Einen solch kometenhaften Aufstieg hat es schon lange nicht mehr gegeben. Die Designerin Priya Ahluwalia kann nicht nur von ihren britischen, nigerianischen und indischen Wurzeln profitieren, sie hat sich auch zum Newcomer-Star nachhaltiger Mode aufgeschwungen.
Bezüglich der Entdeckung neuer Design-Talente gilt London derzeit als das Mekka unter den vier großen internationalen Mode-Metropolen. Auffällig ist, dass viele der aufstrebenden Newcomer aus der sogenannten BAME-Community stammen – worunter Briten mit nicht-weißer Hautfarbe verstanden werden. BAME wird als Abkürzung für „Black, Asian and Minority Ethnic“ verwendet. Eine der aktuell rund um die Themse mit am höchsten gehandelten Aufsteigerinnen ist die 1992 in London als Tochter einer indischen Mutter und eines nigerianischen Vaters geborene Priya Ahluwalia. Sie hat das auf ihren Nachnamen getaufte Label zwar schon 2018 in London gegründet, aber erst im Februar 2022 für die Herbst-Winter-Saison 2022/2023 mit einer eigenen Show auf der Londoner Fashion Week debütiert. Das freiwillige Fernbleiben renommierter Marken wie Burberry oder Victoria Beckham hat Ahluwalia zu einem geradezu fulminanten und medienwirksamen Erstauftritt auf der großen Modebühne zu nutzen verstanden. Die „Vogue“ sprach gar von einem „Meilenstein“, für den sich die fünfjährige Wartezeit wahrlich gelohnt habe.
Priya Ahluwalia hat sich nach ihrem Master-of-Arts-Abschluss im Bereich Menswear an der renommierten University of Westminster 2018 keineswegs auf die faule Haut gelegt und sich für den Aufbau ihres Labels nicht unnötig lange Zeit gelassen hatte. Dafür war sie einfach zu ambitioniert und ehrgeizig, was sich allein schon daran ablesen ließ, dass sie bei ihrer Ausbildung vor dem Master auch schon einen Bachelor im Modebereich an der University for the Creative Arts in Epson erworben hatte. Dabei hatte sie sich zunächst auf die Womenswear konzentriert, um dann aber relativ schnell den Schwenk zur Herrenmode zu vollziehen. Wenn es nach dem Willen der Mutter gegangen wäre, die laut Priya stets sehr modeaffin war und inzwischen in dem von Beginn an profitablen Unternehmen ihrer Tochter als Finanzdirektorin tätig ist, hätte Ahluwalia den juristischen Berufsweg Richtung Anwältin einschlagen sollen. Aber Priya sollte hartnäckig ihren Kopf durchsetzen, wie sie in einem Interview mit dem Männermagazin „GQ“ bekannt hatte: „Ich wollte schon immer in die Mode. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals etwas anderes hatte machen wollen. Meine Mutter mochte Mode, und ich las alle ihre Zeitschriften, probierte alle ihre Kleider an. Das war die Hauptinspiration für mein Interesse daran.“
Als Teenie im Alter von 16 Jahren begann sie sich laut eigenem Bekunden erstmals für Vintage-Klamotten zu begeistern und klapperte in London alle möglichen Märkte und Läden auf der Suche nach hochwertigem Gebrauchtem ab. „Unglaublich, da konnte man Teile von Issey Miyake für fünf Pfund kaufen!“ Noch weitaus nachhaltiger im wortwörtlichen Sinne und für die künstlerische Ausrichtung ihrer eigenen Marke von elementarer Bedeutung sollte eine Reise zu ihrem Vater ins nigerianische Lagos 2017 werden. Denn in einer der chaotischsten, schmutzigsten und quirligsten Städte der Welt, wo auch das Herz der unter dem Namen Nollywood bekannten nigerianischen Filmindustrie schlägt, die Nigeria inzwischen nach Indien und dessen Bollywood-Produktionen zur global zweitgrößten Filmnation noch vor den USA gemacht hat, sollte sie erstmals hautnah mit dem gigantischen Problem der weltweiten Überproduktion in der Textilindustrie Bekanntschaft machen. Sie hatte in Lagos Straßenhändler in obskuren britischen Klamotten entdeckt und war auf Nachfrage nach deren Herkunft zu einem gigantischen Second-Hand-Markt gelangt, auf dem überschüssige Bestände aus britischen Wohltätigkeitsläden für hartes Geld von kommerziellen Händlern verkauft wurden.
Berge an Kleidungsstücken
Gleich nach der Rückkehr nach London begann sie mit Recherchen zur Erkundung der Vertriebswege dieses riesigen Gebrauchtklamotten-Angebots. Sie landete dabei fast zwangsläufig bei der indischen Stadt Panipat, die damals so etwas wie die Welthauptstadt des Textil-Recyclings war. Praktischerweise ließ sich eine Reise dorthin mit familiären Verpflichtungen verbinden.
Die kolossale Menge an zu Bergen aufgehäuften und nach Farben sortierten Kleidungsabfällen hätte sie sich in ihren schlimmsten Träumen nicht vorstellen können: „Das alles hat mich in vielerlei Hinsicht schockiert. Erstens konnte ich nicht glauben, dass Second-Hand-Kleidung ein so großes Geschäft sein könnte. Ich war auch total schockiert über die schiere Menge an Klamotten, die weggeworfen werden, ich hatte vorher nie wirklich darüber nachgedacht. Ich nehme an, es ist leicht, etwas zu ignorieren, was man nicht wirklich sieht. Es hat mich auch dazu gebracht, Handwerk und Tradition in Textilien zu schätzen und neu zu bewerten.“
Entgegen der anfangs teils heftigen Widerstände seitens ihrer Uni-Lehrkräfte machte sich Priya sogleich daran, ihre Masterarbeit auf Basis von Secondhandklamotten, Vintage-Altbeständen und sonstigem vermeintlichen Kleidermüll zu gestalten. Damit hat sie eine Herrenkollektion entworfen, die mit bunten Farben, reichlich Prints und viel Patchwork irgendwo zwischen lässiger Sportbekleidung, Streetwear und feiner handwerklicher Schneiderei angesiedelt war und reichlich Lob einheimsen konnte. Die gesamte Kollektion wurde von dem britischen Luxusklamotten-Einzelhändler LN-CC erworben. „Ich wollte, dass meine Master-Kollektion etwas Besonderes wird“, so Ahluwalia. „Die ersten Reaktionen waren so positiv, dass ich mich nur darin bestätigt gefühlt habe, weiterzumachen. Ich habe mich bewusst für eine verträumte Ästhetik im Lookbook entschieden, weil sie in krassem Gegensatz zu der brutalen Realität des Abfallproblems der Modebranche steht.“ Auch ein Buch mit dem Titel „Sweet Lassi“, in dem sie fotografisch die Textilberge in Lagos und Panipat neben ihrer Abschluss-Kollektion dokumentiert hatte, sollte für mediale Aufmerksamkeit sorgen. Inzwischen sind weitere Fotobücher hinzugekommen, und das Allround-Talent hat auch schon fünf Filme gedreht, wobei sie nicht nur ihre eigenen Kollektionen mit der Kamera festgehalten, sondern auch für Gucci und Mulberry filmisch gearbeitet hat.
Spätestens seit sie 2019 für ihre Abschluss-Kollektion mit dem H&M-Design-Award ausgezeichnet worden war und die damit verbundene Preissumme von 50.000 Euro in ihr junges Unternehmen investieren konnte, gilt sie als der neue Shootingstar unter den Labels, die Tradition und Handwerkskunst mit Nachhaltigkeit verbinden. Wobei sie in ihren sportlich-eleganten, allzeit farbenfrohen Kreationen aus Textilresten, Überschussware, Deadstocks (unverkäufliche, aber ungetragene „Ladenhüter“) oder recycelten Alt-Kollektionen ihre nigerianischen und indischen Wurzeln mit modischen Einflüssen ihres Geburtslandes verknüpft. Diversität kann sie damit geradezu zelebrieren. „Ich liebe die Lebendigkeit des Lagos-Stils“, so Ahluwalia, „die Handwerkskunst indischer Textilien und die typische Garderobe eines Londoners. Sie verschmelzen miteinander, um Kollektionen zu schaffen, die ernst und verspielt zugleich sind.“ Angaben über die Herkunft des dafür nötigen Basismaterials werden als Betriebsgeheimnis wohl gehütet, aber Priya Ahluwalia, die die aufstrebende Menswear-Kollegin Martine Rose sehr bewundert, hat immerhin verraten, dass es dafür riesige Waren-Depots und spezialisierte Händler gebe.
Zugleich ernst und verspielt
Obwohl sie im Sommer 2019 nur mit einem Minisortiment begonnen und auch im Herbst/Winter 2019/2020 unter dem Stichwort „Capsule Collection“ nur vergleichsweise wenige Patchwork-Pieces vorgestellt hatte, wurde sie mit Preisen regelrecht überschüttet. 2020 wurde sie zur Mitgewinnerin des renommierten LVMH-Preises gekürt, 2021 wurde sie mit dem Queen Elizabeth II.-Award für britisches Design ausgezeichnet, vom British Fashion Award wurde sie als „Leader of Change“ gefeiert, und schließlich wurde sie auch noch mit dem BFC-GQ-Menswear-Preis geehrt.
Daneben kam es zu Kooperationen mit namhaften Marken wie Adidas (auf der Pariser Fashion Week für Herbst/Winter 2019/2020), Paul Smith oder mit Ganni, wobei im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem dänischen Label im April 2021 die Menswear-Abteilung Ahluwalias erstmals auch um eine 19-teilige Damenkollektion mit jeder Menge Printmix und Patchwork aus recycelten Ganni-Deadstock-Beständen erweitert wurde. Auch eine reine Kollektion aus Bio-Denim ist dabei herausgekommen.
Eigentlich war die zusätzliche Hinwendung zur Womenswear naheliegend, da viele ihrer Menswear-Pieces wie Hoodies, Jacken, Pullover, Sweater, LoungeHosen oder Shorts (die häufig stilistische Anleihen aus den 1990er-Jahren und in der Regel ihre Markenzeichen, nämlich paspelierte Patchwork- oder Print-Wellen, aufwiesen) ohnehin von einer weiblichen Klientel gekauft wurden. Selbst das US-amerikanische Wirtschaftsmagazin „Forbes“ hatte in Ahluwalia ein so großes schöpferisches und natürlich auch unternehmerisches Potenzial gesehen, dass es die Designerin im Jahr 2020 in sein globales Ranking der 30 interessantesten Persönlichkeiten unter 30 Jahren in den Bereichen Mode und Kunst aufgenommen hatte.
Als Finalistin des Woolmark-Preises 2022 präsentierte Ahluwalia eine neue Facette ihres Schaffens mit
maßgeschneiderten Jacquard-Stücken aus Merinowolle und Seide, wobei sie bereits das Motto ihrer aktuellen Herbst-Winter-Kollektion 2022/2023, mit der sie erstmals mit einer eigenen Ausstellung die Londoner Fashion-Showbühne betrat, vorwegnahm und von Bollywood- und Nollywood-Filmplakaten inspirierte Kreationen zeigte. „From Nollywood to Bollywood“ lautete das Motto ihrer Londoner Laufsteg-Premiere, bei der sie ihre Klamotten ausschließlich von Models aus Afrika oder Südasien präsentieren ließ, mithin genau aus jenen Regionen der Welt, in denen sie teilweise auch ihre Pieces mit besonderem Augenmerk auf guten Arbeitskonditionen herstellen lässt (vor allem in Indien, Tunesien und Nigeria). Die Show war glamourös angelegt. In der Menswear waren beispielsweise seidene Bowling-Hemden mit Posterdrucken, karierte Pyjama-Jogginghosen und reichlich laserbedrucktes Denim samt „A“-Logo zu bestaunen. Für die Damen gab es Pieces mit Sari-Anleihen, pfiffige einschultrige Crop-Tops, Radler-Shorts oder auch Micro-Röcke.
Kontakt zum Kunden stärken
Ihre Sommerkollektion für 2023 ist unter dem Slogan „Africa is limitless“ komplett dem Schwarzen Kontinent gewidmet. Wobei sie versucht hat, möglichst viele der modischen Einflüsse der unterschiedlichsten Länder in ihre Kreationen einfließen zu lassen. Die charakteristischen Wave-Tailoring-Strickwaren sind diesmal auf Trikots afrikanischer Fußball-Nationalmannschaften übertragen worden. Erstmals tauchen Schals in der Menswear auf, was als Hinweis darauf gedeutet wurde, das künftig Accessoires eine größere Rolle spielen sollen, vor allem auch in der Womenswear mit der Etablierung einer eigenen Damen-Schuhkollektion. Nachhaltig gewonnener Kunstpelz und gelaserte Bio-Denim-Teile rundeten in der Womenswear die Show im Londoner Salters Hall Garden perfekt ab.
An den Vertriebskanälen wird bei dem jungen Unternehmen, das inzwischen etwa ein Dutzend feste Mitarbeitende zählt, derzeit noch reichlich gebastelt. Bei Luxus-Versendern wie Net-à-Porter oder Matches ist man natürlich längst vertreten, darüber hinaus bei weltweit mehr als 40 Nobel-Boutiquen und Edel-Kaufhäusern. Aber künftig möchte man vor allem bei den Direct-to-Consumer-Kanälen kräftig expandieren, um dadurch neben der Möglichkeit einer zusätzlichen Einnahmequelle auch den direkten Kontakt mit dem Endverbraucher pflegen zu können.