Gut ein Jahr nach seiner Silbermedaille bei den Olympischen Spielen in Tokio konnte Lukas Dauser auch bei der Turn-WM in Liverpool erneut Silber gewinnen und damit seine weltweite Ausnahmestellung an seinem Spezialgerät Barren hinter dem chinesischen Überflieger Zou Jingyuan demonstrieren.
Es ist fraglos als eine außergewöhnliche Leistung einzustufen, wenn man sich am Barren als bester Kunstturner der Welt nur einem gleichsam Außerirdischen geschlagen geben muss. Daher durfte sich das Aushängeschild des DTB Lukas Dauser völlig zu Recht ausgelassen über seine beiden sensationellen Silbermedaillen freuen, die er an seinem Spezialgerät innerhalb eines guten Jahres bei den Olympischen Spielen in Tokio im August 2021 und im November 2022 bei der WM in Liverpool erringen konnte.
Dass er sich im August 2022 zwischen diesen sportlichen Topevents ausgerechnet in der von ihm zur Heimatstadt deklarierten Metropole München (Dauser wurde in der rund 35 Kilometer entfernten Kreisstadt Ebersberg geboren) einen schweren Patzer geleistet hatte, hatte ihn kurzzeitig schwer genervt. Letztlich hat ihn dieser Fehler bei der im Rahmen der European Championships ausgetragenen Kunstturn-EM aber nicht aus der Erfolgsspur geworfen.
Auch wenn ein Sieg an der Isar eigentlich schon Formsache gewesen wäre, weil dort der chinesische Barren-Dominator der vergangenen Jahre, Zou Jingyuan (Jahrgang 1998), nun einmal nicht startberechtigt war. Eigentlich hätte Lukas Dauser nur seine bewährte Übung fehlerlos abliefern müssen, die er erstmals im Jahr 2016 zusammengestellt und an deren Perfektionierung er in endlosen Trainingsstunden fast fünf Jahre lang gearbeitet hatte. Doch eine kleine Unaufmerksamkeit zwang ihn in München zu einem vorzeitigen Abgang vom Gerät.
„Das ist das Größte für mich“
Ein Jahr zuvor war bei den Olympischen Spielen in Tokio mit seiner Übung hingegen alles perfekt und rund gelaufen. Den Schwierigkeitsgrad hatte er im Vorfeld des Nippon-Highlights im Laufe des Jahres 2021 zwischen der Europameisterschaft, bei der er Bronze am Barren gewann, und dem Titelgewinn an seinem Lieblingsgerät bei den Deutschen Meisterschaften noch um einige Zehntelpunkte auf 6,8 hochgeschraubt (Barren-Silber hatte er zuvor bei der EM 2017 gewonnen). Damit hatte er die vermeintlich zweitschwerste Übung der Welt komponiert, nur dem Chinesen Zou Jingyuan trauten die meisten Experten einen Schwierigkeitsgrad von 6,9 oder noch höher zu. In Tokio hatte überraschenderweise der Türke Ferhat Arican eine noch schwerere Übung als der chinesische Topfavorit gezeigt. Wegen Mängeln in der Ausführung hatte dieser aber deutliche Punktabzüge erhalten und konnte daher nur den zweiten Platz hinter Zou Jingyuan belegen, der eine mit stolzen 16,233 Punkten belohnte Performance abgeliefert hatte. Somit musste Dauser als letzter der acht Finalisten ans Gerät. Ein Pokern mit einer kurzfristigen Umstellung der Übung, um den Chinesen im Kampf um Gold zu attackieren, kam für Dauser nicht infrage: „Ich werde vor dem Wettkampf wissen, welche Übung ich turne, und die dann turnen und nicht noch während des Wettkampfes mir einen Kopf machen, was ich dann am Ende turne.“
Statt eines risikoreichen Vabanque-Spiels entschied er sich wie schon in der Qualifikation für den Schwierigkeitswert 6,7 und konnte damit abzugsfrei mit 15,700 Punkten die Silbermedaille gewinnen. „Dass ich dieses Ding mit nach Hause nehmen darf, das ist das Größte für mich auf dieser Welt“, so Dauser in frenetischer Jubelstimmung. Womit Dauser an seinem Lieblingsgerät in die Fußstapfen seines Kollegen Marcel Nguyen getreten war, der 2012 bei Olympia in London für den DTB ebenfalls Barren-Silber holen konnte. „Das Coole am Barren ist“, so Dauser, „es sind mal relativ schnelle Bewegungen, Knallerbewegungen, aber dann gibt es auch wieder so eine kleine Halteposition im Handstand, wo der Zuschauer oder auch der Turner mal kurz durchatmen kann, und dann geht es wieder relativ rasant weiter.“
Der Rückstand von mehr als 0,5 Punkten zu seinem chinesischen Hauptkonkurrenten hätte viele Kollegen womöglich entmutigt. Doch erstens hat jeder Wettkampf seine eigenen Gesetze, und zweitens sieht sich Dauser noch lange nicht am Ende seiner Möglichkeiten, wie er den Reportern nach dem WM-Finale von Liverpool im November 2022 mitteilen sollte: „Das ist nicht alles, was ich in der Tasche habe. Ich habe noch einige andere Übungsteile, die den Schwierigkeitsgrad erhöhen können, wenn ich sie einbaue.“ Was wohl kaum anders denn als eine ganz offensive Kampfansage an Zou Jingyuan zu verstehen war. Dass sich Dauser nicht dauerhaft mit dem zweiten Platz begnügen möchte, deutete er denn auch gleich in Liverpool an, als er erstmals in einem Wettbewerb den Schwierigkeitsgrad 6,9 gewählt hatte. „Das ist das erste Mal, dass ich diese Übung mit dem Schwierigkeitsgrad 6,9 geturnt habe“, so Dauser, „Zuerst wollte ich mich nur an den ursprünglichen Plan halten, den Schwierigkeitsgrad 6,5 zu verwenden und perfekt zu turnen. Aber ich entschied mich, die schwierigere Übung zu turnen, um mich selbst zu fordern. Man hat gesehen, dass ich ein bisschen gehetzt und wackelig war, es war ein bisschen Druck da. Aber ich bin mit meiner Leistung zufrieden.“ Das Wackeln beschränkte sich allerdings auf die allerersten Sekunden, danach war die Übung tadellos samt gestandenem Abgang, weshalb sich Dauser, der sich längst zum beständigsten Mitglied des deutschen Teams gekämpft und als Leader für die größtenteils jüngeren Kollegen auch eine Vorbild-Rolle übernommen hat, zunächst einmal mit 15,50 Punkten an die Spitze des WM-Tableaus setzen konnte.
Einzige Medaille für Deutschland
Doch dann kam Zou Jingyuan, der mit dem Schwierigkeitswert seiner Übung alle bislang gekannten Dimensionen pulverisierte und mit seinen 16.166 Punkten verdientermaßen WM-Gold errang. Lukas Dausers Leistung wurde mit der Silbermedaille belohnt, dem einzigen Edelmetall des DTB bei der WM 2022. Dauser fand dabei nur lobende Worte für seinen chinesischen Konkurrenten: „Der ist einfach Wahnsinn, der Typ. Man muss schon sagen, er hat ganz verdient gewonnen. Es ist für mich ein bisschen bitter, dass er genau zu der Zeit gut ist, in der ich auch gut bin. Aber alles kann passieren. Ich warte jetzt auf meine nächste Chance, einen Platz weiter oben stehen zu können.“ Der philippinische Bronzemedaillen-Gewinner Carlos Yulo war regelrecht geschockt von der sportlichen Ausnahmeleistung des chinesischen Siegers: „Mein Trainer und ich konnten nichts sagen, wir waren sprachlos. Er ist kein Mensch. Wie er am Barren turnt, da kann ihm keiner das Wasser reichen. Er ist der Einzige, der so etwas kann. Für mich ist er wie ein Gott.“
Fraglos ein stark übertriebenes Statement, weil Dauser und Zou Jingyuan tatsächlich leistungsmäßig gar nicht so weit auseinanderliegen. Beide sind stilistische Ästheten am Barren. Wobei der Deutsche seine Stärken bei perfekten Handstand- und Griffwechseln hat, in einer ruhigen, senkrechten Linie des Körpers, der sich dann in einem perfekten rechten Winkel zum Holmen präsentiert. Das beherrscht der Chinese allerdings genauso meisterhaft, darüber hinaus baut er aber auch noch verblüffend komplizierte Flugeinlagen in seine Übung ein, wodurch diese eine zusätzliche Portion Dynamik bekommt. Genau an dieser Stelle könnte Lukas Dauser künftig nachlegen.
Nach den Olympischen Spielen hatte sich Dauser, der sich im Sinne des vom DTB nach wie vor priorisierten Mannschaftswettbewerbs über die Jahre hinweg auch in den übrigen fünf Disziplinen deutlich verbessert hat, wieder mal eine Verletzung zugezogen. Diese hatte ihn in der Vorbereitung auf EM und WM um einige Wochen zurückgeworfen. Für den Sportsoldaten Dauser nichts Neues, schließlich stand seine Karriere schon früher mal ernsthaft auf der Kippe. 2017 hatte er nämlich im Rahmen des Deutschen Turnfestes in Berlin beim Abgang vom Reck einen komplizierten Kreuzbandriss erlitten. Er kämpfte sich zurück und konnte nach dem 19. Platz bei seinem Olympia-Debüt in Rio de Janeiro 2016 bei den Weltmeisterschaften 2018 und 2019 jeweils das Barren-Finale erreichen, wo er sich allerdings beide Male mit dem achten und damit letzten Platz zufriedengeben musste. Seine spätere Leistungsexplosion führte Dauser, der die Grundlagen seines Sports bei Kurt Szilier vom TSV Unterhaching erlernt hat und mit 18 Jahren nach Berlin zu Sebastian Faust und wenig später dort zu Robert Hirsch gewechselt war, auch auf seinen Umzug im Sommer 2020 von der Spree nach Halle zurück. Dort hatte er sich unter die Obhut von Coach Hubert Brylok in einer gemeinsamen Trainingsgruppe mit seinen Nationalmannschaftskollegen Nick Klessing und Nils Dunkel begeben. „Ich suchte einen neuen Anstoß, neuen Input“, so Dauser, „in Berlin war die Situation ein bisschen eingeschlafen.“ Ein medaillenträchtiger Mehrkämpfer wird Dauser wohl nie werden können, aber natürlich möchte er dazu beitragen, dass das deutsche Männerteam künftig wieder etwas besser abschneidet als zuletzt mit dem neunten Platz bei der WM in Liverpool 2022. Im Mehrkampf-Einzelfinale hatte sich Dauser dort mit dem elften Platz schon mal ein gutes Gefühl für das folgende Barren-Finale geholt.