Die Entwicklung der Corona-Fallzahlen steht halbwegs auf Normalisierung. Möglicherweise aber nur vorübergehend. Neue Virusvarianten greifen um sich, und Impfungen dümpeln vor sich hin.
Seit der ersten großen Herbstwelle im Oktober hat sich die Lage zusehends entspannt. Die gemeldeten Inzidenzzahlen sind wieder in Bereiche gesunken, die offensichtlich kaum noch größere Sorgen bereiten. Entsprechend steht es um die Impfbereitschaft. Die war während der Herbstwelle signifikant gestiegen, zumindest, was Booster-Impfungen, insbesondere eine zweite Auffrischungsimpfung betrifft. Ansonsten hat sich in dieser Beziehung reichlich wenig getan. Ähnliches wird auch von den europäischen Nachbarn gemeldet. In der Schweiz ist vor einem Monat eine Impf-Werbekampagne gestartet worden, ähnlich wie sie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach in Gang gesetzt hat. Das Ergebnis nach den ersten Wochen ist überschaubar. Lediglich sechs Prozent der Bevölkerung haben sich für eine zweite Booster-Impfung entschieden, das Schweizer Bundesamt für Gesundheit spricht von einer „verhaltenen Nachfrage“. Der Grund dafür scheint ähnlich wie auch andernorts: Die Impfmüdigkeit dürfte schlicht damit zusammenhängen, dass Corona in gewisser Weise seinen Schrecken verloren hat. '
Zu einem gewissen Grad könnte einer der Gründe dafür im Zusammenhang mit den bisherigen Impfkampagnen stehen. Ein großer Teil der Bevölkerung, in Deutschland 76,3 Prozent (Stand Anfang November), hat eine Grundimmunisierung, 62,4 Prozent eine erste Auffrischungsimpfung. Aus Sicht von Experten sollten die Zahlen zwar deutlich höher sein, aber immerhin führt das dazu, dass viele zumindest einen gewissen Schutz vor schweren Verläufen haben. Selbst bei hohen Inzidenzzahlen gab es nicht mehr die dramatischen Meldungen wie zu Beginn der Pandemie. Das spricht zwar eigentlich für Impfungen, aber das Verhalten der Menschen ist vielleicht ganz ähnlich wie bei Grippeimpfungen. Die werden zwar auch immer wieder intensiv angeraten, auch von vielen wahrgenommen, aber selbst bei Impfwilligen führt eine ganz normale menschliche Trägheit dazu, dass man es dann eben doch nicht schafft, kurz mal beim Hausarzt anzuhalten, wenn es sonst keinen besonderen Anlass gibt.
Die Frage nach Gründen für eine Impfmüdigkeit beschäftigt Forscher und Experten nicht erst seit der Corona-Pandemie. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte schon früher Impfmüdigkeit als eine der zehn größten globalen Gesundheitsrisiken eingestuft. Millionen von Todesfällen weltweit ließen sich demnach durch Impfungen verhindern.
Impfmüdigkeit als Gesundheitsrisiko
Schon deutlich vor Corona beschäftigten sich 1998 in Monaco Experten aus unterschiedlichen Bereichen auf der International Conference on Public Understanding of Vaccination mit Ursachen für zunehmende Skepsis gegenüber Impfungen aller Art. Anlass war, dass in Teilen Europas, in den USA sowie Japan festzustellen war, dass Eltern zunehmend zurückhaltender für Impfungen ihrer Kinder wurden. Die Nutzen-Risiko-Abschätzung habe sich verschoben, hieß es. Das bedeutet, in der Abwägung zwischen dem unbestrittenen Nutzen einer Impfung und einem verbliebenen Risiko von Nebenwirkungen wurden diese – auch wenn sie sehr selten und zumeist vergleichsweise harmlos sind – immer stärker betont. Die Schlussfolgerung war daher, auf mehr Aufklärung zu setzen. Auch dabei zeigten sich aber Unterschiede, je nachdem, woher die Informationen kamen. Beratungen durch Hausärzte wurden als ziemlich vertrauenswürdig eingestuft, jedenfalls vertrauenswürdiger als Informationen aus anderen Quellen.
Vorausgesetzt, diese Erkenntnis sei bis heute gültig und auf die aktuelle Situation übertragbar, wäre das ein plausibler Hinweis, warum Plakatwerbung und weitere Kampagnen nicht gerade den großen Run auf Impfzentren ausgelöst haben, gleichzeitig aber Auffrischungsimpfungen, die über Hausärzte erfolgten, sehr wohl angenommen wurden.
Impfablehnungen sind aber sicher lich nicht monokausal, das heißt: Es gibt vielfältige Gründe.
Nicht erst, seit die WHO die „vaccine hesitancy“, also die Impfmüdigkeit, als Gesundheitsrisiko einstufte, versuchen internationale Studien der Frage nach den Gründen nachzugehen. Notorische Impfgegner, so die übereinstimmende Erkenntnis, sind nicht durch Argumente zu überzeugen, sie ignorieren wissenschaftliche Evidenzen. „Interventionen zur Veränderung der Einstellung zum Impfen werden daher mit hoher Wahrscheinlichkeit bei Impfgegnern nicht die gewünschten Effekte erzielen“, hieß es deshalb bereits 2019 in einem Beitrag der medizinischen Fachzeitschrift „Trillium“. Anders sieht es bei Impfskeptikern aus, also Menschen, die sich zumindest mit dem Thema auseinandersetzen, bei denen aber Bedenken dazu führen, dass sie sich nicht impfen lassen. Zusätzlich spielen dabei laut Studien neben der grundsätzlichen Einstellung zum Impfen weitere Faktoren eine Rolle wie beispielsweise die Zugänglichkeit und das Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft.
Für beides ist in der Corona-Zeit einiges geschehen. Impfkampagnen wurden im Laufe der Zeit verstärkt, sozusagen barrierefrei zu den Menschen gebracht, etwa durch Impfangebote vor Einkaufszentren oder gezielte mobile Quartiersangebote. Und an Appellen hinsichtlich gesellschaftlicher Verantwortung hat es auch nicht gemangelt.
Letztlich bleiben die Gründe für Menschen, die sich nach wie vor nicht impfen lassen – ob gegen Corona, Grippe oder andere Viren –, die aber dennoch keine notorischen Impfgegner sind, weiter im Unklaren, vermutlich auch, weil sie individuell diffus sein mögen. Ob insofern große Werbekampagnen viel ausrichten können, bleibt fraglich.
Der Gewöhnungseffekt dürfte sich durch den Verlauf der Sommerwelle und der ersten Herbstwelle noch verstärkt haben. Nach sprunghaft gestiegenen Zahlen bis Mitte Oktober hat sich im November die Zahl gemeldeter Infizierter wieder auf ein Normalniveau zurückentwickelt, soweit registrierte Inzidenzzahlen von unter 300 als neue Normalität empfunden werden. Auch unter Experten wird darüber diskutiert, ob inzwischen eine weitere Phase erreicht ist. Der Chef der Ständigen Impfkommission, Thomas Mertens, vertrat bereits Ende Oktober die Meinung, die Pandemie habe sich nun in eine Endemie entwickelt. Von einer Endemie spricht man, wenn bei einer Infektionskrankheit dauerhaft erhöhte Fallzahlen zu verzeichnen sind, und das über einen längeren Zeitraum auf etwa gleichbleibendem Niveau. Insofern betont Mertens folgerichtig, dass uns das Coronavirus über Generationen erhalten bleiben wird.
Pandemie oder Endemie
Für Mertens bleibt deshalb das Tragen einer Maske auch ohne Verpflichtung dringend empfehlenswert, zumal das auch vor anderen Infektionskrankheiten wie Grippe schützt. Vor allem empfiehlt er aber weiterhin Impfungen, für Risikogruppen idealerweise mit regelmäßiger Auffrischung. Das Virus selbst macht jedenfalls keine Anstalten zu verschwinden, im Gegenteil: Derzeit greifen, wie von Experten seit Wochen erwartet, die neuen Varianten BQ.1 und BQ.1.1 um sich. In Frankreich sind sie bereits die dominierenden Varianten, in Deutschland wird erwartet, dass es bis Ende des Monats auch so sein dürfte. Die Variante verbreitet sich zwar rasend schnell, die Krankheitsverläufe sind aber in der Regel nicht besonders schwerwiegend.
Einige Bundesländer wollen deshalb die Isolationspflicht abschaffen, was wiederum auf Kritik der Deutschen Stiftung Patientensicherheit sowie von Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD) selbst gestoßen ist. Das „kommt zur Unzeit“ und könne zum vielzitierten Flickenteppich unterschiedlicher Regelungen in den Ländern führen. Wobei der ewige Mahner Lauterbach einmal mehr sagte, dass das Land vor einer schweren Winterwelle stehe. Aussagekräftiger hinsichtlich der Auswirkungen ist dann vielleicht nicht die Veröffentlichung statistischer Zahlen, sondern die Realität der Ausfälle quer durchs Land in verschiedensten Bereichen, die durch krankheitsbedingte Fehlzeiten verursacht werden, von der Bahn bis zum kleinen Laden.