Phytopharmaka helfen den Menschen seit Jahrtausenden gegen zahlreiche Beschwerden nicht nur physischer, sondern auch psychischer Natur. Dass sie tatsächlich wirken, zeigen regelmäßig Studien.
Immer wenn die Ziegen die roten Beeren dieses einen Strauchs fraßen, sprangen sie bald darauf lebhaft herum und schliefen in der Nacht wenig. So entdeckten äthiopische Hirten der Legende nach die belebende Wirkung des Kaffees. Die Geschichte der Kräuterkunde geht weit zurück. Welche Pflanze gegen welches Leiden hilft, wusste man schon im alten Ägypten, im antiken Rom und Griechenland, im China der Kaiserzeit und in mittelalterlichen Klöstern. Heute noch greifen Menschen in Gegenden, wo es kaum Zugang zu kommerziellen Medikamenten gibt, auf die Apotheke der Natur zurück. Ein Tee aus Hopfen oder Baldrian für die Nacht, um die Nerven zu beruhigen, oder etwas Johanniskraut gegen das Stimmungstief: Was weiß die Wissenschaft heute über die traditionellen Heilpflanzen?
Hoch dosierte Arzneimittel pflanzlichen Ursprungs nennt man Phytopharmaka. Die moderne Kräutermedizin verlässt sich nicht mehr nur auf Traditionen und Überlieferungen, sondern ermittelt Nutzen und Unbedenklichkeit der Extrakte in klinischen Studien. Am besten untersucht ist das pflanzliche Antidepressivum Johanniskraut.
Johanniskraut ist am besten untersucht
Der Extrakt aus der gelb blühenden Pflanze, die man hierzulande auf Wiesen und am Wegesrand findet, wirkt stimmungsaufhellend. Er enthält einen Cocktail von Inhaltsstoffen, die zur Wirkung beitragen, vor allem Hyperforin und sogenannte Flavonoide. Ähnlich wie synthetische Antidepressiva erhöhen sie die Konzentration bestimmter Neurotransmitter im Gehirn, indem sie die Wiederaufnahme in die Nervenzelle hemmen. Noradrenalin, Serotonin und Dopamin bleiben so länger im synaptischen Spalt – der Lücke zwischen zwei Nervenzellen.
Laut einer 2016 erschienenen Metaanalyse, die 27 Studien einschloss, hilft Johanniskraut bei leichten bis mittelschweren Depressionen ebenso gut wie gängige Antidepressiva und verursacht noch dazu weniger Nebenwirkungen. Es wird sogar offiziell in der medizinischen Leitlinie zur Behandlung der Depression aufgeführt. „Hoch dosierte Johanniskrautpräparate sind anerkannte Antidepressiva und werden immer häufiger von Ärzten verordnet", sagt Christoph Bielitz, Professor für Psychiatrie mit Weiterbildung in Naturheilkunde und Suchtmedizin sowie ärztlicher Direktor des Sigma-Zentrums, einer Privatklinik in Bad Säckingen. Hoch dosierte Johanniskrautpräparate sind allerdings verschreibungspflichtig. Man sollte das Kraut nicht auf eigene Faust sammeln und sich daraus einen Tee brauen: Zu unvorhersehbar sind die Schwankungen der Wirkstoffkonzentration aufgrund von Klima und Erntezeit. Besser greift man auf Dragees zurück, die sich exakt dosieren lassen. Doch auch solche frei verkäuflichen Pillen aus der Drogerie, ob Johanniskraut oder andere Phytopharmaka, sollte man nicht leichtfertig einnehmen.
Denn: Selbst bei vergleichsweise verträglichen Wirkstoffen wie Johanniskraut kann es zu Wechselwirkungen kommen. Die Wirksamkeit der Antibabypille wird unter Umständen reduziert, und in Kombination mit anderen Antidepressiva droht das lebensgefährliche Serotoninsyndrom. Dabei kommt es zu einem Überschuss des Neurotransmitters im zentralen Nervensystem. Die Folge: Herzrasen, Zittern und Verhaltensänderungen.
Phytopharmaka nicht leichtfertig nehmen
Der Psychiater und Naturheilkundler Christoph Bielitz verschrieb einem Patienten auf seinen Wunsch hin ein Johanniskrautpräparat. „Was er mir aber verschwiegen hatte: Er nahm zusätzlich den Serotoninvorläufer Tryptophan, den er sich in einer Drogerie besorgt hatte." Der Mix führte bei dem Patienten zu starken aggressiven Erregungszuständen. „Ich kann nur davor warnen, diese Mittel ohne Absprache mit dem Arzt zu nehmen oder auch noch zu mischen", sagt Bielitz. Er geht davon aus, dass es in Deutschland jährlich zu Tausenden Todesfällen aufgrund von Selbstmedikation kommt.
Eine andere vielversprechende Heilpflanze hat so starke Nebenwirkungen, dass sie gar nicht mehr eingesetzt wird. Kava-Kava, auch Rauschpfeffer genannt, ist ein Strauchgewächs, das ursprünglich in der Südsee beheimatet war. Auf Hawaii etwa wird ein Gebräu aus Kava-Kava ähnlich wie ein Feierabendbier zum Entspannen getrunken. Es wirkt beruhigend, angstlösend und hilft beim Einschlafen – das zeigen klinische Studien. Das Problem: Kava-Kava ist Tierversuchen zufolge krebserregend und kann Leberschäden verursachen. In Deutschland sind deshalb seit 2019 Arzneimittel, die Kava-Kava enthalten, nicht mehr zugelassen.
Natürlich heißt also keineswegs immer sanft. Einige der stärksten Gifte stammen aus Pflanzen. „Es ist eine Sache der Dosierung", sagt Gerhard Gründer, Professor für Psychiatrie und Vorsitzender der Abteilung für Molekulares Neuroimaging am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. „Ab einer gewissen Menge greife ich auch mit pflanzlichen Präparaten in die Hirnchemie ein." Dabei blieben dann Nebenwirkungen nicht mehr aus.
Einige Pflanzenextrakte haben sich in klinischen Studien als wirksam erwiesen. In frei verkäuflichen Präparaten sind sie jedoch teils so niedrig dosiert, dass kein starker Effekt zu erwarten ist. Das gilt zum Beispiel für legale Cannabisprodukte mit dem Wirkstoff Cannabidiol, die als Angstlöser und Einschlafhilfen vermarktet werden. „CBD-Öl ist in den Dosierungen, wie man es kaufen kann, wahrscheinlich pharmakologisch nicht wirksam", erklärt Gerhard Gründer. „In höheren Dosierungen kann CBD sich aber offenbar bei Patienten mit Schizophrenie positiv auswirken. Es kommt eben auf die Dosis an."
Baldrian ist das beliebteste Heilkraut
Zu den umsatzstärksten und am besten untersuchten pflanzlichen Arzneimitteln gehören ebenso Präparate aus Blättern des Ginkgobaums. Der Ginkgo stammt aus Asien: Dort wird er in buddhistischen Tempelanlagen gepflanzt und verehrt. Die traditionelle chinesische Medizin kennt seine Heilwirkung schon seit über 2.000 Jahren.
Das Blatt enthält Inhaltsstoffe wie Terpene und Flavonoide, die auch in Hanf enthalten sind. Tierversuche zeigen, dass das Substanzgemisch Nervenzellen vor schädlichen Einflüssen schützen kann und Botenstoffe anregt, die am Lernen und Erinnern beteiligt sind. Außerdem hemmen die Stoffe die Blutgerinnung. Ginkgo wird daher zur Behandlung von zerebralen Durchblutungsstörungen und damit einhergehender Gedächtnisschwäche und Unkonzentriertheit eingesetzt, ebenso bei beginnender Demenz. Bei gesunden Menschen bessert Ginkgo die Merkfähigkeit allerdings nicht.
Das derzeit beliebteste Heilkraut bei Angst, Unruhe und Schlaflosigkeit ist Baldrian. Die heimische Wildpflanze mit der übel riechenden Wurzel, die dem Volksglauben nach böse Geister verjagt, soll die Nerven beruhigen. Bei Prüfungsangst oder Schlafproblemen kommt Baldrian heute in Form von Pillen, Tinkturen, Tees oder Badezusätzen zum Einsatz. Entscheidend ist wahrscheinlich das Zusammenspiel der Inhaltsstoffe, darunter ätherische Öle, Lignane, Valerensäuren und Flavonoide. Sie beeinflussen die Neurotransmitter Serotonin und Gamma-Aminobuttersäure. In einigen Fertigpräparaten wird der Extrakt der Baldrianwurzel mit anderen beruhigenden Pflanzenstoffen, etwa aus Passionsblume und Hopfen, kombiniert.
Eine Metaanalyse über 16 Studien mit mehr als 1.000 Versuchspersonen weist darauf hin, dass man mit Baldrian tatsächlich besser nächtigt. Doch laut einer weiteren Überblicksstudie verhilft Baldrian verglichen mit einem Placebo weder zu einem rascheren noch zu einem längeren Schlaf, wenn man unter Einschlafproblemen leidet.
Großes Potenzial bei psychischen Beschwerden
Um herauszufinden, wie pflanzliche Medikamente im Vergleich zu gängigen Psychopharmaka wirken, stellen Forscher Vergleichsstudien an. Dabei lässt man beispielsweise Baldrian gegen Benzodiazepine – viel verschriebene Schlaf- und Beruhigungsmittel – antreten. In einer Untersuchung am Institut für Psychosomatische Forschung in Stuttgart wurden 202 Personen mit Schlafstörungen ohne eindeutige Ursache per Zufall einer von zwei Behandlungen zugewiesen: entweder mit 600 Milligramm Baldrianwurzelextrakt oder mit zehn Milligramm des Benzodiazepins Oxazepam. Sechs Wochen lang sollten sie die Pillen täglich kurz vor dem Zubettgehen einnehmen. Es zeigte sich: Baldrian und Oxazepam verbesserten die Schlafqualität gleich gut.
Im Gegensatz zu Benzodiazepinen macht Baldrian nicht abhängig, und der gefürchtete Hangover am nächsten Tag bleibt meist aus. Als Nebenwirkungen kommen aber Übelkeit und Bauchschmerzen vor. Und wie bei allen pflanzlichen Schlafmitteln gilt, dass sie unter Umständen die Fahrtüchtigkeit einschränken können. Seine volle Wirkung entfaltet Baldrian oft erst nach zweiwöchiger Einnahme, was das Risiko von Nebenwirkungen erhöht.
„Bei schweren Schlafstörungen kommt man mit Baldrian nicht aus", warnt Gerhard Gründer. Doch gegen ein Baldriandragee oder einen beruhigenden Tee vor dem Schlafengehen ist aus Sicht des Psychiaters nichts einzuwenden. „Es liegt ein großes Potenzial in der Phytotherapie bei psychischen Beschwerden. Dieses Potenzial ist bisher bei Weitem nicht gehoben", sagt er. In einigen unscheinbaren heimischen Gewächsen und entlegenen Gebieten der Welt wartet sicher noch manches Heilkraut auf seine Entdeckung.