Die Füchse Berlin haben ihre Zurückhaltung längst über Bord geworfen und sprechen offen von der Meisterschaft als Saisonziel. Der Sieg gegen einen direkten Konkurrenten bewies, dass dem Club der große Wurf gelingen kann.
Blockbildung spielt auch im Handball eine große Rolle. Wer im Verein miteinander spielt, versteht sich auf dem Parkett in der Regel auch in der Nationalmannschaft nahezu blind. Doch Paul Drux wird bei der Weltmeisterschaft im Januar in Polen und Schweden als Berliner Einzelkämpfer unterwegs sein. Er ist der einzige deutsche Profi der Füchse, den Bundestrainer Alfreð Gíslason in seinen vorläufigen, 35-köpfigen Kader berufen hat. Eigentlich war auch ein Platz für Fabian Wiede reserviert gewesen, doch der Rückraumspieler musste wegen einer geplanten Operation am Kiefer seine Teilnahme absagen. So kommt es, dass der aktuelle Tabellenführer der Handball-Bundesliga nur einen deutschen WM-Spieler stellen wird – sofern Drux die Reduzierung des Kaders auf 18 Akteure wie erwartet übersteht.
Von Doppelbelastung ziemlich gestresst
Die Füchse werden durch ihre ausländischen Profis dennoch prominent vertreten sein, außerdem ist der Blick auf die Bundesliga-Tabelle wichtiger. Und der ist mehr als erfreulich, der Hauptstadtclub hat seine Spitzenposition trotz stressiger Doppelbelastung gefestigt und schickt sich an, wie der SC Magdeburg in der Vorsaison im Titelkampf zu überraschen. Sind die Füchse schon bereit für den großen Wurf? Spätestens nach dem 34:32-Sieg im Spitzenspiel gegen die Rhein-Neckar Löwen muss die Antwort lauten: Ja! Der erste Meistertitel der Clubgeschichte, mit dem intern vor der Saison schon geliebäugelt worden war, ist nun als Ziel offiziell ausgerufen. „Jedes Spiel ist für den Titel, denn wir wollen Meister werden und jedes Spiel gewinnen“, sagte Torhüter Dejan Milosavljev.
Das trifft auch auf das Auswärtsspiel am Samstag (3. Dezember) gegen den HC Erlangen zu. Auf dem Papier ist Berlin Favorit, schließlich haben die Erlangener in 13 Aufeinandertreffen fünfmal verloren. Doch spätestens nach der peinlichen 27:32-Pleite Anfang November beim bis dato punktlosen Tabellenletzten GWD Minden, ihrer bislang einzigen Saisonniederlage, sind die Füchse gewarnt. „Das darf uns in der Art und Weise nicht passieren“, monierte Trainer Jaron Siewert, man müsse auch gegen vermeintlich schwächere Teams „konzentrierter“ auftreten. Egal ob gegen den THW Kiel, die Löwen, Minden oder Erlangen – „am Ende zählen immer wieder dieselben Attribute“, sagte Siewert, „eine gute Abwehr und eine gute Torwartleistung“.
Auch Sportvorstand Stefan Kretzschmar weiß, dass nicht mehr nur die direkten Duelle gegen die Topclubs der Liga über den Meistertitel entscheiden. „Man merkt schon, dass die Liga zusammenrückt. Auch die vermeintlich Kleineren finden immer besser rein, und die Liga wird absolut ausgeglichen und unberechenbar“, sagte er. Kretzschmar hatte nach der ersten Saisonniederlage sogar mit einem kleinen Einbruch des Teams gerechnet. „Das Spiel in Minden war von unserer Seite so schlecht, dass du vielleicht dieses Selbstverständnis verlierst“, begründete er: „Das Risiko besteht, nach der Siegesserie nicht mehr unantastbar oder angreifbar zu sein. Da waren schon viele Fragezeichen.“ Doch die Mannschaft gab die richtigen Antworten: Es folgten vier Siege gegen TSV Hannover-Burgdorf (32:30), HSV Hamburg (37:28), TBV Lemgo Lippe (32:26) und Rhein-Neckar Löwen. „Ich bin glücklich und stolz, dass wir eine Reaktion gezeigt haben“, fasste Trainer Siewert zusammen.
Vor allem der Sieg im schweren Auswärtsspiel bei den stark in die Saison gestarteten Löwen bewies, dass Berlin gefestigt ist. In den vielen schwierigen Momenten, in denen das Spiel in die andere Richtung hätte kippen können, waren sie mental und physisch bereit. Es war ein mitreißendes Duell auf Augenhöhe, das die Füchse verdient gewannen. Auf Seiten der Gastgeber, die sich bis zu diesem Zeitpunkt ebenfalls Titelhoffnungen ausgerechnet hatten, überragten Juri Knorr und Patrick Groetzki, doch die Füchse verfügten über die ausgeglichenere Spielanlage. Spielmacher Jacob Holm initiierte immer wieder gefährliche und flexible Angriffe, die Lasse Andersson, Hans Lindberg oder Mijajlo Marsenic abschlossen. Und hinten im Tor bewies Milosavljev einmal mehr seine Extraklasse.
Tormann Milosavljev zeigte seine Klasse
„Wir erwarten immer viel, weil er die Messlatte sehr hoch gelegt hat“, sagte Kretzschmar über den serbischen Nationaltorhüter. Für seine zuletzt überragenden Leistungen wurde Milosavljev kürzlich mit einem Sonderurlaub belohnt: Die Reise zum Europacup-Spiel in Nordmazedonien beim HC Pellister Eurofarm musste die Nummer eins nicht antreten. „Das ist eine geplante Auszeit, er wird geschont. Zu den Euro-Spielen nehmen wir immer Talent Lasse Ludwig mit“, begründete Siewert. Gut erholt stand Milosavljev gegen die Löwen wieder zwischen den Pfosten, mit zehn Paraden und einer souveränen Ausstrahlung verlieh er der Mannschaft große Sicherheit.
Der Trainer war aber nicht voll zufrieden. Man habe zwar „gute Moral“ gezeigt und sich von Rückschlägen nicht verunsichern lassen, „und unsere Abwehr stand eigentlich ganz gut“, so Siewert. Dann das große Aber: „Die Tore kassieren wir über das Tempospiel, was an unseren Fehlern im Angriff liegt.“ 34 eigene Tore müsse man gegen ein Topteam wie die Rhein-Neckar Löwen aber auch erst erzielen, „es freut mich, dass wir hier innerhalb kurzer Zeit erneut so eine Topleistung zeigen konnten“. Hans Lindberg wollte ebenfalls lieber am Positiven festhalten. „Die erste Halbzeit war etwas haarig, da haben wir zu viele Fehler gemacht“, sagte der dänische Torjäger: „Am Ende war es aber eine Topleistung in einem Topspiel, dafür habe ich großen Respekt vor meiner Mannschaft.“ Vor allem, weil es das dritte Spiel in fünf Tagen gewesen war. Das beeindruckte auch Siewert. „Wir haben das Tempo ab der zehnten Minute bestimmt“, lobte der Coach, und das überraschte ihn selbst: „Ich weiß nicht, wo die Jungs die Energie hernehmen. Wir haben versucht zu rotieren, aber die erste Sieben hat es überragend gemacht“. Als Belohnung gab Siewert seinen Jungs einen Tag frei – mehr ist angesichts des vollen Terminkalenders und der hohen Saisonziele nicht drin. „Wir haben noch schwierige Aufgaben vor uns und dürfen nicht abreißen lassen“, mahnte Siewert. Aktuell sitze der größte Gegner in der eigenen Kabine: „Wir dürfen jetzt nicht zu zufrieden werden, das ist gefährlich.“ Siewert erinnerte an das Vorjahr, „da standen wir ähnlich da und wurden für den Zwischenspurt gelobt“. Das Ende ist bekannt: Tabellenplatz drei, Titel und Champions-League-Qualifikation verpasst. „Dieses Jahr möchten wir besser abschneiden“, betonte der Trainer, „da gibt es nichts zu verschenken. Wir müssen weiterhin Vollgas geben.“
Deshalb wollen die Füchse ihre Tabellenführung an den nächsten vier Ligaspielen gegen Erlangen, Titelverteidiger SC Magdeburg, VfL Gummersbach und SC DHfK Leipzig unbedingt behaupten. Danach ist Ligapause wegen der Weltmeisterschaft, Zeit zum Regenerieren – außer für Drux und die ausländischen WM-Starter.