Der nordirische Schauspieler Liam Neeson spricht mit uns über die Bedeutung der Erinnerung, über Rachegelüste, Raymond-Chandler-Krimis und warum er immer noch am liebsten zum Fliegenfischen geht.
Ja, ich fand die Prämisse ziemlich originell. Und da ich immer nach einem neuen Dreh- und Angelpunkt bei meinen Rollen suche, dachte ich, ich könnte es mal mit diesem Twist probieren. Wichtig war aber auch, dass ich mir gut vorstellen konnte, diesen Mann mit Leben zu erfüllen. Er ist ja viel mehr als nur ein Killer. Er ist ein Einzelgänger, hat ein kompliziertes Privatleben und leidet an Alzheimer, was sein Erinnerungsvermögen immer mehr beeinträchtigt. Und ihn dadurch auch sehr verwundbar macht. Es gab also für mich als Schauspieler genügend Stoff, um daraus einen dreidimensionalen Charakter zu formen. Denn nichts langweilt mich mehr, als nur Klischees zu bedienen.
Langsam sein Gedächtnis zu verlieren und keine Erinnerungen mehr zu haben, ist wohl eine der schrecklichsten Krankheiten überhaupt.
Da stimme ich Ihnen zu. Man verliert dadurch seine Persönlichkeit, seine Identität und allmählich sogar die Fähigkeit selbstständig zu leben. Ich habe zur Vorbereitung auf „Memory" viel über Demenz und Alzheimer gelesen und auch Dokumentarfilme angesehen. Es war wirklich eine schreckliche Erfahrung zu sehen, wie sich das Leben eines Menschen langsam auflöst. Für mich sind meine Erinnerungen der kostbarste Schatz, den ich habe. Würde ich den verlieren, ich wüsste nicht, was ich machen würde.
Wäre dann sogar Selbstmord eine Option?
(denkt lange nach) Ich würde mich sicherlich einer sehr ernsthaften Gewissensprüfung unterziehen, wenn ich das dann noch könnte. Ich würde unter gar keinen Umständen meinen Mitmenschen zur Last fallen wollen. Niemand soll mir je meinen Arsch abwischen müssen oder meinen Urin wegschütten. Schon gar nicht meine Söhne. Wenn diese schreckliche Krankheit mich langsam auffressen würde, dann würde ich wahrscheinlich Sterbehilfe in der Schweiz suchen wollen. Und das, obwohl ich katholisch erzogen wurde und aufgewachsen bin. Allerdings habe ich in den letzten Jahren so meine Probleme mit dieser Art von Glauben … Aber ich bin immer noch ein sehr spiritueller Mensch. Es wäre also eine sehr, sehr schwere Entscheidung.
Im Film sagt der Auftraggeber zum Killer: „Bei unserem Job geht man nicht in Rente!" Da musste ich lächeln. Beschreibt das nicht auch Ihre Situation im wirklichen Leben?
(lacht) Ich weiß genau, was Sie meinen. Aber ich zähle mich noch lange nicht zum alten Eisen. Und solange ich noch immer interessante Rollen angeboten bekomme, warum sollte ich da die Schauspielerei an den Nagel hängen? Allerdings werde ich in Zukunft definitiv weniger Rollen spielen, die sehr viel körperlichen Einsatz erfordern. Mittlerweile kenne ich meine Grenzen diesbezüglich sehr genau. Aber ehrlich gesagt: Auch am physischen Aspekt meiner Arbeit habe ich immer noch viel Spaß.
Im Film geht es auch um Rache. Wann haben Sie sich im wirklichen Leben das letzte Mal an jemandem gerächt? Und auf welche Weise?
Da muss ich Sie enttäuschen. Ich habe mich noch nie gerächt. Und schon gar nicht mit Gewalt, wenn Sie darauf anspielen. Ich habe in meiner Zeit als Amateur-Boxer gelernt, meine Aggressionen in Zaum zu halten. Die Leute denken immer, Boxen wäre ein sehr gewalttätiger und brutaler Sport. Aber für mich ist das Boxen eher ein mentales Kräftemessen. Auch wenn ich während des Kampfes meinem Gegner am liebsten den Kopf abreißen würde – nach der letzten Runde umarmt man seinen Kontrahenten, egal ob man nun gewonnen oder verloren hat. Das war immer geprägt von Respekt und Fairness. Da kamen keine Rachegelüste auf.
Nun ja, aber wenn einem jemand im Privatleben unter die Gürtellinie schlägt …
… habe ich auch keine Rachegedanken. Aber ich verstehe natürlich den menschlichen Antrieb, sich rächen zu wollen, vor allem wenn man sich ungerecht behandelt fühlt oder einem schweres Leid zugefügt wurde. Ich habe ja selbst in genügend Rache-Thrillern mitgespielt. Doch diese Triebabfuhr findet eben im Film statt. Ist also pure Fiktion. Dennoch haben diese Filme oft eine kathartische Wirkung auf die Zuschauer: Der Action-Held erledigt die Angelegenheit für sie auf der Leinwand. Und die Zuschauer können das Kino dann vielleicht etwas entspannter verlassen.
Sie sagten gerade, dass Sie ein spiritueller Menschen sind. Wie äußert sich das? Wie schöpfen Sie Kraft für die Aufgaben des Lebens? Wie finden Sie Ihr seelisches Gleichgewicht?
Das sind sehr gute Fragen. Ich meditiere viel. Und ich bin, glaube ich, ein sehr guter Zuhörer. Ich interessiere mich für meine Mitmenschen. Ich will mich in sie einfühlen. Das heißt allerdings nicht, dass mein Gegenüber dieselben Gedanken oder Gefühle haben muss wie ich. Man kann doch auch ganz anderer Meinung sein und sich trotzdem nahekommen. Dieses Zuhören hat für mich eine sehr starke spirituelle Qualität. Meine Mutter starb letztes Jahr mit 94 Jahren. Sie arbeitete 34 Jahre lang in einer Mädchenschule in der Kantine. Sie war sehr religiös, und ihr katholischer Glaube war immens wichtig für sie. Sie hatte dieses Gottvertrauen, das sie auch in sehr harten Zeiten nie verloren hat, das sie tröstete und weitertrug. Dafür habe ich sie immer bewundert. Mir ist diese Art von Glauben leider abhandengekommen. Wenn ich meinen Seelenfrieden finden will, gehe ich am liebsten Fliegenfischen. Das ist die beste Meditation überhaupt.
Über das Fliegenfischen sprachen wir gelegentlich schon in anderen Interviews …
… und ich kann immer wieder davon erzählen. Stellen Sie sich vor: Ich stehe in einem Bach und sehe einen Fisch, wie er mich langsam umkreist. Ich nehme eine von diesen kunstvoll gebundenen Fliegen-Attrappen aus der Schachtel und befestige sie am Angelhaken. Dann werfe ich die Angel aus. Aber den Fisch scheint die Fliege nicht zu interessieren. Also wechsle ich sie aus. Und dann noch einmal. Dem Fisch ist das egal. Das geht eine ganze Weile so. Dann schaue ich auf meine Uhr – und zweieinhalb Stunden sind vergangen. Das ist so seelenreinigend! Das ist wirklich ein Verschmelzen mit der Natur, mit dem fließenden Wasser … Ein weiterer Grund, warum ich so gern Fliegenfischen gehe, ist, dass diese Fische an wunderschönen Orten leben.
Als großer Raymond-Chandler-Fan freue ich mich schon auf Ihren nächsten Film „Marlowe", in dem Sie den berühmten Privatdetektiv Philip Marlowe spielen …
… was mir sehr viel Freude gemacht hat. Regie führte mein Landsmann Neil Jordan. Wir haben in England, Irland und Barcelona gedreht. Barcelona war übrigens ideal für die Außenaufnahmen von Los Angeles. Auch Diane Kruger, mit der ich auch schon gemeinsam vor der Kamera stand, ist wieder mit dabei. Es ist ein sehr schöner Noir-Thriller geworden. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich noch nie einen Chandler-Krimi gelesen hatte. Obwohl ich ein leidenschaftlicher Leser von Kriminalromanen bin. Natürlich habe ich zur Vorbereitung auf „Marlowe" die Scharte ausgewetzt und alles gelesen, was ich von ihm kriegen konnte. Ich bin von Chandler total begeistert. Und das, obwohl seine Romane unglaublich komplizierte Plots haben. Vor allem „The Long Goodbye" – worum zur Hölle geht es da bloß?
Chandler war ein ziemlich scharfzüngiger Zeitgenosse. Über Los Angeles hat er zum Beispiel gesagt: „Eine Stadt mit dem Charakter eines Pappbechers". Würden Sie dem zustimmen?
(lacht) Das ist gut! Ja, da ist schon etwas dran. Da fällt mir ein, was Orson Welles einmal über Los Angeles gesagt hat: „L.A. ist wie ein Schaukelstuhl. Man setzt sich hinein, und wenn man aufsteht, sind 30 Jahre vorüber."
Sie haben viele beeindruckende Filme gemacht. Können Sie aus dieser langen Liste drei Filme auswählen, die Ihnen besonders am Herzen liegen?
Da fällt mir sofort „Michael Collins" ein, aus naheliegenden Gründen. Den irischen Revolutionsführer, der sich gegen die englischen Besatzer auflehnt und für Irlands Unabhängigkeit kämpfte, habe ich mit großer Leidenschaft gespielt. Ebenso wie Oskar Schindler in „Schindlers Liste" – ein ganz besonderer Film. Ich mag auch „The Grey – Unter Wölfen" sehr. Das ist ein guter Abenteuerfilm.
Warum haben Sie – als leidenschaftlicher Ire – 2009 die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen?
Im Herzen bin ich immer noch Ire, solange ich lebe. Die US-Staatsbürgerschaft habe ich auch aus praktischen Gründen angenommen, da ich eben schon sehr lange überwiegend in Hollywood arbeite und mittlerweile auch meinen Lebensmittelpunkt in den USA habe. Ich wohne schon seit vielen Jahren in New York City, und zwar ausgesprochen gern.
Sie wollten nicht auswandern als Trump Präsident war?
Das nicht, aber ich bin heilfroh, dass Trump weg ist und hoffentlich nicht wiederkommt. Ich hoffe wirklich, dass die Leute endlich genug von ihm haben. Der Typ ist ein Krimineller, ein Betrüger und ein narzisstischer Soziopath. Ich wünsche mir, dass man ihn endlich für 50 Jahre wegsperrt. Ganz ehrlich. Als Schauspieler gehört es zu meinen Aufgaben, dass ich Menschen beobachte, sie studiere und ihr Verhalten „lesen" kann. Nehmen wir nur mal Trumps Haare: die gehen in verschiedene Richtungen. Was sagt uns das? Er versucht sein wahres Ich, seine wirklichen Beweggründe zu verschleiern. Er ist ein Lügner und ein Volksverhetzer. Und vergessen wir nicht, wie niederträchtig er Frauen behandelt und dass man ihm Vergewaltigungen vorgeworfen hat. Es ist ungeheuerlich, dass so jemand überhaupt Präsident werden konnte. Er ist wirklich niederträchtig.
Sie sind also froh, dass Biden die Wahl gewonnen hat?
Ich glaube, Biden ist ein guter Mann. Jedenfalls hat er als Vizepräsident an der Seite von Obama sehr viel politische Erfahrung sammeln können. Vor allem in der Außenpolitik. Und das ist gerade in diesen Zeiten sehr wichtig für Amerika. Schauen wir nur auf den Krieg in der Ukraine. Ich wünschte mir nur, dass Biden sieben oder acht Jahre jünger wäre. Denn so ein Amt erfordert sehr viel Kraft. Und man kann schon erkennen, wie ihm dieses Amt zusetzt.
Sie sind dieses Jahr 70 geworden. Eine wichtige Zäsur?
Nein, wie ich auch schon meinen Freunden sagte: 70, das ist nur eine Zahl. Ich hatte auch keine Riesenparty, sondern ein kleines, feines Essen mit meinen beiden Söhnen.
Nehmen wir an, Sie kommen trotz Ihrer Glaubenszweifel in den Himmel. Was würden Sie Gott fragen wollen?
Erkläre Dich!