig die Daumen und hofft auf weite Sprünge und große Triumphe, „das Skispringen ist bei uns Alltag, es ist der Beruf meines Mannes". Doch noch mehr wünscht sie sich, dass ihr Mann alles gut übersteht. „Es ist schon so, dass man manchmal denkt: Okay, komm‘ einfach heil runter!", sagte Franziska Geiger. Sie verriet auch, dass ihr öffentlich eher introvertierter Ehemann privat ganz anders sein könne: „Manchmal kommt der schon auf Ideen, wo ich so denke: Wo kommt das jetzt her? Aber genau das mag ich auch an ihm", sagte sie: „Wenn er mit 29 Jahren meint, sich auf den Schlitten zu stellen und im Stehen den Hang hinunter zu fahren: Ich finde das lustig." Und Töchterchen Luisa sicher auch.