Der Bonner Diplom-Psychologe Stefan Brunhoeber beschäftigt sich mit der sogenannten Körperdysmorphen Störung und hat schon viele Patienten behandelt. Im Interview spricht er über dieses Krankheitsbild, Auslöser von Schönheitswahn und gibt eine Zukunftsprognose.
Herr Brunhoeber, woher kommt das Streben der Menschen, möglichst attraktiv zu sein?
Ein gutes Aussehen ist eine von mehreren Möglichkeiten, Erfolg zu haben und seine Ziele zu erreichen. Es ist eine Art Wert, der einem viele Vorteile verschaffen kann.
Was verbindet der Mensch mitäußerer Schönheit?
Erfolg beim anderen Geschlecht, Status, Zufriedenheit, beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg, Zuneigung, Sicherheit, Gesundheit, Fortpflanzungsfähigkeit.
Ist Schönheit denn tatsächlich der entscheidende Faktor bei der Partnerwahl?
Sicherlich nicht. Studien zeigen, dass ein attraktives Äußeres einem mittleren Entscheidungskriterium bei der Partnerwahl entspricht. Es ist also nicht besonders wichtig, aber auch nicht unwichtig. Viel wichtiger sind Eigenschaften wie verständnisvoll sein, Ehrlichkeit, Intelligenz, eine interessante Persönlichkeit oder Humor. Was will man auch mit einem Partner, der zwar optisch sehr attraktiv ist, aber gleichzeitig wenig verständnisvoll, unehrlich oder uninteressant.
Was bei Menschen jedoch subtil abläuft, ist eine charakterliche Beurteilung des Aussehens. Bei Menschen geschehen unterbewusst zahlreiche Bewertungsprozesse beim ersten optischen Eindruck einer Person, bei der ein Gegenüber Charakterzüge einschätzen wird und diese mit den eigenen Bedürfnissen und Interessen abgleicht. In Millisekunden schätzt man ein, ob die Person gegenüber einem als Mensch gefallen könnte. Hierbei spielen neben der reinen physikalischen Erscheinung Dinge wie Gestik, Mimik, Körperhaltung und -bewegung, Stimme, Kleidung, Schmuck, Vorurteile und vieles mehr eine Rolle. Je nach den Vorerfahrungen einer Person mit anderen Menschen werden diese Dinge unterschiedlich bewertet. Da jeder Mensch unterschiedliche Vorerfahrungen gemacht hat, passt auch der Spruch, dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt und eben weitgehend subjektiv geprägt ist. Optische Attraktivität wird cica zu 50 Prozent aufgrund des eigenen Geschmacks und nur zu circa 30 Prozent von objektiven Schönheitsfaktoren wie Gesichts- oder Körperproportionen bestimmt.
Von Gesichtsverjüngung über Nasen-Korrektur und Brust-OP bis – im Extremfall – zur Entfernung von Rippen: Manche Frauen haben sich der Schönheit wegen schon über zehnmal oder öfter operieren lassen. Wodurch wird ein solcher Schönheitswahn ausgelöst?
Ursache kann einerseits starkes Schamgefühl sein, sich als hässlich und entstellt zu erleben, wie es typischerweise bei einer Körperdysmorphen Störung (KDS) vorkommt. Dysmorphophobie ist der veraltete Begriff, der auf eine Phobie hinweist. Die KDS ist aber keine Angststörung, sondern eine Schamstörung.
Andererseits kann dieses Verhalten durch den Drang ausgelöst werden, etwas Besonderes zu sein, im Mittelpunkt zu stehen und Aufmerksamkeit zu bekommen oder eine eigene Identität zu entwickeln. In diesem Fall findet man als Hintergrund oftmals eine oder mehrere Persönlichkeitsstörungen.
Ab wann kann man von einer Körperdysmorphen Störung sprechen?
Wenn sich eine Person mehr als eine Stunde am Tag mit ihrem Äußeren beschäftigt und gleichzeitig unter ihrem Äußeren leidet, spricht man von einer Körperdysmorphen Störung. Es darf jedoch keine reale äußerliche Entstellung vorhandeln sein. Liegen leichte Anomalien vor, spricht man von einer KDS, wenn die Beschäftigung und der Leidensdruck im Vergleich zu anderen, die eine ähnliche Anomalie haben, stark übertrieben ist.
Ist KDS eine richtige Krankheit? Wodurch zeichnet sie sich aus?
Die KDS ist eine klassifizierte Störung, die sich durch eine übermäßige, oft zwanghafte Beschäftigung mit dem eigenen Äußeren auszeichnet. Diese übermäßige Beschäftigung führt ihrerseits zu substanziellen psychischen Leidenszuständen und Funktionseinschränkungen im sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
Haben Sie selbst schon Menschen mit Dysmorphophobie behandelt?
Ich habe bislang etwa 150 Personen mit Körperdysmorpher Störung behandelt.
Wie kann man Körperdysmorphe Störungen therapieren?
In der Therapie arbeite ich mit den Patienten an verschiedenen Säulen: Reduktion der Beschäftigung mit dem eigenen Äußeren, Abbau von Sicherheits- und Vermeidungsverhaltensweisen, Bearbeiten der dysfunktionalen Gedanken, Herausarbeiten und Bearbeiten der Funktionalität der KDS, Verbesserung der Bewältigungskompetenzen (zum Beispiel Training, um sich zur Wehr setzen zu können, Verbesserung der Emotionsregulation und so weiter), Training einer ganzheitlichen Wahrnehmung, Aufbau von Identitäten, die nichts mit dem Äußeren zu tun haben, Verbesserung des allgemeinen Selbstwertgefühls.
Ist Schönheitswahn vor allem bei Frauen oder auch bei Männern zu beobachten?
Das verteilt sich annähernd gleich. Das Verhältnis beträgt circa 40 Prozent Männer und 60 Prozent Frauen, was die Körperdysmorphe Störung angeht.
Die Symptomatik äußert sich bei Männern nicht viel anders, da in der Regel die gleichen Körperpartien betroffen sind – angeführt von der Haut und der Nase. Sicherlich gibt es auch Unterschiede. Frauen schminken sich mehr und halten Diät und Männer trainieren eher ihren Körper.
Wie ist Ihre Prognose: Wird der Boom der Schönheitsindustrie noch stärker werden?
Wenn es gesetzlich keine Vorgaben geben wird, wie Werbung oder die Medien auszusehen haben, ja. Solange sich damit Geld verdienen lässt, wird dieser Boom zunehmen.
Werden wir uns in Zukunft nur noch über Schönheit definieren?
Menschen haben sich schon immer über ihre Schönheit definiert, nur dass die Schönheitsideale früher anders waren. Auch in Zukunft wird sich das Schönheitsideal wandeln. Gleichzeitig gibt es genug andere Dinge, über die Menschen sich aktuell definieren und definieren werden. Was man sagen kann ist, dass diejenigen, die sich mehr über Schönheit definieren als beispielsweise über Charakterzüge, Eigenschaften, Erfolg und so weiter, eher auch einen erhöhten Leidensdruck verspüren werden. Denn an Schönheit müssen viele permanent arbeiten, während Dinge wie Charaktereigenschaften meist zeitlich überdauern, ohne dass man sich anstrengen muss.
Blonde Extensions, große Oberweite, kleine Nase, volle Lippen: Viele operierte Frauen sehen sich sehr ähnlich. Wird Individualität immer unwichtiger?
Ich will andersherum antworten: Was passiert, wenn sich plötzlich fast alle Menschen gleichen? Dann werden diejenigen interessant, die anders aussehen und ein Schönheitsideal verändert sich. Wir werden immer noch von Mutter Natur gesteuert und die verlangt zur Arterhaltung einen unterschiedlichen Genpool. Dagegen können wir uns schwer wehren.
Dennoch werden Schönheits-OPs einen wichtigen Stellenwert haben, denn Schönheits-OPs sind teuer und stehen für Wohlstand. Und Menschen haben schon immer versucht, über ihr Äußeres ihren Status zur Schau zu stellen.