Am 10. Januar 1863 nahm auf einer sechs Kilometer langen Strecke im Londoner Untergrund weltweit erstmals eine U-Bahn ihren Fahrbetrieb auf. Das neue Verkehrsmittel konnte damit das riesige Verkehrsproblem in der damals größten Metropole der Welt lösen.
Der gesellschaftlich glamouröse Teil der Eröffnungsfeierlichkeiten rund um die erste U-Bahn der Welt ging am 9. Januar 1863 über die Bühne. Rund 700 geladene Gäste und Aktionäre der Betreibergesellschaft „Metropolitan Railway“ hatten sich an jenem Freitagabend in Farringdon zu einem Gala-Bankett eingefunden. Nach zweieinhalbjähriger Bauzeit wollten sie auf die Fertigstellung der rund sechs Kilometer langen Strecke zwischen dem westlich der City of London gelegenen Bahnhof Paddington über die Station King’s Cross ins leicht östlich von der Innenstadt gelegene Farringdon anstoßen. Mit großer Verwunderung wurde das Fernbleiben des britischen Premierministers Henry John Temple, der meist nur Lord Palmerston genannt wurde, zur Kenntnis genommen. Der Premier ließ sich mit dem Hinweis entschuldigen, dass ihm sehr daran gelegen sei, den Rest seines Lebens lieber über der Erde verbringen zu wollen.
Wahrscheinlich hatten ihn die Eindrücke seines Schatzkanzlers William Ewart Gladstone, der am 24. Mai 1862 an der ersten offiziellen Probefahrt in noch gänzlich offenen, an Viehtransporter erinnernden Wagen teilgenommen hatte, zu sehr schockiert. Den Herren dürften in den engen, völlig unzureichend entlüfteten Röhren die vornehmen Klamotten und die Lungen ganz gehörig von Rußpartikeln verdreckt worden sein, die von der die Waggons ziehenden Dampflokomotive ausgestoßen wurden.
Anfangs verspottet, wurde Londons U-Bahn zum Erfolgskonzept
Wie skeptisch und kritisch das für den Verkehr der Zukunft richtungsweisende Großprojekt in breiten Teilen der Londoner Öffentlichkeit damals angesehen wurde, mag ein vielzitiertes Wort des ehrwürdigen Blattes „The Times“ belegen, die die U-Bahn noch 1862 als „eine Beleidigung des gesunden Menschenverstandes“ deklariert hatte. Eine ganze Reihe von Spöttern hatte das gesamte Konzept als „trains in drains“ – Züge in Abflussgräben – höhnisch verunglimpft. Doch schon kurze Zeit nach der Aufnahme des Fahrbetriebs am 10. Januar 1863, als an einem Samstagmorgen um 6 Uhr früh der erste mit Passagieren besetzte Zug vom Bahnhof Paddington aus in den Tunnel Richtung Osten aufgebrochen war und sich an diesem historischen Tag, in dem das Zeitalter des unterirdischen Verkehrs seinen Anfang nahm, stolze 38.000 Menschen mit der neuen U-Bahn hatten transportieren lassen, vollzog „The Times“ eine komplette Kehrtwende in der Bewertung des Projekts: „Die Metropolitan Railway ... ist zu einem großen Erfolg geworden. Die Linie kann als großer technischer Triumph unserer Zeit betrachtet werden.“
Die hohen Benutzerzahlen auf der 18-minütigen Fahrstrecke sprachen für sich, im ersten Jahr lagen sie bei 9,5 Millionen, 1864 sollten sie schon auf zwölf Millionen steigen. Die Waggons, die gemäß der britischen Klassengesellschaft in drei Komfort-Stufen eingeteilt waren, waren zum Schutz vor dem Lokomotiven-Qualm allerdings hochgeschlossen überdacht worden. Sie hatten hohe gepolsterte Sitze und keinerlei Fenster, nur ganz oben unter der Decke schmale Sehschlitze. Zur Innenbeleuchtung wurden anfangs Gaslampen verwendet, die jedoch schon bald durch schummrige Ölfunzeln ersetzt werden sollten. Zeitgenössische Berichte über Klaustrophobie oder häufige Atemnot unter den Passagieren, die durch den Wegfall des anfänglichen Rauchverbots in den Waggons zusätzlich befördert wurde, dürften keine Ammenmärchen gewesen sein.
Die Belüftungsproblematik in den rußgeschwängerten Röhren war vom Betreiber schlicht lange unterschätzt und öffentlich negiert worden. Als sich die Beschwerden nicht mehr totschweigen ließen, ging die Metropolitan Railway mit der grotesken Behauptung in die Offensive, dass die rauchige Atmosphäre geradezu gesundheitsförderlich sei. Sie sei „eine Art Kurort für Menschen, die unter Asthma leiden“. Schwefelhaltiger Rauch habe als „belebende Luft“ sogar einen „vorteilhaften Einfluss“ bei der Behandlung der Krankheit. Männlichen Passagieren wurde aber alternativ auch dazu angeraten, sich lange Bärte zur Absorption der Schwefelpartikel wachsen zu lassen. Gleichzeitig bemühte sich die Metropolitan Railway fieberhaft um den Bau zusätzlicher Luftschächte. Diese sollen allerdings an Stellen, an denen die Dämpfe oberirdisch austraten, regelmäßig zum Zusammenbrechen von Kutscherpferden auf den Straßen geführt haben.
Trotz all dieser frühen Widrigkeiten sollte die Londoner U-Bahn – die ihren populären Spitznamen „The Tube“ (die Röhre) erst viel später, nach der Entwicklung moderner Bohrtechniken, erhalten sollte – schnell zu einem gigantischen, den Aktionären Rekorddividenden bescherenden Erfolg werden. Nicht zuletzt dank des Heers von Arbeitern, die mit dem neuen Verkehrsmittel zu früher Stunde zu extrem günstigen Preisen in die Londoner City anreisen konnten. Die Klassentrennung in den Waggons löste sich nach und nach auf und die britischen Gesellschaftsschichten vermischten sich in der U-Bahn. Natürlich sollte der Metropolitan Railway bald schon gehörige Konkurrenz durch zusätzliche private Unternehmen erwachsen, die ziemlich unkoordiniert weitere, nicht durch Verbindungsstrecken verknüpfte und zunehmend in die Tiefen des Londoner Erdreichs vordringende U-Bahn-Linien in Betrieb nahmen. Das Problem mit der unzureichenden Belüftung sollte in London erst ab 1890 mit der ersten elektrischen U-Bahn, der City and South London Railway, die von Stockwell zur King William Street führte, endgültig behoben werden.
Verkehrskollaps in den Straßen Londons
Die treibende Kraft hinter der Geschichte der weltweit ersten U-Bahn war der Londoner City-Advokat Charles Pearson (1793–1862), der dank seiner politischen Karriere auch zahlreiche Kontakte zu den wichtigsten Entscheidungsträgern hatte. Als Begleiterscheinung der geradezu explosionsartigen Entwicklung Londons zur global größten Metropole Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich an der Themse ein kaum mehr zu bewältigender Verkehrsinfarkt eingestellt. Weil die Eisenbahn-Kopfbahnhöfe aus dem Zentrum verbannt bleiben sollten, also die dampfbetriebenen, gerade mal seit 20 Jahren betriebenen Passagierzüge nicht in die City einfahren durften, wurden täglich sämtliche Straßen und Gassen der Innenstadt von einer wahren Flut von Fuhrwerken, Droschken oder Pferde-Omnibussen regelrecht verstopft. Hinzu kamen täglich bis zu 200.000 Menschen, die sich wegen der nicht mehr bezahlbaren Mieten in der City von weit außerhalb auf langen Fußmärschen zu ihrem Arbeitsplatz im Zentrum begaben.
Schon 1845 hatte Pearson in einem Pamphlet erstmals seinen Plan zum Bau einer „atmosphärischen Eisenbahn“ vorgestellt, worunter er sich eine mit Druckluft betriebene, damals technisch nicht realisierbare U-Bahn von der City zum Bahnhof King’s Cross vorstellte. Dafür hatte er nur Spott und Ablehnung vonseiten der zuständigen städtischen Stellen geerntet. Auch sein 1852 eingereichter Alternativ-Vorschlag zur Errichtung eines neuen Londoner Zentralbahnhofs mitten in der City wurde abschlägig beschieden. Dennoch setzte Pearson seine Lobbyarbeit für einen U-Bahn-Bau unermüdlich fort und zählte daher auch zu den bekanntesten Unterstützern der von verschiedenen Bahnfirmen 1854 gegründeten Metropolitan Railway, die im gleichen Jahr die königliche Erlaubnis zur Errichtung einer unterirdischen Strecke von Paddington nach Farringdon erhielt.
Die Baukosten wurden auf eine Million Pfund taxiert, wobei die öffentliche Hand keinen Penny beisteuern wollte, sondern das gesamte Projekt ausschließlich privatwirtschaftlich gestemmt werden sollte. Die Kostenfrage hatte das zeitweise diskutierte Konkurrenzprojekt einer oberirdischen Schwebebahn aus dem Rennen geworfen, weil die dafür kalkulierte Bausumme von 34 Millionen Pfund als astronomisch bewertet wurde.
Hunderte Häuser abgerissen und neu erbaut
Der Baubeginn der U-Bahn sollte sich jedoch bis zum Mai 1860 hinauszögern, weil angesichts des Engagements Großbritanniens im Krim-Krieg nicht genügend privates Kapital zur Verfügung stand. Zusätzlich gab es jede Menge Ärger mit Hausbesitzern, die durch den U-Bahn-Bau und die etwaigen Vibrationen, die von den unterirdisch fahrenden Zügen erwartet wurden, Schäden an ihren Gebäuden befürchteten. Um Entschädigungen von Hausbesitzern möglichst niedrig zu halten, wurde die Streckenführung soweit möglich unter schon bestehenden öffentlichen Straßen konzipiert.
Dennoch sollte der Abriss Hunderter Wohngebäude nötig sein, die aber nach Fertigstellung des Streckenabschnitts wieder aufgebaut werden mussten. Die Bauarbeiten wurden für die Arbeiter eine regelrechte Maloche, weil sie mit Schippe, Schaufel, Hacke und Spaten das oberflächennahe Erdreich bis in eine Tiefe von rund neun Metern und in einer Breite von gut zehn Metern abtragen mussten. Gebaut wurde nach dem schon bei der Errichtung der ersten großen Abwasserkanäle bewährten Prinzip „cut and cover“ („aufschneiden und abdecken“).
Die Arbeiter mauerten zunächst Ziegelwände, die mit einen gewölbten Dach aus Ziegeln und Eisenträgern verbunden wurden. Anschließend wurde die Konstruktion wieder mit Erde, Straßenbelag oder einem Hausneubau überdeckt. Es kam während der Bauzeit zu vergleichsweise wenigen Unfällen, die allerdings vonseiten der Presse ziemlich aufgebauscht wurden. Hinausgezögert wurde die Fertigstellung des 1,3 Millionen Pfund teuren Projekts vor allem ein durch einen geborstenen Abwasserkanal, der im Juni 1862 den für zwei Gleise mit zunächst unterschiedlich breiten Schienensträngen und sieben unterirdischen Stationen angelegten, rund 8,70 Meter breiten Tunnel flutete.