Erst im Alter von vier Jahren kann das kindliche Gehirn die Fähigkeit zum Verständnis komplexer Grammatik-Strukturen ausbilden. Dafür verantwortlich ist die Reifung einer Region namens Broca-Areal.
Die Sprache ist das komplexeste Kommunikationssystem, das wir kennen. Und dennoch erscheint es uns selbstverständlich, dass Kinder schon in ihren frühen Lebensjahren zu sprechen beginnen. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine geistige Höchstleistung, „die bis heute noch nicht komplett verstanden wird“, so heißt es beim Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, dessen Hauptaufgabe mit seinen vier Unterabteilungen die Erforschung der kognitiven Fähigkeiten und der dabei ablaufenden Gehirnprozesse beim Menschen ist. Einer der Arbeitsschwerpunkte liegt auf der Erhellung der Hintergründe, wie sich Kinder scheinbar mühelos dieses Kommunikationssystem aneignen können. „Um den Spracherwerb erklären zu können“, so die Institutsverantwortlichen, „müssen wir verstehen, wie die Lernmechanismen im Gehirn funktionieren. Es scheint, dass einige dieser Mechanismen schneller und effizienter sind als andere. Eine wichtige Fertigkeit im Spracherwerb ist es, den Lautstrom in Einzelwörter segmentieren zu können. Kinder können das sehr gut, sie segmentieren Wörter aus dem kontinuierlichen Lautstrom schon wenige Minuten, nachdem sie ihm ausgesetzt sind.“
Von der Wahrnehmung eines nicht enden wollenden Flusses von Einzellauten und Silben ist es dann aber noch ein weiter Weg bis zum neuronalen Verarbeiten von gehörter Sprache. „In der Regel machen wir beim Sprechen eines Satzes zwischen einzelnen Wörtern keine Pausen“, so Prof. Caroline Rowland, die am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik im niederländischen Nijmegen arbeitet. „Für Kleinkinder, die die Sprache neu erlernen müssen, besteht also die Herausforderung darin, in diesem Fluss aus Silben Begriffe zu erkennen“ – und nach und nach auch Wortarten unterscheiden und das grammatikalische System verstehen zu lernen.
„Meilenstein im Syntaxerwerb“
Bis in die 1970er-Jahre hinein, vor der Einführung der Magnetresonanztomographie (MRT), hielten Neurowissenschaftler im Wesentlichen zwei Gehirnareale für hauptverantwortlich für das Erlernen, Verstehen und Verarbeiten von Sprache: „das Broca-Areal im linken Stirnlappen, mit dem wir dazu fähig sind, einen Satz nach bestimmten Regeln aufzubauen (Syntax), und das Wernicke-Areal im linken Schläfenlappen, das die Bedeutung von Wörtern und Sätzen verarbeitet (Semantik)“, so das TV-Magazin „Planet Wissen“. Doch inzwischen ist allgemein bekannt, dass es nicht nur zwei Sprachzentren in der dominanten Hirnhälfte gibt, sondern dass an Spracherwerb und -verarbeitung eine ganze Reihe weiterer Hirnareale beteiligt sind, beispielsweise Bereiche des Temporallappens mit der obersten Furche namens Sulcus temporalis superior, Teile des Frontallappens und Bereiche des Parietallappens.
Obwohl die meisten Kinder ihr erstes Wort im Alter zwischen zehn und zwölf Monaten sprechen und in der Regel ab anderthalb Jahren neben Substantiven auch Verben, Adjektive oder Präpositionen verwenden, beginnt die versuchsweise Bildung von kurzen Sätzen erst im Alter von zweieinhalb bis drei. Wobei Kinder erst langsam ein Verständnis für die grammatikalischen Strukturen ausbilden müssen. Der größte Grammatikschub erfolgt etwa im Alter von vier Jahren – „ein Meilenstein im Syntaxerwerb“, so formuliert es eine neue, im Fachmagazin „Cerebral Cortex“ veröffentlichte Studie des Leipziger Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften unter Federführung von Cheslie C. Klein und der Direktorin der Abteilung Neuropsychologie, Prof. Angela D. Friederici.
Erst nach diesem gewaltigen Sprung, der mit dem Erlernen einer Vielzahl von syntaktischen Konzepten verbunden ist, können die Kleinen komplexe Sätze nahezu fehlerfrei formulieren. Die Wissenschaftler hatten sich die Aufgabe gestellt, zu ergründen, welche Reifungsveränderungen im kindlichen Gehirn für diesen sprachlichen Entwicklungsschub verantwortlich gemacht werden können. Bei Erwachsenen habe man feststellen können, dass die Sprachverarbeitung „die Interaktion mehrerer Gehirnbereiche erfordert, die zusammen das sogenannte Sprachnetzwerk im menschlichen Gehirn bilden. Der Kern dieses Netzwerks umfasst das Broca-Areal, das aus dem Pars opercularis (BA44) und dem Pars triangularis (BA45) im linken Gyrus frontalis inferior besteht, und Wernickes Areal im oberen Temporallappen.“ Bei Erwachsenen werde BA45 zusammen mit dem Temporallappen vor allem für die Verarbeitung lexikalischer Bedeutung, sprich der Semantik, verantwortlich gemacht, während BA44 die Fähigkeit zur Bildung komplexer Sätze ermögliche.
Spannend dürfte es für die Forschenden gewesen sein, etwaige Parallelen im frühen Kindesalter nachweisen zu können. Insbesondere der Übergang vom dritten Lebensalter, in dem die Kinder die kanonische Wortstellung ihrer Sprache sicher beherrschen, in das vierte Lebensalter, in dem syntaktisch anspruchsvolle Phrasen samt Nebensätzen und Passiv-Konstruktionen möglich werden, hatte das Interesse der Wissenschaftler geweckt.
Broca-Areal löst STS ab
Für ihre Studie konnten die Forschenden 37 Kinder nach Einwilligung der Eltern zur Mitarbeit bitten, 17 Dreijährige und 20 Vierjährige. Neben der Sprachfähigkeit der Kinder, die mittels unterschiedlicher Sprachspiele überprüft wurde, wurde mithilfe des MRT auch ein Bild des Gehirns der Probanden erstellt, um den Reifegrad bestimmter Hirnareale und einen Zusammenhang zwischen Sprachfähigkeit und dem Entwicklungszustand verschiedener Hirnregionen ermitteln zu können. Dabei stellte sich heraus, so Cheslie Klein, „dass die Entwicklung der allgemeinen und grammatikalischen Sprachfähigkeit der Kinder mit der Reifung von Hirnstrukturen innerhalb des sogenannten Sprachnetzwerks einherging. Bei Erwachsenen wurde bereits mehrfach gezeigt, dass in diesem Netzwerk verschiedene Hirnareale zusammenarbeiten, um Sprachverständnis und -produktion zu ermöglichen. Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass die Reifung des Sprachnetzwerks auch den allgemeinen Sprach- und speziell den Grammatikerwerb bei Kindern zwischen drei und vier Jahren unterstützt.“
Konkret konnten die Forscher feststellen, dass bei den Drei- und Vierjährigen eine jeweils andere Hirnregion besonders stark ausgeprägt war und damit als entscheidende Komponente der jeweiligen Sprachentwicklung angesehen werden konnte. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin“, so die Forscher, „dass die strukturelle Reifung des linken BA44, einer Kernregion für die Syntax bei Erwachsenen, die Entstehung komplexer Satzstrukturen bei vierjährigen Kindern unterstützt. Im Gegensatz dazu beruhen die Fähigkeiten zur Satzverarbeitung bei Dreijährigen immer noch auf der Reifung einer anderen Gehirnregion, nämlich des posterioren linken STS, das an der Integration syntaktischer und semantischer Informationen bei Erwachsenen beteiligt ist.“ Die Abkürzung STS steht für Sulcus temporalis superior, die oben schon erwähnte Furche der Großhirnrinde im Bereich des Temporallappens.
Ab dem vierten Lebensjahr löst also das Broca-Areal – so etwas wie das motorische Sprachzentrum – den STS als Hauptantrieb für die Sprachentwicklung ab und ist damit elementar für den Grammatikschub verantwortlich. „Besonders spannend für uns war zu sehen“, so Angela Friederici, „dass die Reifung einer spezifischen Hirnregion – welche als Kernregion für Grammatik gilt – mit den Grammatikfähigkeiten der vierjährigen Kinder zusammenhing, nicht aber mit denen der Dreijährigen. Kinder lernen erst ab dem vierten Lebensjahr, komplexere Satzstrukturen zu verstehen und zu produzieren. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass dieser Meilenstein im Spracherwerb erst durch die Unterstützung des Broca-Areals bei der Verarbeitung komplexer Grammatik ermöglicht wird. Damit liefern unsere Befunde neue Einblicke in die neuronalen Prozesse, die zu einer erfolgreichen Sprachentwicklung beitragen. Erkenntnisse wie diese sind sehr wichtig, denn sie ermöglichen auch ein besseres Verständnis für Entwicklungsverzögerungen oder sogar Störungen im Spracherwerb.“