Das versprechen unsere vorweihnachtlichen Buchtipps, die mal in skurrile Momente des japanischen Alltags abtauchen, den Leser ins Italien des ausgehenden 19. Jahrhunderts mitnehmen oder bei denen es um die Frage nach Schuld und Vergebung und der eigenen Identität geht.
Der Verlobte als Lampenschirm
Nana hat einen hohen Kredit für ihren neuen schwarzen Pullover aufgenommen und präsentiert ihn stolz ihren Freundinnen beim Afternoon-Tee in einer Hotel-Lounge: Das neue Oberteil besteht zu hundert Prozent aus reinem, geflochtenem Menschenhaar. Die Freundinnen sind begeistert von Nanas sündhaft teurem Kleidungsstück. Auch sie haben ein Faible für menschliches Material, wenn es in Kleidung, in Accessoires und in Möbeln recycelt wird. Nanas Freundin Aya etwa trägt seit ihrer Hochzeit einen weißen Ring aus Wadenbein am Ringfinger. Nur Nanas Verlobter Naoki hat ein grundlegendes Problem mit dem Modegeschmack seiner zukünftigen Frau. So gerät das junge Paar in einen heftigen Streit darüber. Erst ein Treffen bei Naokis Mutter bringt eine unerwartete Wendung. Schließlich mündet die Kurzgeschichte „Ein herrliches Material“ in den inneren Monolog der Protagonistin, in welchem sie sich Gedanken um die Haut ihres Verlobten nach dessen Ableben macht: Wird die Narbe auf Naokis Gesicht noch zu sehen sein, wenn seine Haut als Bucheinband oder Lampenschirm Wiederverwendung findet?
Diese morbide Geschichte bildet den Auftakt zu zwölf absurden und komischen Storys aus Sayaka Muratas neuem Buch „Zeremonie des Lebens“. Es geht um Beziehungen, Sexualität und Todesfälle. Oder um scheinbare Differenzen durch abwegige Essgewohnheiten innnerhalb einer Familie, wie sie die Autorin fast parabelhaft erzählt. Jede Geschichte des Story-Bandes ist auf seine ganz eigene Art skurril. In der Titelgeschichte selbst geht es um Zeremonien für Verstorbene, die als kannibalische Festmahle ausgerichtet werden und in Sex übergehen.
Der Geschichtsband wurde von Ursula Gräfe ins Deutsche übertragen. Die mehrfach ausgezeichnete Übersetzerin hat auch schon Haruki Murakamis Werke übersetzt. Autorin Sayaka Murata wurde 1979 im japanischen Chiba geboren. Für ihre literarische Arbeit erhielt die Schriftstellerin schon mehrere Auszeichnungen. Ihr Roman „Die Ladenhüterin“ gewann im Jahr 2016 mit dem Akutagawa-Preis den renommiertesten Literaturpreis Japans. Julia Christ
Sayaka Murata: Zeremonie des Lebens. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Aufbau, Hardcover. 286 Seiten. 2022, 22 Euro Julia Christ
Das Leben mit der Schuld
2006 gelang dem irischen Autoren John Boyne mit seinem Roman „Der Junge im gestreiften Pyjama“ der internationale Durchbruch, das Buch wurde mehrfach ausgezeichnet, hielt sich monatelang auf der „Spiegel“-Bestsellerliste. Der vor Kurzem erschienene Roman „Als die Welt zerbrach“ ist gewissermaßen die Fortsetzung oder auch der Blick auf die Geschehnisse aus einer anderen Perspektive. Jetzt nämlich geht es um Gretel Fernsby, eine sehr alte Dame, die in einer riesigen Londoner Wohnung lebt. Und der ihr Sohn Caden ständig damit in den Ohren liegt, sie solle doch die Immobilie verkaufen. Kein Wunder, hat er Dauerfinanzprobleme mit missglückten Spekulationen und Ehen.
Eines Tages zieht eine Familie in die Wohnung unter Gretel – mit einem neunjährigen Sohn, der bei Gretel Erinnerungen an ihren vor Jahrzehnten tragisch verschwundenen Bruder weckt. So erfahren die Leser in Rückblenden, dass Gretel einst an „jenem anderen Ort“ lebte, in einer Villa neben dem Konzentrationslager, dessen Kommandant ihr Vater war. Dass ihre Mutter mit ihr nach dem Krieg unter falscher Identität nach Frankreich floh, das Gretel noch später versuchte, ihre Vergangenheit in Australien hinter sich zu lassen.
Klar wird: Die Schuldgefühle, die Reue, die Ohnmacht, die Scham, sich in all den Jahren doch nicht gestellt zu haben, lasten auf Gretel. Zudem stellt sich bald heraus, dass der unangenehm-großspurige Filmproduzent, aus der Wohnung unter ihr, Frau und Sohn misshandelt und Gretels Einmischungsversuche mit einer Erpressung kontert. Längst hat er nämlich nicht nur den Geburtsnamen von Gretel herausgefunden, sondern droht, sie im Falle einer Anzeige wegen häuslicher Gewalt ebenso an die Polizei auszuliefern.
Wieder einmal zeigt John Boyne, dass er das Genre historische Fiktion meisterhaft beherrscht. Auch wenn manche der Nebenfiguren ein wenig eindimensional bleiben, kommt Protagonistin Gretel als vielschichtiger Charakter daher. Die in ihrem letzten Lebenskapitel mehrere erstaunliche Entscheidungen trifft. Sabine Loeprick
John Boynes: Als die Welt zerbrach, PiperVerlag, gebundene Ausgabe, 416 Seiten, 2022, 24 Euro
Ein neuer Blick
Ein ganzer Schwung neuer Literatur aus Italien beschäftigt sich mit der Geschichte des Landes. So der Bestseller „Ich bleibe hier“ von Marco Bolzano, der das Drama der Option in Südtirol behandelt, aber auch fast alle Romane von Francesca Melandri, wie „Über Meereshöhe“, das im Italien der 1970er-Jahre spielt.
Raffaella Romagnolos großes Talent besteht darin, die Fäden einer komplexen, sich über mehrere Zeitebenen ausbreitenden Geschichte in der Hand zu halten. Das zeigte sie mit „Bella Ciao“, das vom mühsamen Leben einfacher Leute in Italien erzählt, vom Aufstieg der Italo-Amerikaner, und vom späten Besuch der alten Dame, Giulia, in ihrem Geburtsort Borgo di Dentro.
In diesem fiktiven Dorf spielt teilweise auch ihr neuer Roman. „Das Flirren der Dinge“ erzählt von Antonio, auf einem Auge blind, und doch eine Art Seher. Er wächst in einem Waisenhaus in Genua auf, ausgerechnet ihn wählt ein Fotograf zum Assistenten. Er bringt ihm, wir befinden uns in den 1860er-Jahren, die Kunst des Fotografierens bei. Und er braucht ihn für sein Mammut-Projekt, die „Porträts der Tausend“: Der Fotograf will all die Männer abbilden, die mit Garibaldi Italien vereint haben.
Romagnolo, 1971 im Piemont geboren und im Hauptberuf Lehrerin, geleitet auch hier die Leserinnen und Leser geschickt durch die vielschichtige Handlung. Antonios Mentor muss fliehen, als sich die politischen Zustände im frisch vereinigten Italien zuspitzen, es verschlägt ihn nach Amerika. Antonio bleibt und wird selbst Fotograf. Wir begleiten ihn durch die Geschichte des jungen Landes. Einige Lebenswege kreuzen sich dabei immer wieder, so der seiner alten Gönnerin, die Puffmutter Carmen, die ihn bis zuletzt „kleiner Hering“ nennt. Lesend folgt man dem einst armen Waisenjungen gern, lernt viel über Italien und sieht manches neu durch die Linse des Fotografierenden, auch Genua, die oft unterschätzte Hafenstadt im Nordwesten. Barbara Schaefer
Raffaella Romagnolo: Das Flirren der Dinge. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Diogenes, Hardcover Leinen, 368 Seiten, 2022, 24 Euro
Metamorphosen einer Künstlerin
In Franziska Hausers jüngstem Roman gibt es kein Vorwort, sondern schlicht ein „Vorweg“ und das hat es in sich. Denn da werden Ungeheuerlichkeiten behauptet: „Alle Künstler sind Trickser … Wir sagen Naturschauspiel, aber alles an der Natur ist echt, nie gespielt. Unecht sind nur die Menschen … Die betreiben Kunst, um nicht arbeiten zu müssen …“ Das reicht doch! Wer so etwas behauptet, muss es erklären. Genau das macht Franziska Hauser. Ihre Hauptfigur Jennifer, genannt Jef, ist Gebrauchsgrafikerin, verdient zu wenig, um die Miete zahlen zu können, möchte mehr, am liebsten eine richtige Künstlerin sein. Eine von ihr bewunderte Freundin rät ihr, sich für ein Kunststipendium zu bewerben, so nach dem Motto „Ein bisschen Kunst machen und dafür bezahlt werden, aber hallo!“ Jef bewirbt sich tatsächlich, indem sie behauptet, mit dem kürzlich verstorbenen Künstler Professor Strand zusammengearbeitet zu haben. „Ich möchte mit meiner verloren gegangenen Identität in einen Diskurs treten“, schwadroniert sie in der Bewerbung. Überhaupt: Jef will den Nabel der Kunst finden. Und siehe da, sie wird angenommen. Die Tochter des Künstlers, Gerburg Strand, lädt in dessen Geburtshaus, die marode Villa Strand in den Bergen ein. Drei Monate wohnt sie unter einem Dach mit einer illustren Runde von Leuten, die Kunst machen. Jef hat Gewissensbisse, weil sie sich diesen Platz mit einer Lüge ergattert hat. Schnell aber merkt sie, dass die anderen auch nicht immer das sind, was sie vorgeben zu sein. So richtig warm wird sie mit keinem, geht auf Distanz, ist eben „Keine von ihnen“. Einzig von einer verwirrten Alten, die im Hause putzt und nachts in der Küche ihr Unwesen treibt, fühlt sie sich magisch angezogen. Sie hat etwas, was die anderen nicht haben, ein Geheimnis. Jef macht sich auf die Suche und findet eine Menge heraus, über sich und die Kunst. Franziska Hauser scheint sich auszukennen mit Höhen und Tiefen, Phasen zwischen Euphorie und zerstörerischen Selbstzweifeln. Allerdings geht man über weite Phasen des ersten Romanteils eher vom Gegenteil aus. Dann nämlich, wenn Jef die Schrullen und Macken ihrer Mitstipendiaten in der Villa Strand kommentiert – kurz, trocken, pointiert. Einzig die verwirrte Alte, Therese, macht etwas mit ihr. Deren Gebrabbel in der dritten Person scheint so verwirrt gar nicht zu sein, ja scheint überdies einen gordischen Knoten in Jefs innerem Gefühlschaos zu lösen. Schade nur, dass man nie erfährt, in welchem Verhältnis dieses Wesen zur etwas abgehobenen Vermieterin Gerburg Strand tatsächlich steht. Ganz auf sich allein gestellt, nach Abreise der übrigen Stipendiaten, findet Jef Vertrauen zu ihrer eigenen Kreativität. Plötzlich kann sie, wie selbstverständlich, sehr persönliche Fotos zu einem Kunstwerk zusammenfügen. Franziska Hauser nimmt uns Leser also mit, gibt uns eine Ahnung vom Wesen der Kunst. Fazit: Man muss „Keine(r) von ihnen“, also kein Künstler sein oder sich fortwährend mit Kunst umgeben. Vielmehr lässt sich nach der Lektüre des Romans vielleicht leichter in einen Dialog treten mit Menschen, die Kunst schaffen. Gudrun Ruthenberg
Franziska Hauser: Keine von Ihnen, Eichborn Verlag, gebundene Ausgabe 304 Seiten, 23 Euro