Schauspielerin Sandra Hüller ist Ehrengast beim 44. Filmfestival Max Ophüls Preis, das vom 23. bis zum 29. Januar stattfindet. Bei einem Werkstattgespräch wird das Publikum ihr auch begegnen können.
Zur besten europäischen Schauspielerin ausgezeichnet zu werden, dürfte für Sandra Hüller den bislang größten Erfolg ihrer Karriere darstellen. Für ihren Part in „Toni Erdmann“ hat die Schauspielerin diesen Titel im Jahr 2016 erhalten. Wohl verdient, denn als pflichtbewusste und recht humorlose Geschäftsfrau liefert Hüller in Maren Ades Film eine schier einzigartige Performance ab – mal zum Heulen, mal brüllend komisch, mal tragisch. Diese charakterliche Vielfalt zeigt Sandra Hüller in jeder Rolle, sei es am Theater oder im Film. Kein Wunder also, dass die 44-Jährige zahlreiche Ehrungen für ihre Arbeiten bekommen hat.
Geboren ist Sandra Hüller 1978 in Suhl in Thüringen. Die Stadt der damaligen DDR verließ sie, um in Berlin an der renommierten Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch ihr Handwerk zu lernen. Auf Engagements brauchte die junge Aktrice nicht lange zu warten. Hüller stand zu Anfang des neuen Jahrtausends auf Bühnen in Jena, Leipzig, Berlin und München, wurde 2003 vom Fachblatt „Theater Heute“ zur Nachwuchsschauspielerin des Jahres gewählt. Und obwohl die Filmbranche schon in diesen frühen Jahren bei ihr anklopfte und sie erste Kurzfilme drehte, blieb sie bis heute dem Theater treu. Vier Titel als „Schauspielerin des Jahres“ erhielt Hüller – 2010, 2013, 2019 und zuletzt 2020.
Das Besondere am Theater sei, so sagte Sandra Hüller im Jahr 2019, dass die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum aufgehoben wird – und das gefalle ihr eben, sagte sie während eines Interviews mit dem Deutschlandfunk. Wenn sich jemand ein Bonbon auspackt oder hustet und erst recht, wenn jemand den Saal verlässt – Schauspielende würden es auf der Bühne merken. Ihre große Liebe bleibe das Theater, die Arbeit vor der Kamera sei ein Flirt. Und auf den Flirt ließ sich Sandra Hüller im Jahr 2005 erstmals für einen Langfilm ein. In „Madonnen“ von Regisseurin Maria Speth spielt Hüller eine Frau, die nach einigen Abwegen versucht, mit ihren vier Kindern ein stabiles Leben zu führen, aber letztlich scheitert. Dass sich Sandra Hüller für ihr Kinodebüt eine so anspruchsvolle Rolle ausgesucht hat, dürfte das Ergebnis ihrer Theatererfahrung sein. Leichte Unterhaltung ist auf der Bühne auch nicht ihr Ding. Ähnlich wie den klassischen Theaterfiguren verleiht Hüller der Frau in „Madonnen“ große Rastlosigkeit und Unruhe. In ihrer zukünftigen Rollenauswahl für Filme blieb Sandra Hüller auch weiter den komplexen Frauenfiguren treu – mit stetig wachsendem Erfolg bei den Kritikern. In „Über uns das All“ (2011) muss sie als Martha erfahren, dass ihr Ehemann ein geheimes Doppelleben geführt hat. In Frauke Finsterwalders Drama „Finsterworld“ (2013) verkörpert Hüller die Dokumentarfilmerin Franziska, die in ihrem Job unzufrieden ist. Und in „Vergiss mein Ich“ (2014) wird anhand einer an Amnesie erkrankten Frau die Frage gestellt, was einen Menschen ausmacht – die Erinnerungen an die Vergangenheit, die erlebte Gegenwart oder die noch zu planende Zukunft?
Spannweite von komisch bis tragisch
In etwa 15 Langfilmen wirkte Sandra Hüller bis 2016 mit – meist in Hauptrollen, in einigen auch in Nebenrollen, aber immer mit großer Intensität, die bei Kritikern und anderen Filmschaffenden für Aufmerksamkeit sorgte – auch bei Maren Ade. Die Regisseurin bereitete ihren neuen Film „Toni Erdmann“ vor. Die Geschichte erzählt von der Beziehung zwischen Winfried, einem Musiklehrer mit Hang zum Scherzen, und seiner Tochter Ines, einer spröden Karrierefrau. Maren Ade bot Sandra Hüller die Hauptrolle an – und die Schauspielerin war anfangs wenig begeistert. Zwar habe sie das Drehbuch gemocht und beim Lesen gelacht, sagte Hüller in einem Interview mit der Zeitung „Der Standard“. Mit der Figur der Ines habe sie sich aber nicht identifizieren können. Erst nach einigen Versuchen näherte sie sich der Ines an – zum Glück, denn „Toni Erdmann“ wurde zu einem internationalen Erfolg und Sandra Hüller erhielt zahlreiche Auszeichnungen – unter anderem den Bayerischen Filmpreis und den Preis der deutschen Filmkritik. Und eben die Auszeichnung als beste Darstellerin bei der 29. Verleihung des Europäischen Filmpreises im Jahr 2016. „Toni Erdmann“ war auch für einen Oscar nominiert, aber Angebote aus Hollywood habe es nicht gegeben, erzählte Hüller in einem Gespräch mit dem Magazin „Ray“.
Nach „Toni Erdmann“ spielte sie in „Fack ju Göhte 3“ die Pädagogin Biggi. Der an der Kinokasse erfolgreiche Film wurde von Kritikern eher negativ aufgenommen, wenngleich Hüller in vielen Artikeln gelobt wurde. Hüller selbst hatte nicht lange gezögert, dem „Göhte“-Cast beizutreten. Die Arbeit sei spannend gewesen und grundsätzlich sei ja das Ziel einer Schauspielerin, für jedes Projekt neue Perspektiven einzunehmen und etwas Neues hinzuzulernen – das sei ihr in „Fack ju Göhte“ gelungen. Dennoch sieht die Pauker-Komödie in Hüllers Filmografie wie ein Fremdkörper aus und der Klamauk bleibt ihr einziger Ausflug in den Mainstream.
In ihren jüngeren Arbeiten zeigt Hüller erneut, wie gut sie komplexe Charaktere darstellen kann: 2018 übernahm sie in Thomas Stubers Melodram „In den Gängen“ den Part einer Süßwarenverkäuferin; im Roadmovie „25 km/h“ (2018) spielte sie unter der Regie von Markus Goller an der Seite von Bjarne Mädel und Lars Eidinger. Weitere Projekte folgten mit dem französisch-belgischen Drama „Sibyl – Therapie zwecklos“ (2019), Maria Schraders melancholischer Komödie „Ich bin dein Mensch“ (2021), Annika Pinskes „Alle reden übers Wetter“ sowie mit Frauke Finsterwalders „Sisi und ich“, der im März 2023 in die Kinos kommt. Trotz dieser regelmäßigen Filmarbeit ist Hüller seit der Spielzeit 2018/2019 festes Ensemblemitglied am Schauspielhaus Bochum.
Dort wird die 44-Jährige ab März unter der Regie von Johan Simons im Drama „Der Würgeengel“ auf der Bühne stehen. „Sie schenkt ihren Figuren ihr Leben“, sagt Simons, der Sandra Hüller schon in „Hamlet“ und „Penthesilea“ besetzt hatte, und fügt hinzu: „Sie ist eine Schauspielerin, die Hunderte Gedanken hat, während sie spielt, und es so einfach aussehen lässt, als gäbe es nichts Natürlicheres als das.“