75 Jahre Sozialverband VdK Saar – das ist auch eine Geschichte sozialer Veränderungen. Aus einem Kriegsopferverband wurde ein moderner Sozialverband, dem es an Aufgaben nicht mangelt, sagt der Landesvorsitzende Armin Lang.
Herr Lang, worauf führen Sie den Erfolg zurück?
75 Jahre nach Gründung haben wir im Saarland mit rund 57.000 Mitgliedern einen absoluten Mitgliederhöchststand. Mit mehr als 10.000 Sozialberatungen, 4.500 abgeschlossenen sozialrechtlichen Verfahren und durchschnittlich drei Millionen Euro Nachzahlungen, die wir pro Jahr für unsere Mitglieder erstreiten, sind wir für immer mehr Menschen oft „die letzte Hoffnung“. In unserer Sozialrechtsschutz gGmbH beschäftigen wir zwölf hauptamtliche Juristen und 14 Assistenzkräfte. Ebenso sind 19 ehrenamtliche Sozial- und Rentenberater für uns ständig tätig.
Mit rund 50 ehrenamtlich tätigen Expertinnen und Experten in unseren sozialpolitischen Arbeitsgruppen bündeln wir eine enorme sozialpolitische Kompetenz und bestimmen damit wesentlich die sozialpolitische Tagesordnung auf Landesebene. Wir fordern nicht nur politische Veränderungen mittels einer sehr beachteten Medienpräsenz, einer eigenen Zeitung und Newslettern, sondern zeigen auch konkrete Lösungen für schwierige soziale Problemlagen auf.
Was heißt das in der Praxis?
Wir haben wesentlich zur Steigerung der Inanspruchnahme der Corona-Impfungen beigetragen und dazu, die coronabedingte Isolation pflegebedürftiger und behinderter Menschen zu verringern. Wir haben Pflegebedürftigkeit als Armutsrisiko auf die politische Agenda gebracht, ebenso die soziale, barrierefreie und technikgestützte Wohnraumförderung sowie die professionelle Wohnberatung.
Gemeinsam mit Pflegeexperten aus anderen Organisationen haben wir Konzepte erarbeitet: für den „Präventiven Hausbesuch“ zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit, für die „Tagespflege für alle!“ zur Entlastung pflegender Angehöriger und für die „Mobilität für alle – überall“.
Unsere öffentlichen Impulse zur Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit und zu Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente als zentrale Ursachen von Altersarmut und zur „vererblichen“ Familienarmut in benachteiligten Wohngebieten haben wesentlich landespolitische Reform-Initiativen angestoßen. Gemeinsam mit der Arbeitskammer des Saarlandes haben wir erreicht, dass im aktuellen Koalitionsvertrag auf Bundesebene als dringend notweniges politisches Vorhaben aufgenommen wurde, dass es „mehr Rechtssicherheit für die Versorgung pflegebedürftiger Menschen durch osteuropäische Betreuungskräfte“ geben muss. Jetzt arbeiten wir auch in Berlin an der politischen Umsetzung dieses Zieles mit.
Der Verband ist weiter in ständigem Wandel. Was sind heute die größten Herausforderungen?
Der VdK Saarland hat zwar in den letzten zehn Jahren mehr als 20.000 Mitgliedern hinzugewonnen, jedoch mehr als 100 Ortsverbände verloren. Sie wurden in der Regel mit Nachbarortsverbänden fusioniert. Es ist immer schwieriger, ehrenamtliche Führungskräfte zu gewinnen. Dabei ist die neue Rentnergeneration Studien zufolge nicht nur „gesünder und tatkräftiger“, sondern auch so aktiv wie nie und bereit, sich ehrenamtlich zu engagieren.
Jetzt gilt es, diese Menschen auch für Aktivitäten mit und im Sozialverband zu gewinnen und unsere Mitglieder zu den „bestinformierten“ Menschen bei sozialen Leistungsansprüchen zu machen. Sie sollten ihre Rechte nicht nur kennen, sondern davon auch profitieren. Dafür brauchen sie stets aktuelle und verständliche Informationen, Unterstützung bei der Leistungsbeantragung sowie Hilfen bei Widerspruch und Klage.
Weil die immer komplexer werdende Sozialgesetzgebung die professionelle Interessenvertretung zur Durchsetzung individueller Ansprüche notwendig machte, bauten wir in den letzten beiden Jahrzehnten ein kompetentes Team hauptamtlich tätiger Juristen in unseren regionalen Sozialberatungszentren auf, die höchste Anerkennung bei den Sozialversicherungen und den Sozialgerichten genießen und erfolgreich die Interessen unserer Mitglieder vertreten. Der Sozialverband im Saarland ist für viele Menschen oft die letzte Hoffnung. Er trägt maßgeblich zum sozialen Frieden bei und hilft so, unsere Demokratie zu stabilisieren.
Wie geht es weiter mit VdK vor Ort?
Vor einigen Wochen haben wir unsere Mitglieder per E-Mail gefragt, ob sie hilfebedürftige Menschen beim Antrag auf Wohngeld unterstützen wollen. Die Resonanz und Hilfsbereitschaft waren überwältigend! Das zeigt: In unseren Orts- und Kreisverbänden gibt es viel Potenzial für Engagement.
Das aktuelle „Wohngelddrama“ zeigt aber noch mehr. Die Bearbeitungszeiten bei den Wohngeldstellen der Landkreise dauern in der Regel drei bis sechs Monate, obwohl bei Weitem nicht alle Berechtigten ihre Anträge stellen. Dies gilt auch für andere Sozialleistungen – immer wieder. Heizkostenhilfen im Sommer machen jedoch wenig Sinn.
Das „Bürokratie-Monster“ Nachbarschaftshilfe verhindert geradezu, dass Pflegebedürftige die Entlastunghilfen in der häuslichen Pflege in Anspruch nehmen. Nach dem Gesetz dürfte es keine Entlassung aus dem Krankenhaus geben ohne geregelte Nachsorge – dennoch passiert das ständig. Nicht gehfähige Patienten sollten mobile Reha in der eigenen Wohnung bekommen. Gleiches gilt für den Abbau von Barrieren unterschiedlichster Art, damit Menschen mit Behinderungen würdiger leben können.
Viel Not und Elend könnte entschärft werden, wenn die kommunalen Sozialbehörden offensiv aufklären und auch proaktiv ihre Leistungen Hilfebedürftigen anbieten würden. Auf die vielen Leistungsverweigerungen sollte der Sozialverband vor Ort durch Aktionen immer wieder hinweisen. Was nutzen gesetzliche Leistungsansprüche, wenn die Menschen sie nicht erhalten?
Daraus folgt: So, wie wir für die Durchsetzung sozialrechtlicher Anliegen unserer Mitglieder Profis brauchten, um das Ehrenamt zu ergänzen, so gilt dies jetzt auch für die soziale Interessenvertretung vor Ort. Auch dazu brauchen wir zukünftig neue Strukturen.
Wo sehen Sie den VdK im Jahr 2030?
„Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit!“ Diese alte Weisheit prägt das Handeln vieler, auch bei uns. Wir wollen interessanter vor Ort werden, damit Menschen, die sich engagieren wollen, sich zu uns hingezogen fühlen. Der Sozialverband ist mit seinem juristischen Hilfepotenzial und seiner politischen Expertise gefragt. Deshalb sind wir gut beraten, wenn wir politisch und sozialrechtlich breit aufgestellt und immer aktuell handlungsfähig sind.
Weil wir für unsere Mitglieder auch vorsorgend tätig werden wollen, damit sie erst gar nicht in Not kommen, müssen wir stets hellwach neue soziale Fragen und Probleme wahrnehmen und vorsorgend auf politische und rechtliche Weichenstellungen hinarbeiten. Dies gilt zur Zeit für alle Fragen des Klimawandels und der damit einhergehenden Katastrophenvermeidung, aber auch für solidarische Elementarversicherungen.
Ganz besonders müssen wir uns in der immer wieder zu stellenden Verteilungsfrage positionieren. Ja, wir wissen, dass alles Geld erst erwirtschaftet werden muss. Wir wissen aber auch und werden immer dafür eintreten, dass alles Geld, welches erwirtschaftet ist, einigermaßen gerecht verteilt werden muss. Mit dieser Überzeugung bleiben wir aktuell und immer auf der Seite der Menschen, die Hoffnung in den Sozialverband setzen.