Sie ist die „Zweite von links“ der ostfriesischen Inseln: Juist, das auch gern als „Töwerland“ – „Zauberland“ – bezeichnet wird. Passt ganz gut, denn kilometerlanger Strand, Dünen, Naturschutzgebiete und Wattenmeer und die entspannte Atmosphäre sorgen dafür, dass gestresste Großstadtmenschen hier im Handumdrehen entschleunigen können.
Der Himmel ist bewölkt, ein frischer Wind geht. Vor einem Klinkerbau in einer Seitenstraße der „Inselhauptstadt“ warten rund zwei Dutzend wetterfest eingepackter Gäste – in Kapuzenpullis und Anoraks. Heino – stilecht in hochgekrempelten Jeans, Seemannspullover und Kapitänsmütze gekleidet – wirft einen besonders kritischen Blick auf die Hosen – lassen die sich auch bis übers Knie hochkrempeln? Das nämlich wird in den kommenden Stunden von Bedeutung sein – schließlich haben sich die Landratten zu Heinos Wattwanderung angemeldet.
Der agile Mittsechziger ist so etwas wie ein Inseloriginal – und kennt sich auf Juist und im Watt wohl wie kaum ein anderer aus. In flottem Schritt führt er die Gruppe aus dem Ort und hin zum Deich – hinter der Deichkante müssen dann Schuhe und Socken ausgezogen werden.
Wattwürmer sind „unterschätzte Tiere“
Barfuß also geht es hinein ins Watt – die ersten Schritte sind noch gewöhnungsbedürftig. Der durchfeuchtete Meeresboden gibt etwas unter den Füßen nach – und Heino erinnert daran, auf scharfkantige Muscheln zu achten, da könne es sonst unangenehme Schnitte geben. Ein bisschen im Storchengang, dann wieder mit großen Schritten über kleine Rinnsale, die Priele, hinweg folgen wir dem Wattführer, bis der einen ersten Halt einlegt. Und von den Gezeiten in der Nordsee und dem Lebensraum Watt erzählt. Das macht er anschaulich, in dem er mit einem speziellen Stab fast 30 Zentimeter tief im Schlick sitzende Muscheln zutage befördert und zur Freude der Kinder in der Gruppe ein Experiment startet. Zwei Gläser werden mit Schlamm und Wasser gefüllt, in eines davon kommen Muscheln. Heino markiert die Stelle mit einem mitgebrachten Zweig, damit man sie am Ende der Tour wiederfindet. Und jetzt geht es gut zwei Stunden lang durchs Watt, bei Sonne, Wolken und dem einen oder anderen kurzen Schauer. Mit kurzen Stopps, bei denen die Kinder Krabben auf die Hand nehmen oder nach Wattwürmern – Heino nennt sie die „ am meisten unterschätzten Tiere des Lebensraums“ – suchen dürfen. Durchgefroren und etwas erschöpft landen wir schließlich wieder bei den beiden Einmachgläsern, die wir vor Stunden nicht weit vom Strand im Watt zurückgelassen haben. Und Heino freut sich über die erstaunten Gesichter seiner Gäste, als diese sehen, dass das mit Muscheln besetzte Glas jetzt lupenreines Wasser beinhaltet.
Die Mittagspause steht an. Also zurück ins kleine Zentrum von Juists Hauptort, rund um den Kurplatz mit Musikpavillon. Quasi der Insel-Boulevard, den jeder mehrfach am Tag entlangläuft. Schließlich konzentrieren sich hier Unterkünfte, Restaurants und Geschäfte. In einer Seitenstraße liegt das Nationalparkhaus – untergebracht im früheren Inselbahnhof. Ein paar Minuten – und man ist am kilometerlangen Hauptstrand mit den bunten Strandkörben. Nur wenige Schritte führen hinunter zum Hafen und die Ankunft der Fähre, die in rund eineinhalb Stunden von Norddeich hinüberfährt, ist jedes Mal ein kleines Spektakel. Schaulustige sehen zu, wie das Schiff langsam an den Kai manövriert wird, wo Hoteliers auf ihre Gäste warten – mit Fahrradanhänger oder Bollerwagen für den Gepäcktransport. Autos nämlich gibt es auf Juist (bis auf wenige Ausnahmen) nicht, und die Inseltaxis haben 2 PS.
Da klappern auch schon Hufe auf dem Pflaster und Lotte und Melli kommen mit ihrer Ladung – vier Touristen – gemessenen Schrittes heran. Sie sorgen mit ihren tierischen Kollegen dafür, dass Personen- und Warentransport auf Juist fast klimaneutral ablaufen können – selbst die Müllabfuhr funktioniert per Pferdewagen. Denn Juist hat sich 2010 zur „Klimainsel“ erklärt und möchte bis 2030 Deutschlands erste Tourismusdestination werden, die klimaneutral ist, was soviel bedeutet, dass nicht mehr CO² in die Atmosphäre abgegeben als aufgenommen wird. Natürlich sei das noch ein weiter Weg, sagt Thomas Vodde, Marketingbeauftragter der Insel, aber man könne auch stolz auf bereits Erreichtes sein. Immerhin kommen viele der jährlich rund 130.000 Gäste bereits jetzt mit Bahn und Fähre und sind vom Konzept der autofreien Insel begeistert.
Kein Wunder, nicht nur Familien mit Kids wissen es zu schätzen, dass auf den Inselstraßen nur Radler und Pferdewagen unterwegs sind. Und so zieht es die meisten nach kurzer Zeit zu einem der Fahrradverleihe – zum Beispiel zu Robert-Peter Klement. Der stellt seinen Kunden nicht nur Sattel und Lenker ein, sondern gibt auch Tipps zu Ausflugszielen und Wetterprognosen.
Die ist für heute Nachmittag alles andere als gut. Also muss die Regenjacke mit bei der Fahrt gut zweieinhalb Kilometer gegen den Wind nach Loog, dem zweiten Ort auf Juist. Quasi die Miniaturausgabe des Hauptortes mit kleinem Supermarkt, ein paar Unterkünften, Restaurants und dem Küstenmuseum. Und mit dem sogenannten Mamminga-Haus, das mit seinen gut 200 Jahren als das älteste noch erhaltene Insulanerhaus gilt. Vorbei an Gärtchen mit windzerzausten Blumen und reetgedeckten weißgetünchten Häusern geht es weiter Richtung Bill, dem Westteil der Insel. Rechts die Dünen, links Koppeln mit neugierig aufschauenden Pferden folgt nun der anstrengendere Teil der Tour – mit minimalen Anstiegen, die durch Gegenwind und einsetzenden Regen erschwert werden. Vorbei am Hammersee, der 1932 bei einer Sturmflut als größter Süßwassersee auf einer Nordseeinsel entstand und als wichtiger Rastplatz für Vögel gilt. Zusammen mit dem umgebenden Wald- und Schilfgürtel, dem Polder und dem Billriff ist das Gebiet seit 1952 als Naturschutzgebiet ausgewiesen.
Manchmal lassen sich Seehunde blicken
Beim jetzigen Regenguss aber geht es nicht bis zum westlichsten Punkt, an dem man bei ablaufendem Wasser manchmal Seehunde sichten kann, sondern hinein ins Trockene. In die „Domäne Bill“ nämlich, die als Familienbetrieb bewirtschaftet wird und für ihre ostfriesischen Spezialitäten bekannt ist. Logisch, dass es jetzt erst mal ein heißer Tee sein muss und dazu ein Stück Stuten, ein süßes Weißbrot mit Rosinen – zentimeterdick geschnitten. Mit dem prasselnden Kaminfeuer im Blick macht es auch nichts aus, dass draußen vor den großen Fenstern gerade Weltuntergang herrscht, der Regen gegen die Scheiben klatscht. Einfach zurücklehnen, noch einen Schluck Tee nehmen und sich von Betreiber Sven Ahrends die Geschichte der Bill erzählen lassen.
Hier stand einst ein ganzes Dorf, das im 18. Jahrhundert einer schweren Sturmflut zum Opfer fiel. Dieser Teil der Insel wurde daraufhin erst Ende des 19. Jahrhunderts wieder besiedelt. Eine Gaststätte gibt es in der Domäne jetzt seit rund 100 Jahren, und bei schönem Wetter ist es fast unmöglich, hier einen Platz zu bekommen. Heute aber sind es nur eine Handvoll Gäste, die sich durch den Regen gewagt haben. Und angesichts der dicken Wolken am Himmel empfiehlt Sven für die Heimfahrt einen Zwischenstopp im Küstenmuseum im Loog. Das kommt von außen recht unscheinbar daher, rollt aber in elf Räumen das gesamte Spektrum insel- und nordseebezogener Themen auf. Erklärt Gezeiten, Deichbau und Küstenschutz ebenso wie Tier- und Pflanzenwelt des Wattenmeeres und die Geschichte des Tourismus auf Juist.
Jedes Jahr findet ein Krimifestival statt
Die letzten Kilometer zurück ins Juister Zentrum laufen sich gut – auch dank des Rückenwinds. Und kurz bevor die Geschäfte schließen, geht es in Thomas Kochs Buchhandlung. Denn die ist nicht nur für ihre Auswahl an Juist-Literatur bekannt, sondern auch als Dreh- und Angelpunkt des jährlich stattfindenden Krimifestivals „Tatort Töwerland“. Buchhändler Koch kennt sich wie kein Zweiter mit den Inselkrimis und deren Autoren aus. Seit 2005 stellt er das Festival gemeinsam mit Inselmarketing und Autoren wie Sandra Lüpkes und Jan Zweyer auf die Beine und schafft es bei jeder Ausgabe, neue Akzente zu setzen. Was die Besucher – und viele kommen nur wegen des Festivals auf die Insel – zu schätzen wissen. Wenn spannende Kriminalfälle zwischen Dünen und Inselflugplatz literarisch aufgelöst werden, ein ehemaliger Kommissar von seinem Berufsalltag erzählt oder sich Krimiautoren für einen Abend lang in Rockmusiker verwandeln.