Bei der Polyneuropathie, einer der häufigsten neurologischen Krankheiten, ist das periphere Nervensystem in seiner Funktion gestört. Die Ursachen sind vielfältig, wobei Diabetes und Alkoholmissbrauch für die Hälfte aller Erkrankungen verantwortlich sind.
Als der 77-jährige Schlagerstar Jürgen Drews im Sommer 2022 angekündigt hatte, dass er sich von der Bühne wegen einer Erkrankung an Polyneuropathie verabschieden werde, wurde die deutsche Öffentlichkeit wieder mal auf ein komplexes Leiden aufmerksam gemacht, das ansonsten medial nicht gerade häufig angesprochen wird. Fast zeitgleich wurde bekannt, dass auch der 76-jährige Star-Komponist Ralph Siegel von der gleichen Krankheit betroffen ist. Zu der sich vor einigen Jahren auch der im Alter von 70 Lenzen verstorbene Verlegersohn, Bestseller-Übersetzer, Autor und Schauspieler Harry Rowohlt bekannt hatte, der lange stolz den Ehrentitel „Ambassador of Irish Whiskey" getragen und das Saufen erst nach dem Erhalt der Diagnose Polyneuropathie aufgegeben hatte. Die häufig Trinkkünstler wie Rowohlt zu ereilen pflegt, der dazu selbstironisch kommentiert hatte, dass er das Getränk „an der Leber vorbei direkt ins Nervensystem" fließen gelassen habe.
Womit Rowohlt auch gleich einen direkten Hinweis auf die wahrscheinliche Ursache seiner Erkrankung mitgeliefert hatte. Denn bei der Polyneuropathie (griechisch für „Viel-Nerv-Krankeit") wird das periphere Nervensystem, zu dem alle Nerven des Körpers außerhalb des Gehirns und des Rückenmarks gehören, durch eine Vielzahl von möglichen Ursachen mit Diabetes mellitus und Alkoholmissbrauch an der Spitze in seiner Funktion gestört, was sich vom anfänglichen, meist die Füße betreffenden Kribbeln oder „Ameisenlaufen" über Empfindungsstörungen wie Taubheits- oder Pelzigkeitsgefühlen bis hin zu dauerhaften Schmerzen oder gar Lähmungen vor allem in den Extremitäten symptomatisch bemerkbar macht. Jürgen Drews hatte bekundet, dass es sich bei ihm um eine leichte Form der Polyneuropathie handelt, vermutlich in Anlehnung an die offizielle WHO-Schweregrad-Skala von 0 (mild) bis 4 (lebensbedrohlich): „Das äußert sich in den Nerven. So bin ich oft etwas wackelig auf den Beinen, muss mich mehr konzentrieren, wenn ich lange auf der Bühne gehen soll. Ich habe keine Schmerzen, aber der Körper und das Befinden verändern sich." Bei Ralph Siegel ist die Krankheit offenbar schon etwas weiter fortgeschritten: „Es fing an mit Schmerzen in meinen Füßen. Ich konnte kaum mehr laufen." Grad 2 gilt schon als funktionsstörend, Grad 3 und 4 beinhalten eine starke Beeinträchtigung des täglichen Lebens.
Die Prognose bei Polyneuropathie (PNP) ist relativ niederschmetternd. Weil in der Regel keine Heilung möglich ist. Nur bei ganz schwach ausgeprägten Symptomen und einem frühzeitigen, schnellen Beseitigen der Ursachen besteht die kleine Chance einer Regeneration geschädigter Nervenzellen. In den meisten Fällen ist jedoch wegen der sich schleichend entwickelnden Krankheit keine zur Heilung führende Therapie mehr möglich. Bestehende Funktionseinschränkungen bleiben bestehen, der Krankheitsfortschritt kann jedoch mit diversen Behandlungskonzepten verlangsamt oder bestenfalls sogar je nach Ursache gestoppt werden.
Was die Prävalenz oder die Häufigkeit der Krankheit in der westlichen Gesamtbevölkerung betrifft, so schwanken die Schätzungen relativ stark zwischen einem und neun Prozent, meist wird jedoch von drei bis acht Prozent ausgegangen, das „Deutsche Ärzteblatt" und die Barmer-Krankenversicherung sprachen für Deutschland von fünf bis acht Prozent. Was eine ganz beträchtliche Zahl von Betroffenen bedeutet und die PNP damit laut dem Fachportal springermedizin.de auf eine Stufe mit den wesentlich bekannteren Schlaganfällen hievt: „Die Häufigkeit der Polyneuropathien wird allgemein unterschätzt", so springermedizin.de. Wobei auffällig ist, dass die Krankheit vor allem im fortgeschrittenen Alter gehäuft auftritt. Eine große Metaanalyse aus den Niederlanden ergab für die Gesamtbevölkerung eine Prävalenz von einem Prozent, bei den über 55-Jährigen eine Krankheitshäufigkeit von drei Prozent und bei den noch Älteren einen Anstieg auf sieben Prozent.
Drei Prozent aller über 55-Jährigen leiden laut den Ergebnissen einer Metaanalyse aus den Niederlanden an Polyneuropathie
„Die Polyneuropathie (PNP) ist vorwiegend eine Erkrankung des alten Menschen. In der Diagnostik müssen die altersspezifischen Veränderungen des peripheren Nervensystems, die den klinischen Befunden bei Neuropathien ähneln können, berücksichtigt werden", so das Fazit von springermedizin.de. Die Behandlung von betroffenen Senioren wird dadurch erschwert, dass bei ihnen oft die Ursache der PNP nicht ermittelt werden kann, was im Fachjargon als „idiopathisch" bezeichnet wird: „Während man bei jüngeren Patienten mit einer Polyneuropathie in 90 Prozent der Fälle eine spezifische Ursache findet", so die „Österreichische Ärztezeitung", „ist sie bei den über 80-Jährigen bei bis zu 40 Prozent idiopathisch."
Die für eine optimale Therapie nötige Ursachen-Eingrenzung kann leicht zu einer Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen werden – und bleibt dennoch in 20 bis 30 Prozent der Fälle erfolglos. Wenn die die Nerven schädigende Ursache unerkannt bleibt, kann die Krankheit weiter fortschreiten, und die Chance auf Besserung der Beschwerden bleibt ungenutzt. Mittlerweile sind mehr als 200 Risikofaktoren für die Entstehung einer PNP bekannt. Wobei Diabetes mellitus in beiden Typen 1 und 2 als häufigste Ursache für die Nervenschädigung gilt (sogenannte diabetische Neuropathie) und PNP bei jedem dritten Zuckerkrankheit-Patienten nachgewiesen werden kann. Exzessiver Alkoholkonsum ist der zweithäufigste Auslöser einer PNP (sogenannte alkoholische Polyneuropathie), wobei angenommen wird, dass bestimmte Alkoholabbauprodukte die Nerven direkt schädigen können. Zudem ist Alkoholmissbrauch häufig auch mit einer Mangelernährung verbunden, wobei vor allem eine zu geringe Menge des für die Funktion des Nervensystems eminent wichtigen Vitamin B12 Nervenstörungen zusätzlich begünstigen kann. Ein Sonderfall stellt die sogenannte Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie als klassische Nebenwirkung bei der Krebsbehandlung dar. Aber auch Vergiftungen mit Toxinen oder Schwermetallen, Autoimmunkrankheiten, Infektionen, Vitaminmangel, Durchblutungs- oder Stoffwechselstörungen sowie in seltenen Fällen erblich-genetische Faktoren finden sich auf der langen Liste möglicher Ursachen.
Bei einer PNP können unterschiedliche Teile der Nervenzellen geschädigt werden. Jede Nervenzelle setzt sich aus einem Zellkörper und einem wie ein elektrisches Kabel funktionierenden Nervenfortsatz namens Axon zusammen, das zur optimalen Signalweiterleitung mit einer als Myelinschicht bezeichneten Isolierummantelung umschlossen ist. Wenn diese Isolierschicht geschädigt ist, wird von einer sogenannten demyelinisierenden Polyneuropathie gesprochen. Wenn das Axon selbst betroffen ist, sind die daraus resultierenden Beschwerden meist gravierender, man spricht dann von einer sogenannten axonalen Polyneuropathie. Zusätzlich werden je nach Ausprägung und Körperregion vier verschiedene PNP-Formen unterschieden. Bei den „symmetrischen Polyneuropathien" sind beide Körperhälften betroffen, bei den „asymmetrischen Polyneuropathien" beschränkt sich die Krankheit auf eine Körperseite, bei den „distalen Polyneuropathien" tauchen Nervenschädigungen hauptsächlich in weit von der Körpermitte entfernten Regionen wie den Extremitäten auf, bei den eher seltenen „proximalen Polyneuropathien" werden sogar rumpfnahe Körperteile in Mitleidenschaft gezogen.
Neben dieser Einteilung nach Ausprägungen gibt es für die PNP noch weitere Kategorisierungsmöglichkeiten, von denen die Unterscheidung nach den jeweils betroffenen Nerven am gebräuchlichsten ist. Nerven, die von der Haut zum Gehirn führen, werden „sensible Nerven" oder auch „Empfindungsnerven" genannt. Sind sie gestört, können Informationen über Berührungsreize, Druck-, Temperatur- oder Schmerzempfinden nicht mehr exakt ans Gehirn weitergeleitet werden. Typische sich daraus ergebende Krankheitssymptome sind Kribbeln, Pelzigkeits- oder Taubheitsgefühl, Gangunsicherheiten oder Verlust des Schmerzempfindens bei Wunden. Die „motorischen Nerven" sind für die Muskelsteuerung zuständig. Bei einer Störung können die Signale vom Gehirn nicht mehr richtig an die Muskeln lanciert werden, was zu Lähmungen, Krämpfen, unwillkürlichen Kontraktionen oder schlimmstenfalls zu Muskelschwund führen kann. Sind die für die Versorgung der verschiedenen Organe zuständigen „autonomen Nerven" betroffen, die nicht willentlich gesteuert werden können, kann dies zu großen gesundheitlichen Komplikationen führen, von Herzrasen oder Magenlähmung über Schwindel oder Wassereinlagerungen bis hin zu Erektionsstörungen oder Beeinträchtigungen der Blasenfunktion. Laut Angaben des „Deutschen Ärzteblattes" geht etwa die Hälfte aller PNP mit Schmerzen einher. Wobei einerseits wegen der Nervenschädigungen ständig falsche Schmerzimpulse ohne eigentliche Grundlage ans Gehirn weitergeleitet werden und andererseits die Mechanismen der Schmerzhemmung ausgehebelt sein können.
Eine beliebte Alternative zur Medikamenten-Therapie ist die Reizstrom-Methode
Für die Diagnose einer PNP wird der Neurologe zunächst ein ausführliches Untersuchungsgespräch führen, um aus der Krankengeschichte erste Rückschlüsse auf eine etwaige Polyneuropathie gewinnen zu können. Viele Ärzte verwenden dafür auch einen standardisierten Fragebogen. Danach erfolgt die körperliche Untersuchung, bei der zunächst unter anderem Sensibilität und Muskelreflexe überprüft werden. Im Falle eines daraus resultierenden PNP-Verdachts stehen zur Sicherung der Diagnose eine ganze Vielzahl weiterer Untersuchungsmöglichkeiten zur Verfügung: Elektroneurografie (zur Messung der Nervenleitgeschwindigkeit), Elektromyografie (zur Prüfung der elektrischen Muskelaktivität), quantitativ-sensorische Testung (aufwändiger Gefühlstest auf der Haut zum Erkennen des Krankheitsbildes), Haut- oder Nervenbiopsie (auf Basis einer Hautgewebe-Probe mit Nervengewebe), Blutuntersuchungen, EKG (zur Überprüfung etwaiger Schädigungen der autonomen Nervenfasern des Herzens), Lumbalpunktion (Entnahme und Untersuchung von Nervenwasser), genetische Untersuchungen, Röntgen-, Ultraschall- oder MRT-Untersuchungen.
Für eine wirksame Therapie ist die Ermittlung der Krankheitsursache das A und O. Bei Diabetes ist die optimale Einstellung des Blutzuckerspiegels extrem wichtig. Bei Alkohol sollte sofortig Abstinenz selbstverständlich sein, bei einer Mangelernährung die Umstellung des Speiseplans, bei Giftstoffen oder Medikamenten sollten diese möglichst vermieden werden. Falls die Ursache nicht ermittelt werden kann oder die Schmerzen zu groß sein sollten, können verschiedene Medikamente dem Patienten Linderung verschaffen. Beispielsweise Antikonvulsiva (Präparate zur Dämpfung der Nerven-Erregbarkeit), Antidepressiva (stimmungsaufhellend und schmerzlindernd), Opioide (starke Schmerzmittel), Lidocain-Pflaster (Lokalanästhetikum), Capsaicin-Pflaster (mit Wirkstoff aus der Chilischote) oder Alpha-Liponsäure (vor allem bei Diabetikern als Schmerzmittel geeignet). Manche Patienten machen auch gute Erfahrungen mit der Reizstrommethode TENS, der Hochtontherapie oder medizinischen Bädern. Auch eine Physiotherapie kann speziell bei Muskelschwäche oder Gleichgewichtsstörungen hilfreich sein. Zur besseren Schmerzbewältigung kann auch eine Psychotherapie sinnvoll sein. Manche Patienten schwören aber auch auf Naturheilverfahren oder Akupunktur zur Linderung von Schmerzen.