Rassismus prägt unseren Alltag – ebenso wie Ungleichheiten zwischen Geschlechtern und Diskriminierung von Minderheiten. Dr. Emilia Roig ist Gründerin des Center for Intersectional Justice (CIJ) und erklärt, weshalb sich dem niemand entziehen kann.
Frau Roig, Sie setzen sich für ein Leben frei von systemischer Unterdrückung ein. Können Sie erklären, was das bedeutet?
Die systemische Unterdrückung ist Alltag für sehr viele Menschen. Es gibt sehr viele Frauen, die in heterosexuellen Ehen leben und täglich unterdrückt werden, ohne es zu merken. Es drückt sich zum Beispiel durch ungleiche Machtdynamiken aus, etwa durch die Tatsache, dass sie weniger verdienen als ihre Männer. Wenn Frauen in heterosexuellen Ehen Kinder haben, wird es meistens von ihnen erwartet, dass sie sich um die Kinder kümmern und ihre Lohnarbeit reduzieren oder komplett pausieren. Und unser Steuersystem ist so organisiert, dass Männer die finanzielle Macht behalten. Sie werden in der Beziehung mehr Geld haben und auch mehr Macht darüber, wie sie das Geld verwenden wollen und welchen Zugang sie der Frau geben.
Für Schwarze Menschen materialisiert sich systemische Unterdrückung auf allen gesellschaftlichen Ebenen, etwa auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungssystem, in der Justiz oder im Gesundheitssektor. Sie erleben es durch die Polizei, die Schwarze Menschen anders behandelt als Weiße Menschen. Im Grunde ist es bei der systemischen Unterdrückung aber wichtig zu verstehen, dass sie sehr viel mit Geld und den Zugängen zu Geld zu tun hat. Denn in einer kapitalistischen Welt bedeuten weniger Zugänge zu Geld weniger Wert, Macht, Möglichkeiten und Sichtbarkeit. Die Geschichte über Unterdrückung wird in einer bestimmten Art und Weise erzählt, die die Unterdrücker immer glorifiziert. Auch das müssen wir hinterfragen.
Sie beschreiben „Rasse", „Klasse", „Geschlecht", „Behinderung" als kulturelle Konstrukte. Was bedeutet das?
Ein Konstrukt ist nichts anderes als eine Erfindung. Die Tatsache, dass es menschliche Rassen gibt, wurde als ein wissenschaftlicher natürlicher Fakt behandelt, der in der Moderne durch die Wissenschaft verfestigt wurde und bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts fortbestand. Erst in den 60er- und 70er-Jahren wurden diese Trugschlüsse nach und nach entlarvt. Heutzutage wissen wir, dass es keine menschlichen Rassen gibt. Aber dieses Wissen hat uns so sehr geprägt, dass wir immer noch daran glauben. Die Hautfarbe der Menschen wird immer in Verbindung mit bestimmten Merkmalen und Eigenschaften gebracht. Das Gleiche betrifft das Geschlecht. Die Tatsache, dass die Menschheit in zwei rigide getrennte und komplementäre Kategorien aufgeteilt ist, ist eine Erfindung. Und das ist meistens schwieriger zu verstehen, weil wir an das Konzept der Natur denken. Wir denken, Mann und Frau sind natürliche Kategorien. Das heißt unser Verhalten, unsere Vorlieben und unsere Position in der Gesellschaft sind naturgegeben. Diese Positionen wurden auch durch Gesetze, Institutionen und Kultur geschaffen. Die Tatsache, dass unsere Genitalien in unserer Gesellschaft über unsere Position entscheiden, darüber, wen wir lieben, mit wem wir Sex haben, mit wem wir eine Familie gründen, wie wir uns kleiden und welchen Beruf wir ausüben sollten, ist eine Erfindung. Das alles hat nichts Natürliches an sich. Genauso natürlich wie Heterosexualität ist auch Homosexualität. Alles, was wir tun, ist natürlich, denn wir sind Teil der Natur.
Was bedeutet Alltagsrassismus?
Alltagsrassismus bedeutet, dass Menschen ein bestimmtes Bild zugewiesen wird und sie dafür negativ bewertet und behandelt werden. Das heißt, dass Menschen eine bestimmte Idee davon haben, was eine Schwarze Person ist, und diese ist meistens negativ. Es rechtfertigt einen schlechteren Umgang mit ihnen. Zum Beispiel die Idee, dass Schwarze Menschen weniger intelligent sind als Weiße Menschen. Sie rechtfertigt die Diskriminierung Schwarzer Menschen im Bildungssystem. Oder die Idee, dass Schwarze Menschen von Natur aus krimineller sind, was sich in ihrer Diskriminierung durch das Justizsystem zeigt. Alltagsrassismus ist die Summe von diesen unterschiedlichen Behandlungen, die Schwarze Menschen erleben. Wenn wir „Alltag" hören, kann der Eindruck entstehen, dass diese Dinge trivial und nicht so wichtig wären. In der Summe schaffen sie aber eine Struktur in der Gesellschaft, die Schwarze Menschen als Gruppe oder auch andere Minderheiten wie Sinti und Sintezze, Roma und Romnja oder Juden und Jüdinnen diskriminiert.
Wir alle tragen Alltagsrassismus in uns. Wann ist jemand ein Rassist?
Wenn wir Rassismus als eine individuelle Tat sehen, wird der Fokus auf den Menschen gelegt. Das Problem ist: Rassismus ist nicht nur ein individuelles Phänomen, sondern vor allem ein strukturelles und institutionelles. Das heißt, Menschen können sich dem nicht entziehen und sagen, sie sind kein Rassist oder keine Rassistin. Oder sagen, es gibt Rassismus, aber sie selbst sind nicht rassistisch. Und deshalb müssen wir auf wissenschaftlicher Ebene schauen, wie sich Rassismus verfestigt und materialisiert. Nur so können wir sehen, dass wir Menschen innerhalb unserer Gesellschaft alle Rassismus in uns tragen.
Wie kann man Menschen begegnen oder erreichen, die für diese Thematik überhaupt nicht offen sind?
Dass diese Menschen nicht erreicht werden, ist nicht der Fall – sie wehren sich einfach nur dagegen. Es gibt einen Widerstand ihrerseits, weil sie diese Systeme nicht sehen wollen und daher Rassismus oder andere Diskriminierungsformen verleugnen. Es ist nicht die Aufgabe der Menschen, die davon betroffen sind, diese Menschen zu erreichen. Und es gibt meiner Meinung nach häufig ein Missverständnis dahingehend, dass einige glauben, Befreiungsbewegungen bräuchten die Unterdrückenden auf ihrer Seite. Also quasi die Auffassung, Feminismus braucht Männer. Oder Antirassismus braucht Weiße Menschen. Dem würde ich widersprechen. Es ist schön, wenn sie sich anschließen, aber wir brauchen sie nicht. Das ist eine andere Positionierung, denn wir wissen, dass sie nicht unerlässlich sind. Bisher haben Frauen in Deutschland nicht mehr Rechte, weil Männer wohlwollend waren und ihnen diese gegeben haben. Sondern weil sie dafür gekämpft haben, obwohl sie innerhalb dieses Prozesses mehr Repression und Gewalt seitens der Männer erfahren haben. Das heißt, es wäre schade, unsere gesamte Energie darauf zu verwenden, Menschen mitzunehmen und sie vom Kampf gegen Rassismus zu überzeugen. Wir sollten einfach weitermachen, und über diejenigen, die sich anschließen, können wir glücklich sein. Aber dem Rest sollten wir nicht mehr Macht geben, als er sowieso schon hat.
Glauben Sie, dass es jemals ein Leben frei von systemischer Unterdrückung und Ungerechtigkeiten geben wird?
Ja, das glaube ich. Aber ich glaube nicht, dass ich das noch erleben werde. Ich weiß auch nicht, ob mein Sohn das noch sehen wird. Das ist eine Entwicklung, die weit über unsere Generationen gehen wird. Aber ich glaube, sie hat schon angefangen. Das ist das Gleiche wie mit dem Kapitalismus. Ich glaube eine nicht-kapitalistische Gesellschaft wird existieren. Es sind unvermeidbare Entwicklungen. Alles, was wir heute tun, ebnet den Weg für diese Revolution, für diese Transformation.