Eine Zugreise durch Usbekistan führt vorbei an mystischen Stätten und märchenhafter Architektur hinein in spannende Zentren asiatischer Kultur. Und manchmal auch ins Herz usbekischer Traditionen.
Für diesen Moment. Auf manchen Reisen ereignet er sich: dieser eine Moment, der für immer im Gedächtnis bleiben wird. Diesmal war es so.
Nachts im Zug, und ich bin aufgewacht, weil es still ist. Das gemütliche Rattern hat aufgehört, wir stehen. Ich schiebe die Vorhänge zur Seite, schweres Brokatgewebe mit goldfarbenen Troddeln. Draußen nichts. Sehr viel von diesem Nichts. Wir halten in der Kysylkum-Wüste. Sogar im Liegen sind vom Kopfkissen aus Sterne zu sehen. Der Große Wagen sieht aus wie zu Hause, nur viel klarer. In einem anderen Abteil brennt Licht, der Schein fällt auf die dürren Büsche draußen. Ich kippe das Fenster, bitterkalte Luft strömt herein, hier drinnen ist es unglaublich heiß. Die Abteile werden mit separaten Kohleöfen geheizt. Draußen herrscht außer dem Nichts große Stille. Bis ein anschwellender Ton zu vernehmen ist, erst kaum wahrnehmbar, ein Brummen, Beben, bedrohlich, auch gruselig. Was geschieht hier? Dann rauscht und rumpelt ein Güterzug vorbei. Die Wüste liegt da, als hätte sie sich kurz geschüttelt. Dann geht ein schwaches Zittern durch unseren Zug, wir fahren weiter. Der Moment ist vorüber.
Wenn das der einzige erinnerungswürdige Augenblick dieser Reise gewesen wäre – sie hätte sich schon gelohnt. Aber Usbekistan wirft mit unvergleichlichen Eindrücken um sich. Die Reise führt entlang der Seidenstraße, ein Sehnsuchtswort. Die Seidenstraße bezeichnet ein Netz von Karawanenrouten, über die Waren und Ideen zwischen Abendland und Orient transportiert wurden.
In Taschkent beginnt die Reise
Taschkent ist heute die Hauptstadt Usbekistans, wirtschaftliches Zentrum, Regierungssitz und dominiert von sozialistischer Architektur. Dort begann unsere Reise und führte nach Samarkand, Buchara und Chiva.
Die drei Schwestern aus dem Ferghanatal wollten schon so lange einmal nach Samarkand fahren. Nun sitzen die Frauen und einer ihrer Ehemänner erschöpft auf einer Bank, im Innenhof der Ulug’bek-Medrese. Sie tragen lange Röcke, wild bunt gemischte Jacken dazu, die farbigen Kopftücher im Nacken gebunden. Sie sind alle über 50 Jahre alt, und beim Reden glänzen ihre Goldzähne. Lange schon wollten sie das Grab Tamerlans besichtigen, in Usbekistan Timur genannt, der Held des Landes, islamischer Eroberer, gestorben 1405.
Aber dann kam ein aktueller Anlass dazu, und aus ihrer Fahrt nach Samarkand wurde eine Pilgerreise: Außer Tamerlans schwarzgrünen Jadesarkophag haben sie Islom Karimows Grab besucht, standen dafür eine Stunde lang Schlange. „Er war ein guter Herrscher, denn wir leben immerhin im Frieden“, sagen sie mit betrübter Miene. Der langjährige Staatspräsident starb überraschend am 2. September 2016. Seit der Unabhängigkeit Usbekistans hatte Karimow diktatorisch das zentralasiatische Land regiert. Aber die Mehrheit denke positiv über ihn, sagt der Guide, der nur Sascha genannt werden möchte, ein unverfänglicher Name. Sascha hat als Übersetzer für deutsche Firmen gearbeitet, aber namentlich zitieren lassen möchte er sich nicht. Wer als Oppositioneller gelten könnte, lebt gefährlich in Usbekistan.
Samarkand, die 2.700 Jahre alte Stadt, gilt als historisches Herz des Landes. Die Bilder mit in der Wüstensonne glänzenden Kuppeln entstanden zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert, das Gold und Türkis an den Mauern, sie prägen das Bild des Westens vom Orient. Drei Medresen, Koranschulen also, umstehen den Registan; er ist einer der schönsten Plätze der Welt. Überragt von den mit türkisfarbenen Fliesen bedeckten Kuppeln, Kacheln mit ineinander fließenden Majolika-Mustern, eine Ornamenteflut. Auf dem Platz selbst werden Menschen winzig, die religiösen Gebäude sind von betörender Schönheit, gemauerte Glaubensbekenntnisse. Und auch wer von Religion nichts hören mag, wird die architektonische Anmut überwältigend finden.
Usbekistan ist ein Land im Aufbau
Usbekistan ist kein streng islamisches Land. Zum Freitagsgebet geht man in der Mittagspause, der Freitag ist kein Feiertag. Wir sehen Frauen mit Kopftuch, aber oftmals nur ein kleines, im Nacken gebunden. Viele Frauen tragen gar keines, und Schleier oder Tschador sehen wir nie. Vor 100 Jahren, 1917, begann die sowjetische Phase Zentralasiens. „Die Frauen mussten öffentlich ihre Schleier verbrennen“, erzählt Reiseleiter Sascha, „die Sowjets haben die Emanzipation über Nacht erzwungen.“ Eine Katastrophe – für die Frauen. „Manche wurden daraufhin von ihren Männern gesteinigt.“ Um Feminismus sei es ohnehin nicht gegangen, „das Land im Aufbau brauchte Arbeitskräfte, Frauen sollten nun auch Traktor fahren und Eisenbahnschienen verlegen.“ Samarkand musste erst wieder aufgebaut werden. Um 1780 war die Stadt verlassen und zerfiel; 100 Jahre später gehörte sie zum russischen Zarenreich. Mit dem Bau der Eisenbahnlinie kehrte Samarkand zurück in die Welt.
In der Tillakori-Medrese, ebenfalls am Registan, zeigen Fotos den Platz zu Beginn der sowjetischen Zeit: Die herrlichen Fliesen, die Kuppeln, die Tore – alles Ruinen. Ausgerechnet zur Sowjetzeit begann der Wiederaufbau der islamischen Baudenkmäler.
Ein Land im Aufbau ist Usbekistan weiterhin, ein Blick hinter restaurierte Fassaden zeigt, wie viel zu tun wäre. Manche Moschee wirkt wie ein potemkinsches Dorf, dahinter ist nichts renoviert, „aber woher das Geld nehmen?“, fragt Sascha. „Wofür soll die Regierung Geld ausgeben? Für Schulen und Kliniken, oder zu Restaurierung von Denkmälern, damit Touristen anreisen?“ Besucher lassen immerhin Geld da, rund um alle Sehenswürdigkeiten gibt es Souvenirs, alte Teppiche, das zierliche usbekische Geschirr, und natürlich Schals und Tücher.
Zwischen Samarkand und Buchara geht es weiter mit dem Orient-Silk-Road-Express, dem Sonderzug von Lernidee Erlebnisreisen. So eine luxuriöse Zugfahrt ist wie ein Ausflug im Kinderwagen, damals, ganz früher. Wer hätte gedacht, dass es noch einmal so gemütlich werden könnte? Es ruckelt gerade im rechten Maß, Essen und Getränke werden gereicht.
Die Zitadelle von Buchara wölbt ihre fetten Festungsmauern auf den Platz davor, Besucher strömen durchs Haupttor hinein. Drei füllige Frauen, in wallende, bunte Gewänder und bestickte Umhänge gehüllt, bedrängen die ausländischen Touristen. Reiseleiter Sascha hatte davor gewarnt, zu sorglos zu sein. Also halten alle die Taschen fest. Die Frauen reden noch lauter. Sascha erklärt: „Die Damen sind ebenfalls Urlauberinnen, sie möchten gerne ein gemeinsames Foto haben.“ Beschämt lässt man sich umarmen und lächelt ins Foto.
So überraschende Wendungen nehmen Begegnungen auf der Reise durch das zentralasiatische Land. Immer wieder trifft man auf Reisegruppen Einheimischer. Alle lassen sich mit ihren Smartphones fotografieren, ausländische Gäste sollen immer mit aufs Bild. Sogar Brautpaare wollen gemeinsame Fotos. Bräute, bombastisch herausgeputzt, sieht man viele. Usbekistans Bevölkerung ist jung, zwei Drittel sind unter 30 Jahre alt, da wird viel geheiratet.
Bucharas alte Innenstadt ist klein und überschaubar, viele Souvenirshops warten auf wenig Touristen. Ordentlich bezahlte Arbeit zu finden, sei schwer, sagt Sascha. So stehen am Straßenrand Männer, sie warten auf Arbeit als Tagelöhner. Viele gehen als „gastarbeitery“ nach Russland. Auf einem herrlich altmodischen Rummelplatz aus Sowjetzeiten treffen wir einen Zuckerwatte-Verkäufer, kunstvoll dreht er rosa Wolken in seinen Kupferkesseln. Er hat drei Frauen, eine steht neben ihm, der kleinste Sohn dabei. Es fehlen Männer im Land, versucht Sascha eine Erklärung. „Beim sowjetischen Einmarsch in Afghanistan wurden die Soldaten hier rekrutiert, nicht etwa in Russland. Zwei Millionen Usbeken starben im Afghanistan-Krieg.“ So viele Menschen würden weggehen; Plakate an einer Wand warnen vor Menschenhandel, vor Arbeits-Sklaverei und vor Sex-Dschihad: Junge Musliminnen werden über die Türkei nach Syrien geschickt, dort sexuell ausgebeutet, versklavt.
Wenig Arbeit für die sehr junge Bevölkerung
Ein Lehrer verdient etwa 100 Euro im Monat, erfahren wir bei einem Treffen mit einer Gruppe von Frauen, die eine Schulpartnerschaft zwischen Bonn und Buchara vorantreiben. Dabei gehe es auch um Themen wie erneuerbare Energien, Hotelmanagement, Müllverbrennung. Und um Volksdiplomatie. „So können sich Menschen kennenlernen, ohne Regierungen“, erklärt Saifullava Souda. „Man stellt sich Usbekistan wie Afghanistan vor, und dann sind die Besucher überrascht, dass wir hier nicht mit Burkas rumlaufen.“ Die ehemalige Leiterin einer Baumwoll-Verarbeitungsfabrik zu Sowjetzeiten trägt nicht einmal Kopftuch. Ihre Haare türmen sich in dunkel-aubergine auf, dazu knallt das gelbe Kostüm Farbe ins Bild. Nur bei Fragen zum Baumwollanbau verliert sie fast ihre Contenance.
Baumwollanbau ist einer der wichtigsten Handelszweige Usbekistans. Das Land steht an fünfter Stelle des Baumwoll-Exports weltweit. Da Baumwolle langsam und versetzt reift, wird wochenlang geerntet, und zwar von Hand. Auch vom Zug aus sieht man die endlosen Felder, gespickt mit Farbtupfern, den Kleidern der Frauen bei der Ernte. „Wenn der Anbau schon so aufwendig ist, gibt es mittlerweile vielleicht auch Bio-Baumwolle?“, so lautete die unschuldige Frage.
„Unsere Baumwolle ist Bio, also die ist rein, da ist keine Chemie dran“, kommt es in feindseligem Ton. „Die ist ja schon deswegen Bio, weil sie handgepflückt ist.“ In den USA würde viel mehr mit Chemie gearbeitet, „wir sind da mehr zurückgeblieben, das ist jetzt ein Vorteil“, fügt eine der anderen Frauen mit schwarzem Dutt à la Madame Butterfly an. Nur zu Sowjetzeiten „wurde vielleicht ein bisschen Chemie verwendet, aber jetzt nicht mehr.“ Das muss man einfach so stehen lassen.
Vorbei an endlosen Baumwollfeldern
Um die Stimmung aufzulockern, erzählt eine der Frauen, als Studentinnen hätten sie alle zusammen gepflückt. „Das war eine tolle Zeit, lauter junge Leute – bis zum ersten Schnee. Da wurde es anstrengend, und wir mussten das Soll erfüllen. Aber wir waren ja nicht blöd: Wir haben unten in die Säcke nasse Baumwoll-Watte eingefüllt. So war das Gewicht bald erreicht.“
Der Zug bringt uns weiter, durch die Wüste, in die Oasenstadt Chiva. Usbekistans Eisenbahngeschichte begann im Jahre 1874. Erste Eisenbahnstränge verbanden das Land mit dem Kaspischen Meer. 1888 folgte die Verbindung nach Samarkand. 1899 erreichte die Eisenbahn Taschkent. Wer nicht mit dem Luxuszug reist wie wir, steigt in den Hochgeschwindigkeitszug „Afrosiab“ der spanischen Talgo-Gesellschaft, so schick wie ein ICE in Deutschland. Wieder geht es vorbei an braunen Baumwollfeldern, weiße Wolle leuchtet kurz auf, flache Gasleitungen, gelbe dünne Rohre, führen wie Tore über Bewässerungsgräben. Ein Windstoß trägt grauen Sandstaub in die Luft, der legt sich auf lila Heidekraut, ein gelber Schulbus biegt in einen Feldweg ein. Vor der kleinen Station Malik steht der Bahnhofsvorstand mit einer weißen Kelle in Hab-Acht-Stellung zum vorbeifahrenden Zug.Zugchefin Galina Lebedava, 56, stammt aus Twer, nahe Moskau. Für Usbekistan seien die touristischen Luxuszüge neu, in Russland fuhr Lebedeva jahrelang auf ihrer Lieblingsstrecke zwischen Moskau und St. Petersburg. Ihr Zugpersonal ist gemischt, Russen und Usbeken. Die Frage, ob sie Usbekistisch spreche, verneint sie. Und wie unterscheidet sich das Leben in Russland und in Usbekistan? „Das ist eine delikate Frage“, antwortet die Zugchefin. Mehr will sie dazu nicht sagen.
Die Oasenstadt Chiva hat sich besonders schön herausgeputzt, die Kuppeln leuchten, die Altstadtgassen sind frisch gefegt, Souvenirstände überall, aber etwas museal wirkt das auch. Wir steigen auf ein Minarett, wir gehen in Moscheen, aber sag, Sascha, wohnen hier auch Menschen?
Sofort verlässt Sascha die ausgetretenen Pfade, hinter einer Medrese tauchen wir ein in den Alltag. Vor einem Haus stehen einige Männer. Sie plaudern, ein Tambourin-Spieler kommt: Beschneidungsfest. Wir seien herzlich eingeladen. Wir zögern. Es scheint uns nicht angemessen.
Schließlich gehen wir doch. Wir treffen auf ein fröhliches Familienfest, etwa 20 Frauen sitzen auf Polsterkissen an einer Tafel auf dem Boden. Mittendrin die Urgroßmutter, 80 Jahre. Sie hat neun Töchter und einen Sohn; die Enkelkinder habe sie aufgehört zu zählen. Alle Frauen essen Salat, Teigtaschen, Weintrauben, die sie vorher in Tee abwaschen. Wir sollen mitessen und Wodka trinken. Wodka! Da sehen wir es auch: In ihren kleinen Teetassen mit dem landestypischen blauen Muster ist nicht etwa Tee. Und so stoßen wir mit Alkohol in diesem islamischen Familienfest an, auf langes Leben und Druschba, Freundschaft.