Wenn kulturelle Welten aufeinanderprallen
Neulich wurde ich in einer Fleischerei im Dresdner Stadtteil Zschernitz gezwungen, über meine eigene deutsche Identität zu reflektieren. Ich weiß, darüber, wann endlich zusammenwächst, was zusammengehört, schreibt man normalerweise nur, wenn die Wiedervereinigung gerade Geburtstag hat – am besten einen runden. Aber ein Besuch in Dresden zwingt mich, das Thema völlig unsaisonal aufzugreifen.
Fragen Sie nicht, was mich in besagte Fleischerei in Zschernitz verschlagen hatte, die Geschichte wird auch so kompliziert genug. Nur so viel: Ich war von Dresdner Bekannten zum Grillen eingeladen und versuchte Grillgut zu besorgen, dessen Konsistenz mir vertraut ist. Als ich die Warenauslage sondiere, entdecke ich dort etwas mir völlig Unbekanntes: eine undefinierbare Masse in länglicher Wurstform, etwas mehr als fleischwurstdick, die von einer durchsichtigen Pelle zusammengehalten wird. Den Inhalt der Pelle stufe ich irgendwo zwischen missratenem Gulasch und nicht erhärteter Sülze ein.
Unbedarft frage ich die Fleischwarenfachverkäuferin, was das sei. Sie sieht mich an, als sei ich schwachsinnig, oder noch schlimmer: aus’m Westen, und sagt: „Soljanka?“ Sie hebt dabei die Stimme, stellt mir also indirekt die Frage: ‚Sie wissen nicht, was Soljanka ist?‘ Nein, weiß ich tatsächlich nicht und könnte nicht einmal sagen, mit welchem Artikel das Zeug daherkommt: der, die oder das Soljanka? Unvorsichtigerweise gestehe ich, noch nie etwas von Soljanka gehört zu haben, und dass ich – es? ihn? sie? –gerade zum ersten Mal live und in Farbe zu sehen kriege. Und was sagt die Fleischerin darauf zu mir: „Sie sind wohl von drüben“?
Also da hört sich doch alles auf! Ich bin doch nicht von drüben. Ich bin gerade ‚drüben‘. Von dort aus, wo ich herkomme, ist und war immer schon da, wo ich momentan zu Besuch bin, ‚drüben‘. Hier ist drüben. Das Problem: Letzteres denke ich mir nicht heimlich, sondern spreche es laut aus. Die Fleischerin nimmt’s gelassen und erklärt mir, dass von Dresden-Zschernitz aus gesehen ich ‚von drüben‘ sei, ich habe sozusagen gerade ‚rübergemacht‘, und nur wenn ich bei mir zu Hause im Westen sei, könne ich dort gerne von Dresden als ‚drüben‘ sprechen. Aber hier und jetzt sei eindeutig ich von drüben. Schönen Aufenthalt in Dresden noch.
Ist es nicht sonderbar, dass, wenn man zum Beispiel als Stuttgarter, sagen wir mal, nach Cuxhaven reist, man dort für die Einheimischen ‚aus’m Süden‘ kommt, oder für einen Bayern jemand aus der Lüneburger Heide als Preuße ‚aus dem Norden‘ gilt? Aber bei West-Ost-Bewegungen, wenn ich ‚nach drüben‘ in eines der neuen Bundesländer fahre, komme ich wiederum für die Menschen dort ‚von drüben‘. Wenn man sich gegenseitig als ‚von drüben‘ einstuft, muss doch irgendetwas überschritten werden, um zur anderen Seite, nämlich nach drüben, zu gelangen. Auch wenn man von Flensburg nach Garmisch reist, wird man zwar mit Kulturunterschieden konfrontiert, bewegt sich aber einfach nur sehr weit südlich und überschreitet nix Maßgebliches, ist nicht auf einer imaginären, anderen Seite. Die wesentlich kürzere Strecke von Frankfurt nach Erfurt aber bringt einen nach … Sie wissen schon.
Mit der durchaus nachsichtigen Fleischerin einige ich mich darauf, dass sie mich jetzt hier tatsächlich als ‚von drüben‘ bezeichnen darf. Falls sie aber einmal in die Verlegenheit kommen sollte, sich zum Beispiel in Saarbrücken Schwenkbraten oder einen Ringel Lyoner besorgen zu wollen, sie dort dann für die einheimische Metzgerin ihrerseits, von drüben, sei. Das sieht die Zschernitzer Fleischerin ein, hakt allerdings nach, worum in aller Welt es sich denn bei Schwenkbraten handele? Und ob Lyoner was zum Essen sei? Sie sehen, da muss noch einiges zusammenwachsen.
P.S.: Sie hat mir dann noch erklärt, dass Soljanka eine säuerlich-scharfe Suppe ist. Sehr beliebt damals in der DDR und heute immer noch. Fürs Grillen habe ich dann Thüringer Bratwurst gekauft – sehr zu empfehlen!