Über Jahrmillionen haben Retroviren ihr Erbmaterial in die DNA menschlicher Wirtszellen einbauen können, weshalb etwa acht Prozent unserer gesamten Erbsubstanz retroviralen Ursprungs ist. Die Funktion der Viren-Anteile im Genom ist noch weitgehend unbekannt.
Über einen gewaltig langen Zeitraum, beginnend vor 40 bis 70 Millionen Jahren mit den gemeinsamen Vorfahren der heutige Menschen und Menschenaffen, ist es Retroviren gelungen, ihre Spuren in deren Genom zu hinterlassen. Und nicht gerade wenige, wie aus den 2001 veröffentlichten Ergebnissen des Humangenomprojekts entnommen werden kann, eines internationalen Forschungsprojekts, das sich die komplette Entschlüsselung des menschlichen Genoms zum Ziel gesetzt hat. Demnach stammen große Teile unseres Erbguts aus viraler DNA, die von Retroviren dort eingebaut wurden, als diese unsere Vorfahren infiziert hatten. Diese viralen Sequenzen machen fünf bis neun Prozent des gesamten menschlichen Genoms aus, wobei meist mit den Werten acht bis achteinhalb Prozent gearbeitet wird. Im Vergleich zu den nach neuesten Erkenntnissen exakt 19.969 proteinkodierenden Genen, die für die Einzigartigkeit des Menschen allein verantwortlich sind und dennoch gerade mal 1,5 Prozent des gesamten Erbguts ausmachen, dann doch eine imposante Menge.
Die Funktion der Virus-Anteile im menschlichen Genom ist noch weitgehend unbekannt. Lange wurden die Retroviren, die für viele der großen Seuchen von Pocken bis Aids verantwortlich waren, vornehmlich wegen ihrer Killerfähigkeiten gefürchtet. Vor diesem Hintergrund schien das Verhältnis zwischen dem Menschen und seinen Zellen sowie den Krankheitserregern im Laufe der Evolution von einem regelrechten gegenseitigem Wettrüsten bestimmt zu sein, in dessen Verlauf die Mehrzahl der Viren durch Anpassung, Mutation und Selektion ihre schädliche bis tödliche Wirksamkeit verloren, dafür aber ihren menschlichen Wirt länger nutzen konnten. Inzwischen vertreten jedoch einige Wissenschaftler sogar die Meinung, dass die Retroviren, genauer gesagt die sogenannten Endogenen Retroviren (ERV; endogen = im Körper selbst, im Körperinneren entstehend, von innen kommend), einen ganz entscheidenden Beitrag zur menschlichen Evolution geleistet haben. Sie besitzen die Fähigkeit, durch Infektion der Keimbahnen, sprich das Eindringen in eine Ei- oder Samenzelle, ihr Genom von Wirte-Generation zu Wirte-Generation weiterzugeben.
Nicht nur dienstbare Helfer
Ein erstes Indiz dafür war der geradezu sprunghafte Anstieg des Anteils der Viren-Gene im Erbgut bei jedem größeren stammesgeschichtlichen Schritt in der Entwicklung der Säugetiere, beispielsweise bei der Entstehung der Primaten. US-Forscher hatten 2016 in einer im Magazin „Science“ veröffentlichten Studie eine wichtige Rolle der stillgelegten Viren im menschlichen Immunsystem nachweisen können: „Sie sind nicht mehr infektiös, sondern helfen uns heute bei der Virenabwehr.“ Ähnliche Erkenntnisse hatte Frank Ryan von der Universität Sheffield auch vorher schon beschrieben: „Viren spielen mit unserem Immunsystem herum. Sie dringen darin ein und manipulieren es. Dieses Verhalten ist typisch für Viren. Das heißt: Wir werden von Viren fremdgesteuert, die auf unseren eigenen Chromosomen sitzen.“
Auch an der Entstehungsgeschichte der Säugetiere hatten Viren einen großen Anteil. „Wir Menschen halten heute nur unsere Babys auf dem Arm, weil ein paar findige Zellen in der Bauchhöhle der ersten Säugetiere einige Retroviren gekapert und für ihre eigenen Zwecke eingespannt haben“, so der Berliner Retroviren-Spezialist Prof. Joachim Denner in einem „FAZ“-Beitrag. „Ein Kind mit Blutkontakt zur Mutter ist eigentlich wie ein Transplantat: fremdes Gewebe. Das dürfte es nach den Gesetzen der Immunologie nicht geben.“ Dass es mit der Schwangerschaft dennoch seit Millionen von Jahren klappt, hat mit den Bausteinen eines uralten, längst integrierten Retrovirus zu tun: „Diese Bausteine“, so Prof. Denner, „schwimmen an der Grenzschicht zwischen mütterlichem und kindlichem Blut und halten die Immunzellen zum Narren.“
Allerdings sind die endogenen Retroviren heute leider nicht immer nur dienstbare Helfer, weil manche der sogenannten Humanen endogenen Retroviren (HERV) stark im Verdacht stehen, an der Krebsentstehung, an der Entwicklung von Autoimmunerkrankungen und auch an der Ausbildung von neurologischen Gesundheitsschäden beteiligt zu sein.
Retroviren konnten menschliche Zellen wohl nur deshalb so erfolgreich erobern, weil sie gerade mal drei Gene benötigten, um sich im Körper zu etablieren. Eines für das Andocken an die Zelle. Danach kommt die sogenannte Reverse Transkriptase ins Spiel, die in der menschlichen Zelle für die Umwandlung der Viren-RNA in eine Viren-DNA verantwortlich ist. Diese wird dann anschließend dank der sogenannten Integrase, die das Erbgut der Wirtszelle an einer beliebigen Stelle aufschneidet, die Viren-DNA einbaut und wieder verschließt, in den Genpool der menschlichen Zelle eingebaut. Danach können die Virus-Genome in aller Ruhe auf das Kopieren und die Weitergabe bei der nächsten Zellteilung warten. „Im kolonisierten Zellkern haben sie nichts zu befürchten“, so Prof. Denner gegenüber der „FAZ“. „Zwar sucht dort eine Reparase nach Fehlern in der DNA, aber sie wird erst bei der Zellteilung aktiv, um sicherzustellen, dass das Erbgut der Tochterzellen mit dem der Mutterzelle übereinstimmt. Ein System, das nach Sequenzen sucht, die in der Zeit zwischen zwei Teilungen eingeschleust wurden, gibt es nicht.“
Irgendwann im Laufe der Evolution gelang es gewissen Retroviren, sich in Ei- beziehungsweise Spermienzellen einzunisten und als endogene Retroviren ihr Genom weitervererben zu lassen. Da sämtliche Körperzellen durch Teilung aus einer befruchteten Eizelle hervorgehen und die integrierte Virus-DNA jede Zellteilung mitmacht, ist das Virus-Genom dann in allen Körperzellen enthalten.
„Ohne sie wäre Homo sapiens nicht denkbar“
Zwar wurden erste Erkenntnisse über die viralen Bausteine des Menschen schon vor gut 50 Jahren gewonnen, doch schenkte man ihnen zunächst kaum größere Beachtung. „Zuerst hielt man sie alle für Müll“, so Prof. Denner, „bedeutungslose Reste vergangener Infektionen. Dann wurde klar, dass es oft Schlüsselstellen sind, an denen sie sitzen. Nicht überflüssig, sondern unverzichtbar … Ohne sie wäre Homo sapiens wohl nicht denkbar.“
Eine im Oktober im Fachjournal „Plos Biology“ publizierte Studie konnte neue Informationen über uralte Viren-DNA in unseren Zellen liefern. Bislang war man davon ausgegangen, dass HERV-DNA vor allem in krankem Gewebe aktiv sei und aus diesem Grund als hilfreicher Biomarker für krankes oder kanzeröses Gewebe dienen könne. Nun konnte ein Team der Bostoner Tufts University unter Federführung von Prof. Jean Coffin nach Auswertung von Proben von 1.000 Personen auf einen als besonders aktiv geltenden Subtypus von Virenresten namens HML-2 belegen, dass dieser in allen Geweben und Körperteilen aktiv war, sprich abgelesen und transkribiert wurde, unabhängig davon, ob das Gewebe gesund oder krank war. Die mit Abstand höchste Aktivität der HERVs konnte im Kleinhirn, der Hypophyse, den Hoden und in der Schilddrüse ermittelt werden, auch weitere Teile des Gehirns und des Nervensystems zeigten eine erhöhte HML-2-Expression, während im Blut oder in der Bauchspeicheldrüse HERVs kaum abgelesen werden konnten.
Auffällig war, dass die evolutionär ältesten Virusreste deutlich aktiver waren als jüngere, die erst vor einigen Hunderttausend Jahren in die menschliche DNA integriert worden waren. „Diese Daten sprechen dafür, dass HERV unterschiedlichen Alters unterschiedlich stark vom menschlichen Genom kontrolliert werden“, so die Forschenden. Ältere Virenreste könnten durch die lange Anpassung eigene Mechanismen entwickelt haben, um die Kontrolle zu unterlaufen, während jüngere HERV offenbar noch recht gut vom Genom unter Kontrolle gehalten werden können.