Sichtbarstes Zeichen des globalen Temperaturanstiegs ist der weltweite Rückgang der Gletscher. Deren dramatischste Auswirkungen zeigen sich gerade in der nahen Schweiz, wo bis 2100 so gut wie alle Eismassen auf den Bergen verschwunden sein werden.
Als sich diesen Sommer ein gigantischer, Billionen Tonnen schwerer und 6.000 Quadratkilometer großer Eisberg aus dem glazialen Schild der Antarktis abgespaltet hatte, sorgte das weltweit für reichlich Schlagzeilen. Dass sich quasi vor unserer Haustüre in der gesamten Alpenregion vergleichbar Dramatisches abspielt, wird hingegen noch immer kaum so richtig wahrgenommen. Obwohl gemäß den Voraussagen der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH Zürich) davon auszugehen ist, dass Ende des 21. Jahrhunderts die Schweizer Alpen weitestgehend gletscherfrei sein werden. Auch im österreichischen Hochgebirge oder auf der Zugspitze dürften bis 2100 dann wohl die Eismassen fast gänzlich verschwunden sein.
„Die Schweizer Gletscher kann man nicht mehr retten“, sagt der Glaziologe Matthias Huss von der ETH Zürich. Der Wissenschaftler macht dafür den globalen Temperaturanstieg der vergangenen Jahre und Jahrzehnte verantwortlich. Selbst mit den größten Anstrengungen zur Reduktion des für die Erwärmung verantwortlich gemachten Treibhausgases Kohlendioxid würden laut Huss 80 bis 90 Prozent der Eismassen bis 2100 verloren gehen. „Eine Verlangsamung der Erderwärmung kommt für die Schweizer Gletscher zu spät“, sagt Huss. Was damit zusammenhängt, dass Gletscher auf Klimaveränderungen zeitverzögert reagieren. Die Schmelze ist daher nicht mehr aufzuhalten, sondern so gut wie irreversibel. „Die Gletscher retten zu können ist in vielen Gebirgen eine Illusion. Wir werden uns an die Folgen der Gletscherschmelze anpassen müssen“, erklärt Ben Marzeion vom Institut für Geographie der Universität Bremen. „Das betrifft die Küstenregionen der Welt, aber auch die Bevölkerung im Hochgebirge, der dann im Sommer eine Wasserquelle weniger zur Verfügung steht.“
Bis zu drei Prozent Verlust pro Jahr
Vor 20.000 Jahren war die Schweiz fast komplett von Eis bedeckt. Nach dessen Rückzug gab es um das Jahr 1850 im Verlauf der sogenannten Kleinen Eiszeit einen Maximalstand der eidgenössischen Gletscherausbreitung. Danach kam es infolge deutlich steigender Temperaturen zu einem immer rasanteren Gletscherrückgang. Betrug die Gletscherfläche um 1850 noch 1.735 Quadratkilometer, so sind es heute nur noch 890 Quadratkilometer. Die Gletscherfläche hat sich in diesem Zeitraum also halbiert, das Eisvolumen ist sogar um fast 60 Prozent geschrumpft von rund 130 Kubikkilometern 1850 auf nunmehr nur noch 54 Kubikkilometer. Zwischen 1850 und 1980 hatten die Alpengletscher jährlich etwa 0,5 Prozent ihres Volumens eingebüßt. Danach stiegen die Verluste bis 2000 auf rund ein Prozent pro Jahr an. In den vergangenen Jahren bewegte sich der Wert sogar meist zwischen zwei und drei Prozent, im Extremsommer 2003 lag er sogar bei acht Prozent. Zählte die Schweiz im Jahr 1973 noch insgesamt 2.150 Gletscher, so sind es heute nur noch rund 1.400.
Die Gletscherschmelze war noch nie so stark ausgeprägt wie in den vergangenen paar Jahren. Messungen, die am Glarner Gletscher Claridenfirm bereits seit 1914 ununterbrochen durchgeführt werden, haben belegt, dass von den acht extremsten Jahren der Gletscherschmelze nicht weniger als sechs nach dem Jahr 2008 zu registrieren waren. Allein 2016 verloren die Gletscher bei einem etwas gebremsten Volumenrückgang von 1,5 Prozent rund 900 Milliarden Liter Wasser, was ungefähr dem jährlichen Trinkwasserverbrauch der gesamten Schweiz entspricht. Auch 2017 dürfte angesichts der vergleichsweise hohen Jahresdurchschnittstemperaturen kein wirklich gutes Jahr für die Alpengletscher werden. Vor allem zu hohe Thermometerwerte in Frühjahr und Sommer sind Gift für das Gletschereis, das für eine Regeneration oder gar einen Zuwachs auf kühle und niederschlagsreiche Sommer angewiesen wäre.
Die Gletscherschmelze ist natürlich nicht nur ein eidgenössisches, sondern ein weltweites Phänomen. Die Mehrzahl der insgesamt rund 200.000 Gebirgsgletscher sind davon betroffen. Sie haben ein Volumen von 170.000 Kubikkilometern und eine Fläche von 730.000 Quadratkilometern. Im Vergleich zu den gigantischen Eisschilden der Antarktis und Grönlands nehmen sich die Eiskappen auf den Gipfeln hoher Berge allerdings geradezu mickrig aus. Denn 99,8 Prozent des als Eis gespeicherten Wassers auf unserem Planeten entfallen auf die Antarktis (91 Prozent) und Grönland (8,8 Prozent). Gebirgsgletscher tragen nur mit 0,2 Prozent zum globalen Gletschereis bei.
Beitrag zum Anstieg des Meeresspiegels
Dennoch trugen die schmelzenden Gebirgsgletscher in den vergangenen Jahren genauso viel zum Meeresspiegel-Anstieg bei wie die Eisschilde von Grönland und der Antarktis zusammen. Rund ein Drittel der steigenden Pegel gingen auf das Konto der Gebirgsriesen, die ihre Eiskappe nach und nach verloren haben. Bis zum Jahr 2100 wird sich daran kaum etwas ändern, die Gebirgsgletscherschmelze wird vielmehr einen beträchtlichen Anteil am globalen Anstieg des Meeresspiegels um die bis dahin projektierten 30 Zentimeter bis zu einem Meter haben. Existenzbedrohlich wird das Steigen des Meeresspiegels und das Verschwinden der Gletscher für die Schweiz und ihre direkten Nachbarländer kaum werden. Aber dem Tourismus werden die Gletscher als Sehenswürdigkeiten fehlen. Der Wasserhaushalt wird durcheinander geraten, den Stauseen wird nach und nach der Wassernachschub ausgehen, die Landschaft wird sich sichtlich verändern, beispielsweise vermehrt durch Seenbildungen.
Die reiche Schweiz wird diese sicherlich nicht unerheblichen Probleme wohl lösen können. Im Himalaja oder den Anden dürfte das schon schwieriger werden. Allein in Nepal gibt es noch mehr als 3.200 Gletscher, deren Fläche zwischen 1977 und 2010 um fast ein Viertel geschrumpft ist. In Peru sind es rund 2.680 Gletscher, deren Fläche sich im Laufe der vergangenen 40 Jahre um fast 43 Prozent verkleinert hat.