Wieso gewinnt in den USA Trump mit einer Minderheit der Wählerstimmen? Wieso können die Franzosen einen Präsidenten ohne Partei wählen? Und warum gibt es bei uns so viele unterschiedliche Koalitionen? Schuld ist das jeweilige Wahlrecht. Sowohl die Verhältniswahl als auch die Mehrheitswahl haben Vor- und Nachteile.
Was waren das für Zeiten! Der Älteste trommelte sein Dorf zusammen, die Recken trafen sich auf dem Thing-Platz, der Tapferste stellte sich zur Wahl; die Männer hoben die Hand – und schon war abgestimmt. Längst vorbei (wenn es denn solche Zeiten je gegeben hat). Denn schon länger leben wir im Zeitalter der repräsentativen Wahlen. Seit den demokratischen Umwälzungen in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten bestimmen wir Stellvertreter, die wir mit unseren Anliegen betrauen. Die parlamentarische Demokratie hat sich durchgesetzt – 1848 schließlich auch in Deutschland.
Aber Wahlen sind nicht gleich Wahlen. Wie unterschiedlich Wahlsysteme sein können, konnte man in den vergangenen Monaten deutlich erkennen. Da wurde ein amerikanischer Präsident mit weniger Wählerstimmen als seine Konkurrentin gewählt – er hatte allerdings genügend Wahlmänner auf seiner Seite. In Großbritannien hat eine ehrgeizige Premierministerin eine Unterhauswahl angesetzt, um sich mit absoluter Mehrheit bestätigen zu lassen – es ging schief. Die Konservativen verloren so viele Wahlkreise, dass sie nicht mehr die Mehrheit im Parlament hatten.
Bei Mehrheitswahl gilt: Der Sieger kriegt alles
In Frankreich stürzte das ganze Parteiensystem in sich zusammen, weil sich eine neue Bewegung durchsetzte. Die Franzosen wählen jeweils zweimal, bis ein Kandidat mit absoluter Mehrheit gesiegt hat. Erst war das so bei den Präsidentschaftswahlen, die Emmanuel Macron parteiunabhängig gewann. Und dann bei der Wahl zur Nationalversammlung, bei der Macrons Partei die Mehrheit erzielte, während die „alten" Parteien in die Bedeutungslosigkeit absanken. Das wäre so, als würde sich in Deutschland eine Politikerin zur Präsidentin wählen lassen, um dann mit einer eigenen Partei „Vorwärts Deutschland" alle anderen Parteien abzuhängen. Unvorstellbar – so etwas lässt unser Wahlsystem nicht zu.
Wahlverfahren entscheiden also, wie Wählerstimmen in politische Mandate verwandelt werden. Im Klartext: Welchen Einfluss hat die eigene Stimme auf den Ausgang der Wahl? Die beiden Grundformen, die sich in allen Demokratien durchgesetzt haben, sind die Verhältnis- und die Mehrheitswahl. Bei der Mehrheitswahl kann es passieren, dass die eigene Stimme ganz unter den Tisch fällt. Es zählen nur die Wählerstimmen für den siegreichen Kandidaten. Wer die meisten Stimmen bekommt, hat gewonnen. Die Stimmen für die anderen, die unterlegenen Kandidaten, werden nicht weiter berücksichtigt („der Sieger kriegt alles").
Bei der Verhältniswahl dagegen zählt jede Stimme. Der Anteil an Wählerstimmen soll sich in der Zahl der gewonnen Parlamentssitze widerspiegeln. Gewinnt eine Partei zum Beispiel 40 Prozent der Stimmen, stehen ihr 40 Prozent der Bundestagssitze zu. In der Regel muss sie sich Koalitionspartner suchen, wenn sie eine Regierung stellen möchte.
Bei der reinen Verhältniswahl stellt jede Partei Listen mit ihren Kandidaten auf. Die vorderen Plätze sind die sichersten, je nach zu erwartender Stimmenzahl wird es weiter hinten schwieriger. Bei der Mehrheitswahl dagegen konkurrieren in Wahlkreisen einzelne Kandidaten. Gewählt ist immer derjenige, der je nach Wahlsystem die absolute oder relative Stimmenmehrheit erzielt. Das Verfahren begünstigt ein Zweiparteiensystem, bei dem jeweils eine Partei die Regierung stellt.
In Deutschland hat sich eine Mischung aus beiden Systemen durchgesetzt – das sogenannte personalisierte Verhältniswahlrecht mit der Fünf-Prozent-Sperrklausel.
Bei der Bundestagswahl wird damit sowohl nach Wahlkreisen als auch nach Listen (für jedes Bundesland eine) gewählt. Die Erststimme bezieht sich auf den Wahlkreis, die Zweitstimme auf die Liste. Die Parteien können so viele Direktkandidaten aufstellen, wie es Wahlkreise gibt. Zurzeit ist Deutschland in 299 Wahlkreise unterteilt (die Hälfte der Mindestzahl an Bundestagssitzen). Gewählt ist der Kandidat, der die relative Mehrheit im Wahlkreis hat.
Über die zweite Hälfte, die anderen 299 Plätze, entscheiden die 16 Landeslisten. Hier kommt es auf die Prozentpunkte an, wie sie am Wahlabend über die Bildschirme flackern. Deswegen ist die Zweitstimme auch wichtiger als die Erststimme. Wer einen vorderen Listenplatz hat, braucht sich keine Sorgen um seine Wahl zu machen. Die meisten bekannten Politiker sind doppelt abgesichert: Sie stehen sowohl auf der Landesliste als auch in ihrem Wahlkreis zur Wahl. Das System ermöglicht aber auch, dass Parteien, selbst wenn sie keinen einzigen Wahlkreis direkt gewonnen haben, über ihre Landeslisten in den Bundestag einziehen.
Die Sitze werden nach einem komplizierten mathematischen Umrechnungsverfahren nach abgegebenen Zweitstimmen an die Parteien verteilt. Dabei gilt die Sperrklausel: Nur die Parteien, die mindestens bundesweit fünf Prozent der abgegebenen Stimmen oder drei Direktmandate gewonnen haben, sind dabei. Gewinnt eine Partei über die Erststimmen aus den Wahlkreisen mehr Sitze, als ihr eigentlich zustehen, kommt es zu Übergangmandaten und Ausgleichsmandaten: Der Bundestag wird größer.
Seit es dieses Wahlverfahren gibt, wird es kritisiert:
• Die Parteien haben zu viel Einfluss auf die Kandidatenaufstellung. Warum soll nicht wie in den USA das Volk über seine Kandidaten mit abstimmen?
• Das Verhältniswahlrecht verhindert klare Mehrheiten und zwingt immer zu Kompromissen.
• Es macht einen echten Wechsel schwierig. Weil meistens keine Partei allein regieren kann, braucht sie Koalitionspartner.
Ist das Mehrheitswahlrecht vielleicht besser? Viele blicken neidisch auf die Wahlen in England oder Frankreich und wünschen sich klare Verhältnisse. Genau das soll das Mehrheitswahlrecht erreichen: Die Wählerstimmen konzentrieren sich auf zwei Parteien – herauskommt eine regierungsfähige Mehrheit.
Verhältniswahl befördert den Kompromiss
Doch auch das Mehrheitswahlrecht hat einen Pferdefuß. Weil es bei ihm nur auf die Wahlkreise ankommt, ist es ganz entscheidend, wie diese geschnitten sind. So hat Frankreich seine Wahlkreise mehrfach umgeformt. Unter de Gaulle beispielsweise so, dass die Kommunisten überall im Nachteil waren. In Großbritannien wiederum gibt es Wahlkreise, die seit Jahrzehnten der Labour-Partei gehören, andere sind Tory-Hochburgen. Die Folge: In diesen Regionen gibt es so gut wie keinen Wahlkampf, also auch keinen Wechsel.
Zwar bewirkt die Mehrheitswahl meist stabile Parlamentsmehrheiten, auf deren Basis Einparteien-Regierungen mit eindeutiger politischer Verantwortung gebildet werden können. Die Verhältniswahl kann aber unterschiedliche politische Strömungen integrieren und durch Kompromisse beteiligen. So wird sich der Bundestag, jahrelang von drei Parteien beherrscht (CDU/CSU, SPD und FDP), demnächst voraussichtlich aus sechs Parteien zusammensetzen (die Genannten plus Grüne, Linke und AfD). Befördert die Mehrheitswahl ein stabiles (Zwei-)Parteiensystem, so befördert die Verhältniswahl eher das Festhalten an der Macht durch neue Koalitionen. So wurde erst einmal ein regierender Kanzler regulär abgewählt: Helmut Kohl verlor 1998 die Bundestagswahl gegen Gerhard Schröder. Das Volk wollte den Wechsel. Alle anderen Regierungswechsel resultierten aus Rücktritten, vorgezogenen Neuwahlen (2005) oder aus zerplatzten Koalitionen.
Das personalisierte Verhältniswahlrecht wird auch bei der jetzt anstehenden Bundestagswahl keinen Machtwechsel begünstigen. Weil voraussichtlich keine der Parteien die Mehrheit der Sitze bekommt, läuft es auf eine Koalition hinaus. Aber welche es wird – darauf werden diesmal die sogenannten kleinen Parteien mehr Einfluss haben.
Wieso gewinnt in den USA Trump mit einer Minderheit der Wählerstimmen? Wieso können die Franzosen einen Präsidenten ohne Partei wählen? Und warum gibt es bei uns so viele unterschiedliche Koalitionen? Schuld ist das jeweilige Wahlrecht. Sowohl die Verhältniswahl als auch die Mehrheitswahl haben Vor- und Nachteile.