Die Corona-Herbstwelle ist ebenso schnell abgeebbt, wie sie sich aufgebaut hat. Grund zur Entwarnung für den Winter gibt es nicht. Im Gegenteil: Neue Varianten sorgen für neue Besorgnis.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach hatte vor Wochen einen Wunsch geäußert: Angesichts all der anderen Krisen möge jetzt im Herbst nicht auch noch Corona wieder die Schlagzeilen bestimmen.
Es war die Zeit, in der die erste Herbstwelle mit kräftigem Anstieg der Infektionszahlen das Land durchzog und eine intensive Debatte auslöste, ob man nicht auf die Instrumente des neuen Infektionsschutzgesetzes zurückgreifen müsste, um die weitere Ausbreitung einzudämmen.
Es blieb bei – teilweise eindringlichsten – Appellen. Inzwischen befinden sich die Zahlen im Rückgang. Der Instrumentenkasten konnte vorerst ungeöffnet bleiben. Ausweitungen von Maskenpflicht und anderen bekannten Maßnahmen blieben aus. Mitte Oktober kletterte die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz stark auf 800 zu, Anfang November lag die Zahl bereits wieder deutlich unter 300. Im Saarland, das in dieser Phase das am stärksten betroffene Bundesland war, sank die Zahl von gut 1.500 auf nur noch knapp über Bundesdurchschnitt.
Trügerische Entspannung
Ob die Appelle gefruchtet und freiwillige Vorsichtsmaßnahmen den Rückgang eingeläutet haben, kann nur spekuliert werden. Valide Untersuchungen liegen bislang nicht vor. Und der bloße tägliche Eindruck vermittelte auch nicht zwingend, dass deutlich mehr Menschen mit Maske durchs Leben liefen. Hat sich die Herbstwelle also wie die heftige Sommerwelle von selbst auf den Rückzug gemacht und waren folglich alle Warnungen übertrieben?
Wie lässt sich erklären, dass sich einerseits die Omikron-Variante BA.5 als ziemlich ansteckend erwiesen hat, die Infektionszahlen aber doch vergleichsweise schnell zurückgegangen sind?
Dass die Testzahlen zurückgegangen sind und folglich die Zahl entdeckter und gemeldeter Infektionen geringer ausfällt, dürfte kaum ausschlaggebend sein. Deutlich rückläufige Testzahlen gab es schon vor der Herbstwelle, nachdem die kostenfreien Bürgertests ausgelaufen waren. Und die bedingte Aussagefähigkeit der Inzidenzzahlen ist ebenfalls kein neues Phänomen. Experten sagen, der Rückgang der Zahlen sei echt, also nicht beispielsweise durch verändertes Testverhalten verzerrt.
Als Beleg dafür wird die sogenannte Positivquote angeführt, also der Anteil positiver Ergebnisse bei Testungen. Und die war in den letzten Tagen rückläufig. Ebenso der R-Wert als Kennziffer für die Verbreitung, der angibt, wie viele andere Menschen ein Infizierter ansteckt. Liegt der Wert über 1, verbreitet sich die Infektion weiter. Dieser Wert liegt nun nach Angaben des Robert Koch-Instituts seit dem 10. Oktober wieder unter 1 – die Verbreitung ist folglich rückläufig.
Zum Abebben hat vermutlich ein Zusammenspiel einer Reihe von Umständen beigetragen. Zum einen ein ausgesprochen goldener Oktober mit tageweise fast sommerlichen Temperaturen, die zum Verweilen im Freien eingeladen haben. Dazu Herbstferien. Wobei der Hinweis auf die Ferienzeit immer mit dem protestierenden Einwand begleitet wird, das würde unterschwellig die Schulen als mögliche Infektionsherde darstellen. Nun waren das aber alles auch Bedingungen in den Sommerwochen, was die erste schwere Sommerwelle nicht verhindert hat.
Vorstellbar ist nach Experteneinschätzungen auch eine Folge der zuletzt hohen Ansteckungsraten, die, wie die „Zeit" schreibt, zu einer Art vorübergehender Herdenimmunität geführt habe. Wer genesen ist, hat zunächst eine gewisse Immunität. Die wirkt allerdings offenbar nur bedingt. Dass Menschen sich nach vergleichsweise kurzer Zeit ein weiteres Mal infizieren, ist keine Seltenheit. Aber auch Geimpfte können sich bekanntlich infizieren. Anfang des Jahres wurde der Status von „geimpft" und „genesen" auf europäischer wie auf deutscher Ebene angepasst, was auch relevant für Zugangs- und Reiseregelungen war. Demnach war der Schutzstatus „vollständig geimpft" nach zwei Impfungen für neun Monate gültig, für Genesene galt es für drei Monate. Ein gravierender Unterschied, der signalisiert, dass es eben doch einen Unterschied bei der Immunitätswirkung gibt zwischen geimpft und genesen.
Neue „Variante von Interesse": Auf BA.5 folgt BQ.1.1
Grundsätzlich haben beide vieles gemeinsam. Impfung und Infektion regen das Immunsystem an, den Angreifer abzuwehren. Bei der Impfung geschieht das gezielt und kontrolliert, bei einer Infektion mit einer breiteren Streuung. Die Immunantwort bei einer Infektion kann daher zunächst auch etwas breiter ausfallen, hält aber nicht sehr lange an. „Der Abfall der Immunantwort beginnt nach drei Monaten, schon nach sechs Monaten ist der Großteil der schützenden Antikörper wieder weg", so Martina Prelog von der Deutschen Gesellschaft für Immunologie.
Weil die Immunabwehr mit einem neuen Kontakt sozusagen lernt, empfehlen Virologen deshalb auch Genesenen eine Impfung. Denn: „Unbestritten ist, dass die Covid-19 Impfung nach durchgemachter Sars-CoV-2 Infektion zu einem starken Anstieg der antiviralen Immunantwort führt", wie es in einer Stellungnahme der Gesellschaft der Virologen hieß.
Es gibt einen weiteren Grund für den Unterschied der Reaktionen auf Infektion und Impfung, der für eine Impfung zur Stärkung der Immunabwehr spricht. Ein Virus versucht, die Immunabwehr zu sabotieren und zu schädigen, was sich in der Folge auch auf die Abwehr gegen andere Infektionskrankheiten auswirken kann. Genau das sei aber bei Impfungen nicht zu erwarten, sagt Christian Drosten, Institutsdirektor an der Charité in Berlin, weil der Körper bei einer Impfung nicht mit dem ganzen Virus in Kontakt komme.
Die Annahme, dass die aktuelle Infektionsentwicklung bereits darauf hinweisen würde, dass die lange befürchtete Herbstwelle bereits ihren Höhepunkt überschritten hätte, dürfte ziemlich verfrüht sein. Zum einen, weil die kritische Jahreszeit wie beschrieben noch gar nicht wirklich angefangen hat. Zum anderen aber auch, weil sich bereits jetzt andeutet, dass das Virus keineswegs verschwinden wird. Im Gegenteil.
Nach den ganzen griechischen Buchstaben für die verschiedenen Varianten haben wir bereits mit BA.5 gelernt, für die neuen Entwicklungen Zahlen- und Buchstabenkombinationen zu verwenden. Die besonders ansteckende Omikron-Mutation wartet mit neuen Unterformen auf, die von Experten mit wachsender Sorge beobachtet werden: BQ.1.1 und XBB.
Epidemiologen gehen davon aus, dass die Mutation für steigende Zahlen in den USA verantwortlich sein könnte. Das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten spricht hinsichtlich BQ.1.1 von einer „Variante von Interesse", die „unter Beobachtung" stehe. In Frankreich soll BQ.1.1 bereits besonders stark verbreitet sein, mit einem Anteil von mehr als 30 Prozent (Stand: Ende Oktober). „Die Länder sollten wachsam bleiben und auf Signale für Auftreten und Ausbreitung von BQ.1.1 achten", mahnt die EU-Gesundheitsbehörde: In Deutschland ist noch keine derart weite Verbreitung registriert worden, allerdings ist es die Variante, die auch hier derzeit deutlich am stärksten zunimmt und damit das Potenzial hat, im Verlauf der nächsten Wochen für eine weitere heftige Welle zu sorgen.