Egal welche Koalition regieren wird: Die Stabilität früherer Tage ist passé
Wenn es nach den Meinungsumfragen der letzten Wochen geht, ist die Bundestagswahl am kommenden Sonntag bereits so gut wie entschieden. Demnach gewinnt die CDU/CSU haushoch vor der SPD, Angela Merkel bleibt Bundeskanzlerin und kann sich das Regierungsbündnis aussuchen. Sehr wahrscheinlich würde es für die Große Koalition oder eine „Jamaika“-Allianz (Union, FDP, Grüne) reichen. Unter Umständen auch für Schwarz-Gelb oder Schwarz-Grün.
Diese Sichtweise ist gefährlich. Rund 40 Prozent der Wahlberechtigten sind kurz vor dem Urnengang noch nicht sicher, wo sie ihr Kreuz machen. Hierin liegt ein großes Potenzial für Überraschungen. Es gibt zwei Gründe, warum das erwartbare Ergebnis verzerrt werden könnte.
Erstens mögen es die Bürger nicht, wenn ihnen vorgegaukelt wird, die Wahl sei bereits gelaufen, bevor die Stimmen ausgezählt sind. Der eine oder andere wird daher die kleinen Parteien stärken, um den großen eins auszuwischen. Zweitens befand sich das schwarz-rot geführte Land in den vergangenen vier Jahren unter einer Konsens-Käseglocke. Das war zwar langweilig, sorgte aber für Stabilität.
Auch wenn Union und Sozialdemokraten über ihre Reformprojekte rangen: Spannungen waren Mangelware, richtige Konflikte gab es kaum. Das einzige TV-Duell zwischen Kanzlerin Merkel und dem SPD-Herausforderer Martin Schulz bestach durch weitgehende Harmonie und verstärkte das Gefühl einer Mehltau-Republik. Viele Zuschauer empfanden dies als zementierten Status quo – auch das nutzt den Kleinen. Es steht zu befürchten, dass vor allem die rechtspopulistische Anti-System-Partei AfD davon profitiert.
Über Merkel wird kolportiert, dass sie eine Neuauflage der Großen Koalition favorisieren würde. Sie kennt die Genossen und schätzt diese als verlässlich ein. Hinzu kommt, dass die Kanzlerin die Hauptnutznießerin einer Allianz mit der SPD ist. Auch wenn die Sozialdemokraten wichtige Vorhaben wie Mindestlohn, abschlagsfreie Rente mit 63 oder Mietpreisbremse durchgesetzt haben: Es zahlte sich in erster Linie für Merkels Union aus.
Die SPD steckt in einem brutalen Dilemma. Keiner ihrer führenden Bundespolitiker will in die Opposition. Spitzenmann Schulz hält zwar nach außen noch immer am Kanzleramt als Ziel fest, würde sich aber auch mit einem Ministerposten unter Merkel zufriedengeben. Als ehemaliger Präsident des EU-Parlaments wäre der Job des Chef-Diplomaten für ihn wie geschaffen. Der jetzige Außenminister Sigmar Gabriel würde gern auf seinem Stuhl bleiben, könnte aber im Zweifelsfall auch ein anderes Ressort übernehmen. Arbeitsministerin Andrea Nahles hat ebenso Lust auf die Fortsetzung ihrer Arbeit signalisiert wie SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann.
Das Problem ist, dass sich die Basis der Sozialdemokraten überhaupt nicht für eine dritte Koalitionsrunde unter der übermächtigen Kanzlerin erwärmen kann. Sie fürchtet einen weiteren Bedeutungsverlust für die Partei. Rutscht die SPD noch unter den Nachkriegs-Tiefpunkt von 23 Prozent aus dem Jahr 2009, stünde den Genossen ein Erdbeben bevor. Dann hätte sich die Frage der Großen Koalition sehr wahrscheinlich von selbst erledigt, in der Führungsriege stünde ein Generationswechsel an.
Das bedeutet aber nicht, dass für die Union automatisch goldene Zeiten anbrechen. Auch die CDU/CSU musste in den Meinungsumfragen Federn lassen. Die 40-Prozent-Höhen sind passé. Zwar steht Merkel als Stabilitätsanker in einer Welt voller Krisenherde im Zenit ihrer Macht. Zudem wird sie durch eine robuste Wirtschaftsentwicklung begünstigt. Doch sie hat die Christdemokraten sozialdemokratisiert, die Partei hat ihr Profil verloren. Noch ist der Moment nicht gekommen, aber irgendwann wird sich Überdruss an der Dauer-Kanzlerin breitmachen, wie dies auch bei den CDU-Titanen Konrad Adenauer und Helmut Kohl der Fall war.
Eine Jamaikakoalition brächte wohl frischen Wind in die Berliner Politik. Aber die programmatischen Gegensätze zwischen der FDP und den Grünen – etwa in der Klima- oder Russlandpolitik – würden für kräftige Reibungen sorgen. Selbst bei Schwarz-Gelb oder Schwarz-Grün würde es an einigen Punkten knirschen, zumal jedes der beiden Zweierbündnisse nur über eine knappe Mehrheit verfügen dürfte.
Wie immer die Wahl ausgeht: Mit der Gemütlichkeit früherer Tage ist es vorbei.