Schule ist im beständigen Um- und Aufbruch – hat sich im Kern aber nicht verändert. Notwendig wäre ein echter Paradigmenwechsel, sagt Bildungsinnovatorin Margret Rasfeld und fordert „einen echten Kulturwandel".
Frau Rasfeld, „Welt verändern lernen, Schule im Aufbruch" heißt die Überschrift. Aber ist Schule nicht eigentlich immer im Aufbruch?
Die deutsche Schule befindet sich eher in einer Optimierungsfalle. Ich vergleiche das mit der Entwicklung des Telefons. Da gab es irgendwann den Quantensprung zum Smartphone. Einen solchen Quantensprung hat unser Schulsystem noch nicht gemacht. Schüler sind immer noch nach vorne ausgerichtet. Ob die Tafel durch ein Whiteboard ersetzt wurde, ändert nicht grundlegend die Kultur. Junge Menschen vorzubereiten auf die großen Herausforderungen der Zeit, das passiert noch viel zu wenig. Schüler arbeiten immer noch im Fächerkorsett, oft im Gleichschritt. Schule ist zwar in Veränderung begriffen, aber ein Aufbruch in eine neue Kultur ist in Breite noch nicht in Sicht.
Was meinen Sie mit „neue Kultur"?
Die neue Kultur wäre ein Paradigmenwechsel. Der ist sogar bildungspolitisch beschlossen durch das sogenannte Nachhaltigkeitsziel „4 Quality Education" der UNESCO (Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur; Anm. d. Red.). Da wird von einem Paradigmenwechsel weg vom Fächerkonzept zum fächerübergreifenden Projektlernen gesprochen. Nicht der Stoff ist im Zentrum mit Abschluss und Notenorientierung, sondern die Orientierung am einzelnen Menschen und seiner Entwicklung. Wir sind in der Schule kognitiv viel zu viel überlastet und brauchen stattdessen Lernformate, die Kreativität fördern, und eine veränderte Lehrerrolle. Wenn Schülerinnen nicht mehr Konsumenten von Stoff sind, sondern Gestalter ihres eigenen Lernens, dann sind Lehrerinnen nicht mehr diejenigen, die belehren, bewerten und disziplinieren, dann haben sie eine andere Rolle: Sie aktivieren, sie unterstützen, sie begleiten in Prozessen. Das ist eine ganz andere Haltung und ein echter Kulturwandel, der nicht einfach mal mit einem Schnips zu leisten ist, weil er mit innerem Haltungswandel und Loslassen von Mustern verbunden ist.
Ist damit das berühmte „Lernen lernen" als Ziel der Schule gemeint?
Das ist eine Säule. Die Unesco hat schon 1996 aus einer Studie darüber, wie Schule und Bildung aussehen müssen, damit junge Menschen befähigt werden, die Gesellschaft zu transformieren, zusammenzuarbeiten statt in Konkurrenz zu stehen, ein Modell für das Lernen im 21. Jahrhundert formuliert. Das Modell hat vier Säulen. Eine davon ist das Lernen, sich Wissen zu erarbeiten, also Lernen lernen. Die zweite Säule heißt Zusammenleben lernen. Das ist in unserer polarisierten Welt wichtiger denn je. Unser deutsches Schulsystem ist leider immer noch sehr auf Selektion ausgerichtet. Die dritte Säule heißt Handeln lernen. Handeln und Verantwortung übernehmen kannst du nicht aus Büchern oder Arbeitsblättern lernen. Die vierte Säule heißt lernen zu sein, also herauszufinden: Wer bin ich eigentlich? All das ist immer noch unterentwickelt. Wir sind immer noch auf Wissensvermittlung und Noten ausgerichtet.
Schulen brauchen Kulturwandel
Was also muss in der Praxis erfolgen, wenn diese Ziele erreicht werden sollen?
Der Paradigmenwechsel ist beschrieben im Nationalen Aktionsplan Bildung für nachhaltige Entwicklung. Jetzt sind Schulen aber am Limit mit all den Dingen, die sie aufgebrummt kriegen oder zusätzlichen leisten sollen, wie jetzt die Integration von Flüchtlingen oder, den Lehrermangel zu bewältigen. Und jetzt sollen sie in diesen Change und Haltungswandel gehen. Das funktioniert bei den meisten nicht. Unternehmen würden sich dafür externe Begleitung holen, die Change-Prozesse moderieren kann. So etwas brauchen Schulen auch. Gelingen kann das, wenn man sich Musterbrüche überlegt, die helfen, dass man im Alltag nicht so schnell in alte Muster zurückfällt. „Schule im Aufbruch" hat ja Lernformate entwickelt, wo Schüler selbst aktiv sind, zum Beispiel das Lernbüro. So etwas gibt es unter verschiedenen Namen. Was uns in Berlin sehr geholfen hat, war das jahrgangsübergreifende Lernen. Wichtig ist, dass die Schülerinnen dabei durch Lehrer gut gecoacht werden. Ein zweiter Musterbruch ist Lernen im Leben. Nicht das Schulbuch oder Arbeitsheft stellt die Fragen, sondern das Leben. Das heißt, du bekommst zwei Stunden in der Woche geschenkt, suchst dir eine ökologische oder soziale Aufgabe im Gemeinwesen. Schüler kümmern sich um jüngere Kinder oder um Senioren, geben Computerkurse, helfen Jüngeren in sozialen Brennpunkten oder setzen sich in ökologischen Feldern ein. Das gibt es schon viele Jahre im „Schulfach" Verantwortung. Schüler erfahren sich dabei als selbstwirksam: Ich werde gebraucht, ich bin wichtig, ich kann mich einbringen.
Kinder müssen Selbstwirksamkeit, Sinn und Zuversicht erfahren. Das ist die neue Schule.
Was sind die größeren Hürden dabei? Mentale oder bürokratische?
Es ist eine Gemengelage. Ich versuche, einen Metablick zu öffnen: Wie würde Schule aussehen, wenn wir sie heute erfinden würden? Es würde keiner die Schule erfinden, wie wir sie heute haben. Ein Metablick kann sehr helfen, auch für die Eltern. Das andere ist: Es fehlen oft die Bilder für das Neue. Es gelten noch die alten Bilder wie Selektion, Konkurrenz und Ausrichtung auf Noten. Und dann haben wir noch den „Länderkampf". Bildung ist parteipolitisch, vieles gilt für eine Legislaturperiode und wird dann wieder umgeschmissen. Es fehlt die große Vision.
Was halten Sie von den vielbeachteten und -diskutierten Bildungsrankings?
Pisa hat dazu beigetragen, einen Geist von Ökonomisierung, von Konkurrenz und Bestnoten noch stärker ins System zu bringen. Wobei sich die OECD inzwischen umgestellt hat. Wellbeing heißt es im Lernkompass 2030. Schüler werden angesehen als Agents, als Akteure des Wandels und nicht als Konsumenten von Stoff. Es ist alles schon aufgeschrieben, aber bis es an der Basis angekommen ist, dauert es.
„Change und Haltungswandel"
Aber man hat den Eindruck, dass allerorten neue Projekte entstehen und ausprobiert werden. Sehen Sie darin keinen großen Aufbruch?
Viele kleine Dinge können in der Tat die Welt verändern. Doch es kommt darauf an, ob es Add-on-Projekte sind. Und in den Grundzügen bleibt die Schule in alten Mustern verhaftet.
Ist der von Ihnen geforderte „Frei Day" die Lösung?
Wenn Schulen damit konfrontiert sind, die ganze Kultur zu verändern, ist das für viele eine Überforderung. Wir brauchen Brücken, und der „Frei Day" ist eine solche Brücke. Der „Frei Day" sind mindestens vier Stunden in der Woche, an einem Tag strukturell verankert. Das Curriculum sind die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN, die alle sozialen, ökologischen und ökonomischen Themen enthalten. Die konkreten Projektthemen legen die Schüler fest. Dabei kommen nur die zusammen, die sich für dasselbe Thema interessieren, Insektensterben, Armut, Solarenergie oder wie auch immer. Es gibt drei Schritte: Wissen erwerben, handeln, Netzwerke aufbauen. Zuerst eigne ich mir Wissen an, dann suche ich nach Problemen, sei es in Schule oder Kommune, und überlege: Wie könnte eine Lösung aussehen und wie kann ich – im Kleinen – dazu beitragen? In Papieren wie dem Nationalen Aktionsplan BNE oder BNE2030 wird gefordert, Aktions- und Freiräume für das Handeln von Kindern und Jugendlichen zu schaffen. Daraus ist der „Frei Day" geworden, ein Lernformat, das jede Schule umsetzen kann.
Konzepte und Modelle gibt es also hinreichend. Bleibt die Frage nach der Zögerlichkeit bei der Umsetzung. Ist es die Angst vor Veränderung?
Sicher ist fehlender Mut der Erwachsenen ein Faktor, dann hindert die gefühlte Überforderung vieler, was Schule alles leisten soll. Gleichzeitg spüren viele, dass etwas grundsätzlich nicht mehr stimmt in unserem System, doch die Bilder des Neuen fehlen. Wichtig ist, zu verstehen, dass BNE kein Add-on ist, sondern bedeutet, Schule grundsätzlich neu zu denken. Die bildungspolitischen Beschlüsse, der Nationale Aktionsplan, der schon 2017 beschlossen wurde, ist in geschätzt 95 Prozent der Schulen gar nicht bekannt. Es gibt Schulgesetze, die richtig innovativ und eine Steilvorlage für den „Frei Day" sind, aber die Lehrer wissen nichts davon. Es gibt Metastudien, die zeigen, dass 95 Prozent nicht unten angekommen sind. Es wird auch nicht abgefragt, es wird auch nicht mit genügend Geld unterfüttert und in Medien kommt Bildung für nachhaltige Entwicklung nicht zentral vor, dafür viel über Digitalisierung. Digitalisierung ist ein Werkzeug, das hilfreich sein kann, auch für nachhaltige Entwicklung. Aber darüber wird viel zu wenig gesprochen.
Also ein Mangel an Fantasie und Mut zur Umsetzung im bestehenden System?
Ja, und ein weiterer Grund, warum sich Schulen schwertun, ist die Überfrachtung der Lehrpläne mit Stoff. Lehrpläne sind viel zu voll, wir müssen die Lehrpläne entschlacken. Lehrer müssen den Stoff durchnehmen und sollen gleichzeitig den Kopf frei haben, um sich Projekte zu überlegen. Das schaffen die wenigsten.
Netzwerke helfen bei Umsetzung
Im Saarland gibt es eine Rückkehr zu G9 und in diesem Zusammenhang gleich ganz viele Forderungen, was alles noch zusätzlich als Schulfach aufgenommen werden müsste.
Das ist altes Denken in Fächern. G9 ist natürlich besser als G8. Wenn wir es positiv sehen: Wir sind im Aufbruch, wir brauchen aber viel Mut. Wir brauchen Netzwerke, wir brauchen Begleitung für die Schulen, auch die Uni muss sich verändern. Wir müssen also alles gleichzeitig machen. Das stößt an Grenzen. Lehrermangel ist die größte Herausforderung für Kultusminister. In Sachsen-Anhalt werden an den ersten Schulen bereits Inhalte gestrichen, weil keine Lehrer mehr da sind. Solange wir Schule nicht verändern, wollen junge Leute da auch nicht rein. Und wir brauchen multifunktionelle Teams mit Künstlern, Handwerkern und anderen.
Wir geht es nun weiter mit Ihrem „Frei Day"?
Wir versuchen, in den Bundesländern Netzwerke aufzubauen. Wir haben schon ein großes in Nordrhein-Westfalen und Niederdachsen, wir haben das schon erwähnte in Sachsen, in Berlin haben wir auch über 30 Schulen, im Saarland entwickelt sich auch gerade ein Netzwerk, unterstützt vom Kultusministerium. Auch in Schleswig-Holstein ist das Kultusministerium sehr am „Frei Day" interessiert. Im Netzwerk werden Schulen in den ersten beiden Jahren begleitet. Wir wollen bis 2025 ein Drittel aller Schulen, das sind 135.000, im „Frei Day" haben. Das geht natürlich nur mit funktionierenden Netzwerken. Es tut sich eine Menge, aber lange nicht genug. Es gibt junge Familien, die wollen ihre Kinder nicht mehr ins System geben. Dass die dann in Privatschulen oder Schulen in freier Trägerschaft abwandern, geht eigentlich gar nicht. Deshalb müssen wir in den staatlichen Schulen ein paar Quantensprünge hinkriegen. Wir sind auf gutem Weg.