Das erste Jahr der ersten Ampel-Regierung in Deutschland sollte im Zeichen eines „neuen Politikstils" stehen. Dann kamen mit Putins Krieg die „Zeitenwende" und ein Dauerkrisenmanagement.
Es sah alles so harmonisch aus Anfang des Jahres. Die neue Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP unter Olaf Scholz hatte tolle Tage der Koalitionsverhandlungen mit putzigen Selfies hinter sich. Nach dem Kanzler machte dann sein Vize, der Wirtschafts- und Klimaminister, am 11. Januar den Auftakt zum neuen Regierungshandeln. Ohne es zu ahnen, sollte Robert Habeck bereits in seiner ersten großen Pressekonferenz im Amt das alles bestimmenden Wort des Jahres schon vorwegnehmen: Gas.
Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Habeck verkündet bei seiner Klimaeröffnungsbilanz dem Publikum seinen Plan: Die Kohlekraftwerke sollen so schnell abgeschaltet beziehungsweise auf Gas umgerüstet werden, wie es überhaupt möglich ist. „Gas ist im Rahmen der Energiewende die Brückentechnologie", verkündete Habeck der Öffentlichkeit und verwies darauf, dass Kohle weit mehr CO2-Emissionen verursachen würde als Gas, weshalb Gas aus ökologischer Sicht übergangsweise vertretbar sei.
Olaf Scholz hielt sich bedeckt
Seine Grünen Parteifreunde schluckten die Gas-Kröte, schließlich sollten ja auch noch die Atomkraftwerke bis Ende des Jahres 2022 abgeschaltet werden – das Urversprechen der Grünen seit ihrer Parteigründung vor gut 40 Jahren. Robert Habeck entwickelte sich zu Jahresbeginn zum Superstar der neuen Bundesregierung.
In der Umfrage-Beliebtheitsskala hatte da aber noch ein anderer die Nase vorn: Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Der SPD-Politiker, den Bundeskanzler Olaf Scholz dem Vernehmen nach nur unwillig ins Kabinett berufen hat, sollte Deutschland sicher durch die Corona-Krise führen. Nun in Amt und Würden, blieb der sich einigermaßen treu, verkündete auf zahlreichen Pressekonferenzen viele Schreckensszenarien, die dann doch nicht ganz so eintrafen. Vieles sah nach unabgestimmten Alleingängen aus. Trotzdem trauten die meisten Bundesbürger ihm zu, mehr Ordnung in die Corona-Politik zu bringen. Lauterbach war zu diesem Zeitpunkt auf der politischen Überholspur.
Der Dritte der Auftakt-Ampel war Finanzminister Christian Lindner, der ganz FDP-like auf die Einhaltung der Schuldenbremse drängte. Die war in den vorangegangenen zwei Jahren pandemiebedingt ausgesetzt worden. So musste Lindner erst einmal einen Haushalt 2022 verwalten, den er nicht selbst aufgestellt, sondern pikanterweise von seinem Vorgänger und jetzigem Chef Olaf Scholz geerbt hat.
Von Olaf Scholz ist in den ersten Monaten wenig bis gar nichts zu hören. Der Kanzler lässt seine Regierungsmannschaft machen und versucht den ersten schwelenden Streit zwischen Grünen und FDP um den Stopp der Pipeline Nord Stream 2 wegzuschweigen. „Wo ist Olaf Scholz?" fragen bereits zu diesem Zeitpunkt selbst sonst wohlmeinende Zeitungen angesichts der Omnipräsenz von Lauterbach, Habeck und Lindner.
Der 24. Februar, Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs von Russland auf die Ukraine, verändert die komplette politische Agenda. Drei Tage danach, am Sonntag, 27. Februar, wird der Bundestag zu einer Sondersitzung zusammengerufen. Bundeskanzler Scholz prägt den Begriff der „Zeitenwende" und kündigt ein „Sondervermögen Bundeswehr" von 100 Milliarden Euro an, macht sich ansonsten zunächst einmal weiterhin rar in der Öffentlichkeit.
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) profiliert sich in dieser Situation, spricht Klartext auf der internationalen Bühne und erntet dafür reichlich Anerkennung. Uneingeschränkte Solidarität und Unterstützung für die angegriffene Ukraine zusichern ist das eine, das in konkrete Taten umzusetzen das andere. Für die Grünen wird es das Jahr, in dem sie etliche ihrer essenziellen Kernpunkte der Realität des Krieges und seiner Folgen anpassen müssen. Baerbock spricht sich für Waffenlieferungen aus deutschen Beständen an die Ukraine aus – für mehr, als eigentlich machbar scheint. Anton Hofreiter, Ex-Fraktionschef der Grünen und jetzt Vorsitzender des Europa-Ausschusses, der nach der Annexion der Krim noch gegen Waffenlieferung an die Ukraine war, entwickelt sich jetzt zum detailversessenen Befürworter. Es sind die Tage der Tiernamen für Militärfahrzeuge: Marder, Leopard oder Fuchs, dazu Panzerhaubitzen, die auf der Wunschliste der Ukrainer stehen.
Deutscher Schlingerkurs
Aber es knirscht im deutsch-ukrainischen Verhältnis. Während sich höchste Repräsentanten von Unterstützerländern die Klinke in Kiew zu symbolischen Solidaritätsbesuchen in die Hand drücken, erfährt Bundespräsident Steinmeier, gerade auf Staatsbesuchstour in Polen, dass er nicht willkommen sei. Der ukrainische Präsident Selenskyj wirft dem deutschen Staatsoberhaupt massive Fehler im Verhältnis zu Russland in seiner Zeit als Kanzleramts- und auch als Außenminister vor. Daraufhin verzichtet der Bundeskanzler seinerseits im Mai auf eine Stippvisite in Kiew – mit der Begründung, er halte wenig von solchen Showterminen. Damit bringt er auch nicht wenige Staatschefs der anderen Staaten gegen sich auf, die für ein paar Stunden in Kiew bei Selenskyj vorbeigeschaut haben. Dafür muss sich der Bundeskanzler vom Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, als „beleidigte Leberwurst" beschimpfen lassen. Diplomatisch ein einmaliger Vorgang.
Friedrich Merz sieht die Chance, sich als frisch gewählter CDU-Bundeschef und Oppositionsführer im Bundestag zu profilieren. Merz war am 31. Januar im dritten Anlauf als CDU-Bundesparteichef und am 15. Februar als Unions-Fraktionschef gewählt und damit Oppositionsführer worden. Er bricht zu einem eigenen Besuch in Kiew auf und provoziert damit erneut die Frage: Wo ist Olaf Scholz? Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hatte die Union im Bundestag eine „konstruktive Opposition" angekündigt. Merz versucht, der Opposition sichtbares Profil zu geben, und nutzt jede Chance, um ein paar gute Schlagzeilen zu produzieren.
Olaf Scholz wird später doch noch nach Kiew fahren, in symbolisch europäischer Mission zusammen mit Frankreichs Präsident Macron und Italiens Ministerpräsident Draghi. In der Heimat braut sich unterdessen für die Bundesregierung und Bundeskanzler Scholz weiteres Ungemach zusammen. Es geht um die Bewältigung der massiven Folgen des Krieges, bei dem für Putin auch Energie eine Waffe ist, und der Sanktionen mit ihren Rückwirkungen. Nach einer Nachtsitzung steuert die Bundesregierung gegen, das 9-Euro-Ticket wird geboren, um ÖPNV-Berufspendler zu entlasten. Die FDP setzt dazu den Tankrabatt durch – mit mäßigem Erfolg. Die Preise sinken nicht wirklich und schon gar nicht in dem Maß, wie es die Mehrwertsteuerabsenkung hätte ergeben müssen. FDP-Chef Lindner gibt in dieser Phase kein sonderlich gutes Bild ab.
In die Schlagzeilen gerät aber Robert Habeck mit der Idee einer „Gas-Umlage". Der Gaspreis hatte sich bereits nach der Verkündung des Wechsels von Kohle auf Gas bei der Stromgewinnung im Januar innerhalb von zehn Tagen verdoppelt, noch vor Ausbruch des Kriegs. Jetzt stand die Frage im Raum: Wie lange liefert Russland überhaupt noch Gas über Nord Stream 1? Die Inbetriebnahme von Nordstream 2 war als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg bereits abgesagt worden.
Bei Union noch vieles ungeklärt
Die Gaspreise hatten sich im Sommer 2022, je nach Lesart der Gasanbieter, mindestens versechsfacht. Der Bundeswirtschafts- und Energieminister plant nun die Gas-Umlage, die den Preis für die Verbraucher nochmal nach oben treiben würde. Es dauert Wochen, bis der Bundeskanzler selbst ein Machtwort spricht und die Gas-Umlage beerdigt.
Die erneute Frage, wo Scholz sei, beantwortet der Kanzler jetzt mit seinem „Doppel-Wumms". 200 Milliarden Euro Hilfen für Bürger und Unternehmen, um die explodierenden Energiepreise bezahlen zu können, finanziert über einen weiteren Schattenhaushalt – im Fachjargon „Sondervermögen".
Das bringt wiederum Bundesfinanzminister Christian Lindner in die Bredouille. Der hat Mühe, die erneuten Schulden zu erklären. Er war angetreten als der liberale Ordnungspolitiker, der Herr der Schuldenbremse in der Ampel. Jetzt muss er Schulden machen, dass es kracht. Dem Grünen Robert Habeck geht es ähnlich. Er wollte der Meister der Energiewende werden. Im Herbst 2022 werden dann die Kohlekraftwerke wieder hochgefahren, die Laufzeiten der drei noch verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland um drei Monate verlängert, nachdem Scholz dem Zwist um die Laufzeitverlängerung zwischen FDP und Grünen in der Regierung per Richtlinienkompetenz ein Ende gesetzt hat. Obendrein muss Habeck auf LNG-Betteltour gehen, unter anderem in Katar, dem vielgescholtenen WM-Gastgeberland. Als Landesminister für Umwelt in Schleswig-Holstein hatte sich Habeck den LNG-Terminals erfolgreich verweigert. Nun legt er als Bundesminister dafür die Grundsteine.
Ende 2022 kommt auch Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht in die Kritik. Ihre Ministerin-Performance war nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar mehr von Pannen als Erfolgen gekennzeichnet. Ende des Jahres wird einmal mehr klar, dass sich am bekanntermaßen jämmerlichen Zustand der Bundeswehr wenig bis nichts geändert hat, Munitionsmangel inbegriffen.
Am Ende des Jahres bleibt eine gerupfte Bundesregierung zurück. Ein Wirtschafts- und Klimaminister, der Kohlekraftwerke wieder in Betrieb nehmen muss. Ein Finanzminister, der bei fast 350 Milliarden Euro an neuen Krediten noch immer die Schuldenbremse verteidigt. Eine Außenministerin, die zwar mit taffen Auftritten Aufmerksamkeit gewinnt, aber keine klare Strategie erkennen lässt. Am Ende hat vor allem Bundeskanzler Olaf Scholz, zunächst viel gescholten, an Kontur gewonnen.
Friedrich Merz hat als Oppositionsführer zuletzt beim Bürgergeld und der Staatsbürgerschaftsdebatte für Aufmerksamkeit gesorgt. Wie sich die CDU inhaltlich und personell neu aufstellen wird, ist aber ein Jahr nach der Bundestagswahl-Niederlage nicht erkennbar. Nach dem Sieg bei der Landtagswahl scheint sich um Hendrik Wüst in Nordrhein-Westfalen ein neues parteiinternes Machtzentrum zu entwickeln, doch vieles in der Union ist noch ungeklärt.