Die Invasion Russlands war ein Beben für die westliche Wertegemeinschaft. Über Jahre hatte man gehofft, durch Handel und Diplomatie Kriege in Europa frühzeitig unterbinden zu können. Es kam anders. Eine Chronik der Ereignisse
In den vergangenen Monaten haben sich die Ereignisse in der Ukraine überschlagen, die Lage bleibt unübersichtlich. Eine Rekapitulation der einzelnen Kriegsphasen:
Die Annexion der Krim 2014
Zwar beginnt der russische Angriffskrieg auf die Ukraine erst im Februar 2022, seine Wurzeln liegen aber durchaus weiter zurück. Schon 2014 annektierte Russland mithilfe von „Grünen Männchen" – russischen Soldaten ohne Hoheitsabzeichen – die ukrainische Halbinsel Krim. Es war ein offensichtlicher Verstoß gegen die europäische Friedensordnung und ein Bruch mit dem russisch-ukrainischen Freundschaftsvertrag von 1997, der die Souveränität der Ukraine in den damaligen Grenzen gewährleisten sollte. Auch außerhalb der Krim kam es – befeuert durch anti-ukrainische Propaganda und russische Unterstützung – zu Gefechten und schließlich zur Herausbildung von prorussischen Volksmilizen in den Regionen Donezk und Luhansk. Auch hier kämpften de facto russische Soldaten mit, obwohl der Kreml und damit Wladimir Putin das Narrativ verbreitete, diese seien nur „in ihrer Freizeit" dort und nicht im Rahmen einer militärischen Operation Russlands.
Trotz verschiedener internationaler Versuche, zu der Befriedung der Region beizutragen, hielten die Kämpfe, auch mit schweren Waffen, bis zum offenen Kriegsausbruch 2022 an, auch wenn die Waffenstillstandsverletzungen mit der Zeit etwas abnahmen. Ab dem Frühjahr 2021 zeichnete sich dann für die amerikanischen Geheimdienste eine Veränderung in der Situation ab, als massive russische Truppenverlegungen an die russisch-ukrainische, aber auch an die belarussisch-ukrainische Grenze festgestellt wurden. Eine Eskalation in einen offenen Krieg wurde – auch wenn die damaligen politischen Akteure in der EU weiter auf Frieden hofften – immer wahrscheinlicher. Die Anerkennung der separatistischen Volksrepubliken Donezk und Luhansk durch Russland am 21. Februar 2022 – nicht in den Grenzen der umkämpften Gebiete, sondern der Gesamtgröße der ukrainischen Oblasten (Verwaltungsgebiete) – kann als letzte relevante Handlung vor dem Krieg angesehen werden.
Die erste Offensive
Am 24. Februar passierte dann das, was für viele bis dato unvorstellbar war: Russland erklärte der Ukraine den Krieg, der bis heute von den russischen Bürgern unter Androhung von Strafe nur „Spezialoperation" genannt werden darf. Das erklärte Ziel Putins war die „Befreiung" der Ukraine, ein Sturz der Regierung von Präsident Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj, der Putin eine rechte Gesinnung unterstellte. Angelegt war die Invasion auf maximale Kriegserfolge innerhalb weniger Tage. Insbesondere von Belarus aus stießen große Verbände von Bodentruppen in kürzester Zeit in Richtung der ukrainischen Hauptstadt Kiew vor. Doch dieser Vormarsch kam schnell zum Erliegen und in nur 30 Kilometern Entfernung von der Hauptstadt bildete sich eine riesige Schlange aus Kriegsgerät, das nicht weiter vorrücken konnte. Grund dafür waren unter anderem ukrainische Landbesitzer, die ihren Grund fluteten und ihn so unbefahrbar machten, sowie erfolgreich abgestimmte Aktionen der ukrainischen Streitkräfte, die durch Ablenkungsmanöver Lücken für gezielte Angriffe auf den Konvoi schufen. Ende März blieb Putins Truppen nur noch der Abzug aus dem Norden, um weiteren Verlust von Material und Soldaten zu vermeiden.
Doch in den Kommunen, in denen die russischen Truppen Fuß fassen konnten, hinterließen sie Angst und Schrecken. Besonders die Ortschaft Butscha wurde, als die Gräuel der Besetzung nach der Rückeroberung nicht länger zu verbergen waren, zum Symbol der russischen Kriegsverbrechen an der Bevölkerung: Bis zum Ende der Untersuchungen im August 2022 wurden 458 Leichen gefunden, von denen mehr als 400 Anzeichen von Folter und Erschießungen aufwiesen. Die meisten Toten waren Zivilisten. Auch in anderen Städten wurden im weiteren Kriegsverlauf Massengräber und Spuren von Ermordungen und Misshandlungen gefunden.
Im Osten der Ukraine konnte Russland jedoch Geländegewinne bis nach Charkiw und um die Hafenstadt Mariupol bis nach Cherson verzeichnen. Während letztere aber bereits im März fiel, hielten einige Verteidiger des ehemals rechten Asow-Regiments Mariupol und das zur Stadt gehörende Stahlwerk noch bis zum 20. Mai. Durch ihren Einsatz gegen Unmengen von russischer Artillerie, die die Stadt in Schutt und Asche legte, verschafften sie der Ukraine wertvolle Zeit, sich auf die veränderte Situation einzustellen. Dazu gehörte von Anfang an auch die Bitte um Waffen und militärisches Gerät an die USA und die Länder der Europäischen Union.
Die Donbass-Offensive
Mit dem Rückzug aus dem Norden – und damit aus der Region um Kiew – sowie schließlich dem Fall von Mariupol änderte sich Stück für Stück die Strategie Russlands. Statt weiter auf den schnellen Regime-Sturz zu setzen, wurden Truppen nach Luhansk verschoben, um ein weiteres Kriegsziel, die „Befreiung" der vollständigen Gebiete der beiden im Februar von Russland anerkannten „Volksrepubliken", voranzutreiben. Zentral war dabei die Eroberung der Stadt Sjewjerodonezk in der Oblast Luhansk am 25. Juni. Trotz dieses Erfolges kam Putins Heer jedoch immer weniger vom Fleck und bekam es laut Geheimdienstberichten zunehmend mit Munitionsengpässen, insbesondere bei moderner Munition, zu tun. So wurden beim Angriff auf Krementschuk am 27. Juni beispielsweise statt moderner Lenkwaffen solche benutzt, die noch aus sowjetischen Beständen stammten. Zusätzlich setzten erfolgreiche Aktionen ukrainischer Partisanen hinter der Frontlinie die russischen Soldaten unter Druck.
Auch im Bereich der Marine konnte Russland die eigene Vormachtstellung nicht nachhaltig verbessern: Es gelang der Ukraine schon Mitte April, das größte Schiff der russischen Schwarzmeerflotte, die Moskwa, zu versenken. Am 30. Juni mussten die Russen schließlich auch die für strategische Zwecke wichtige Schlangeninsel aufgeben, um weitere kostspielige Verluste zu verhindern. Statt die Küste der Ukraine zu dominieren, wurde die russische Flotte in dieser Zeit über die Krim zunehmend ins östliche Schwarze Meer in Sicherheit gebracht.
Stellungskämpfe in den monaten Juli und August
Obgleich es immer wieder Versuche russischer Soldaten gab, die Frontlinien zu verschieben, kam es im Juli und im August kaum zu relevanten Geländegewinnen, nachdem Sjewjerodonezk und Lyssytschansk in der Region Luhansk gefallen waren. Ein Grund dafür sind auch die neuen westlichen Kampfsysteme, die in dieser Phase des Kriegs an die Ukraine geliefert wurden. Mit dem HIMARS-Artilleriesystem der USA war es den ukrainischen Streitkräften beispielsweise möglich, auch Ziele anzugreifen, die sich weit hinter der eigentlichen Front befanden, etwa Munitionsdepots, Kommandostände oder Verpflegungslager. Das bremste den Vormarsch der Russen gravierend aus. Als besonderer Erfolg ist dabei der Angriff 9. August auf den Militärflugplatz Saky am auf der annektierten Krim zu nennen, bei dem zahlreiche Flugzeuge sowie Munition Russlands zerstört wurden.
Gegen Ende dieses Kriegsabschnitts verlegte Russland zunehmend Truppen über den Fluss Dnipro nach Cherson, da der Kreml mit einer ukrainischen Offensive im Süden des Landes rechnete. Die Ukraine reagierte auf diese Truppenverlegungen mit gezielten Angriffen auf die Flussquerungen, was die Logistik der Invasoren weiter beeinträchtigte.
Große Rückeroberungen
Zwischen September und Anfang November kam es dann zu großen Erfolgen für die ukrainische Armee. Durch den stetigen Druck im Süden, der eine Menge russischer Soldaten band, konnten die ukrainischen Streitkräfte, nachdem die russische Front bei Balaklija im Nordosten zusammenbrach, binnen weniger Tage weite Teile des Oblast Charkiw zurückerobern. Daraufhin folgte über die Stadt Lyman (Oblast Donezk) ein Vorstoß bis ins Oblast Luhansk. Gleichzeitig gewann die Ukraine auch erste Areale im Süden, westlich des Dnipro, zurück.
Diese Misserfolge werden einen direkten Einfluss auf Putins Entscheidung gehabt haben, am 21. September die Teilmobilmachung Russlands zu beginnen, in deren Rahmen nach offiziellen Angaben bis zu 300.000 Russen für den Krieg eingezogen werden sollten. Neben dem dabei durch schlechte Organisation entstandenen Unmut verbreitete sich durch staatskritische russische Medien wie der Internetzeitung „Meduza" die Information, dass es laut geschwärzten Passagen in dem Dekret zu einer Mobilmachung von mehr als einer Millionen Russen kommen könnte. Viele junge russische Männer versuchten als Reaktion auf die Mobilmachung für die „Sonderoperation", das Land zu verlassen.
Zwischen dem 23. und dem 27. September kam es dann zum nächsten Eklat seitens Russlands: In den besetzten Teilen der Oblasten Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja wurden Scheinreferenden zur Vereinigung mit der Russischen Föderation abgehalten, auch wenn diese Regionen nur teilweise durch russische Streitkräfte besetzt waren. Kurz darauf wurden die Regionen, die angeblich bei hoher Wahlbeteiligung in überwältigender Mehrheit für einen Anschluss gestimmt hätten, in einem feierlichen Akt in Moskau in Russland aufgenommen. In seiner Ansprache erklärte Putin den Krieg auch als Reaktion auf einen westlichen Kulturimperialismus, der beispielsweise Homosexualität an Schulen fördere und die russischen Wertvorstellungen bedrohe.
Dass die Zustimmungswerte der Referenden – in allen über 87 Prozent pro Russland – nicht der Realität entsprechen konnten, zeigte sich wenig später: Durch Erfolge der Ukraine sah sich Russland gezwungen, am 9. November den Rückzug aller Soldaten in der Südukraine, die westlich des Flusses Dnipro stationiert waren, anzuordnen. So fiel auch die Stadt Cherson wieder in ukrainische Hände und die Soldaten wurden freudig empfangen. Einen Tag zuvor war es – gesteuert durch die Ukraine – zu einer enormen Explosion auf der russischen Krimbrücke gekommen, die ein Prestigebau Putins nach der Annexion der Krim war.
Russische Attacken auf die zivile Infrastruktur
Auch wenn Thinktanks wie das Institute for the Study of War (ISW) in diesem Winter von weiteren Offensiven ausgehen, sobald die Böden gefroren sind und sich beispielsweise Panzer wieder besser über das freie Feld bewegen können als im Schlamm, bleibt der Frontverlauf aktuell eher statisch. Verfügt das russische Heer zwar über wesentlich mehr Soldaten als die ukrainische Seite, so scheint diese ihr Kriegsgerät, besonders das moderne, sehr effizient einsetzen zu können, während Russland nach Berichten aus US-Militärkreisen zunehmend auf Munition und Gerät zurückgreifen muss, die bis zu 40 Jahre alt sind. Um sich in diesem Winter aber doch noch einen Vorteil zu verschaffen und die Zivilbevölkerung zu demoralisieren, greift Russland die Energieinfrastruktur der Ukraine an, auch mithilfe einer großen Anzahl iranischer Drohnen. Das Resultat sind flächendeckende Stromausfälle, die alle betreffen: Ärztliche Behandlungen müssen immer wieder abgebrochen werden, Kochen wird zum Glückspiel und mehr und mehr Menschen leiden an der Kälte dieses Winters. Mithilfe von Generatoren aus dem Ausland sowie Wärmestuben versucht die politische Führung sich gegen die Auswirkungen der Beschlüsse Moskaus zur Wehr zu setzen. Sollte es zu einem langen und harten Winter kommen, ist dennoch nicht auszuschließen, dass die Moral der Verteidiger durch den Terror schwer in Mitleidenschaft gezogen werden könnte.
Aber auch die Ukraine trifft weit hinter der Grenze: Bilder von Detonationen auf russischen Militärstützpunkten erreichen uns in den letzten Tagen häufiger und im Kreml wird anscheinend beratschlagt, wie man auf die Angriffe im Inland reagieren solle. Dabei blicken auch die Länder des Westen gespannt nach Moskau, denn es ist davon auszugehen, dass diese Angriffe insbesondere gegen Flugstützpunkte nicht ohne europäisches und amerikanisches Gerät möglich gewesen wären. Ob Putin, der zunehmend auch vonseiten der eigenen Bevölkerung unter Druck gerät, diesen Faktor in seiner Bewertung der Lage ausblenden wird, bleibt abzuwarten.
Ausblick
Eine Prognose für das Jahr 2023 ist aktuell nur schwer möglich. Klar ist, dass derzeit weder die EU noch die USA bereit sind, ihre Unterstützung für die Ukraine zu reduzieren. Das schließt neben Waffenlieferungen Geld für den Wiederaufbau befreiter Gebiete und direkter Hilfen, um für den Winter gerüstet zu sein, mit ein. Auf der anderen Seite ist ein schnelles Kriegsende kaum vorstellbar. Putin hat schon zu viel investiert, Menschen wie Material, um sich gesichtswahrend aus der Ukraine zurückziehen zu können. Auch wird die Ukraine weder die neu annektierten Gebiete anerkennen noch den Status der Krim, sollten der Winter und russische Erfolge sie nicht in die Knie zwingen. Welches Potenzial die Nachrichten über unzählige tote Soldaten auf die Bevölkerung in Russland haben und ob diese in der Lage wäre, ein Umdenken im Kreml zu erzwingen, bleibt ebenfalls reine Spekulation – auch weil Putin vor und während dem Krieg diverse Gesetze erlassen hat, um Opposition und Kritik an seiner Politik im Keim zu ersticken.