Sie ist das Gesicht der Linken, streitbar, analytisch, polarisierend. Spitzenkandidatin Sahra Wagenknecht über Gerechtigkeit, Populismus und Machtoptionen.
Frau Wagenknecht, Gregor Gysi hat kürzlich gefordert, Die Linke müsse sich auch verstärkt um die Menschen in der Mitte der Gesellschaft kümmern. Wird Die Linke jetzt auch eine Partei der Mitte?
Ich glaube, wenn die anderen Parteien von der Mitte reden, ist das ziemlich heuchlerisch. Wer ist denn die Mitte der Gesellschaft? Die Mitte sind normale Familien mit durchschnittlichen Einkommen, mit Kindern. Und die haben es in unserer Gesellschaft immer schwerer, weil zum einen ungesicherte, schlecht bezahlte Jobs und Leiharbeit politisch gefördert wurden. Von solchen Jobs kann man keine Familie ernähren. Zugleich explodieren in vielen Städten die Mieten, sodass selbst bei Menschen, die gut verdienen, ein immer größerer Teil des Einkommens für fixe Ausgaben draufgeht und nicht mehr in die Lebensqualität fließen kann. Deshalb finde ich das Gerede von der Mitte unehrlich. Wenn man sich die wirklichen Profiteure der Politik der letzten 20 Jahre ansieht, kommt man etwa zur Liste der tausend reichsten Deutschen. Die sind so reich wie nie zuvor. Im Jahr steigt deren Vermögen um zehn, elf Prozent. Das ist aber garantiert nicht die Mitte, das ist die Oberschicht.
Die Linke definiert also die „Mitte“ anders?
Die Mitte sind für mich die ganz normalen Leute, also die, die mit durchschnittlichem Einkommen über die Runden kommen müssen. Und wenn ich mir angucke, wie sich das mittlere Einkommen über die Jahre entwickelt hat, ist es ja tatsächlich so, dass das stagniert, seit 20 Jahren. Und die unteren 40 Prozent haben sogar Einkommen verloren.
Aufstiegschancen für jeden
Sie spielen damit darauf an, dass sich die Schere immer weiter auseinanderentwickelt.
Ja, die Mittelschicht wird kleiner. Und viele, die traditionell zur Mittelschicht gehören, haben ja auch Angst, dass sie absteigen, spätestens, wenn sie in Rente kommen. Nachdem die Rente derart massiv gekürzt wurde, ist das für viele Menschen eine ganz reale Gefahr, dass sie, obwohl sie gut verdient und lange gearbeitet haben, im Alter in Armut fallen, weil die Rentenansprüche so niedrig sind. Und wenn man ihnen dann sagt: Ihr könnt ja privat vorsorgen, finde ich das über alle Maßen zynisch in einer Zeit, in der die Zinsen weit unter der Inflation liegen. Wer heute spart, verliert ja Geld. Trotzdem machen das viele Menschen. Was sollen sie auch sonst machen? Die gesetzliche Rente zu stärken statt den Riester-Unsinn zu subventionieren, das wäre Politik für die Mitte.
Das Wort „Gerechtigkeit“ erlebt derzeit offenbar eine Renaissance, steht ganz oben im Ranking wichtiger Themen für die Menschen. Was ist eigentlich Gerechtigkeit?
Für mich ist Gerechtigkeit das klassische Wohlstandsversprechen der westlichen Demokratien: Dass jeder Aufstiegschancen hat, dass jeder, der sich anstrengt, es zu etwas bringen kann, sich ein gutes Leben sichern kann, dass es eine Relation gibt zwischen dem, was jemand leistet und was er an Einkommen bekommt. Und das ist ja völlig zerstört worden. Zum Beispiel bedeuten Werkverträge und Leiharbeit, dass Leute, die die gleiche Arbeit machen, das Gleiche leisten, völlig unterschiedliche Einkommen haben. Wir haben auch die skandalösen Zustände in der Pflege. Pflegekräfte leisten eine unglaublich harte und sehr wichtige Arbeit und werden jämmerlich schlecht bezahlt, während Manager, die teilweise für Betrügereien verantwortlich sind, wie jetzt in der Autoindustrie oder bei Banken, mit Millionengehältern nach Hause gehen. Das andere Thema, das im Ranking ganz oben steht, ist die Flüchtlingspolitik. Jetzt gibt es die neue Ausrichtung nach dem Spitzentreffen in Paris, das praktisch die EU-Außengrenzen nach Afrika verschiebt.
Ist das eine Lösung?
Wir setzen den falschen Weg fort, den wir schon mit der Türkei begonnen haben, dass wir mit zweifelhaften Despoten, im Fall Libyen sogar mit islamistischen Warlords kooperieren, die wir ausrüsten, damit sie uns die Flüchtlinge vom Hals halten. Statt sich von solchen Figuren abhängig zu machen, muss Europa seine Außengrenzen selbst kontrollieren. Und das Geld wäre weit besser angelegt, wenn man vor Ort etwa in Zusammenarbeit mit der Uno die Situation für die Menschen in den Lagern verbessern würde. Wenn wir über Fluchtursachen reden, das tut ja Frau Merkel auch gern: Wir müssen endlich unsere Handelspolitik korrigieren, aufhören, Länder, die schon arm sind, unter Druck zu setzen, ihre Zölle noch weiter abzusenken. Jeder weiß doch, dass die dortigen Bauern gegen unsere Hähnchenflügel und Tomatenkonserven überhaupt keine Chance haben. Wir sind daher mitverantwortlich, dass viele in diesen Ländern keine Perspektive mehr für sich sehen und sich auf den Weg nach Europa machen. Natürlich ist es keine Lösung, zu sagen: Ihr könnt alle nach Europa kommen. Aber wer das nicht will, muss die Armut vor Ort überwinden helfen, statt sie zu verschlimmern.
Zwei falsche Extreme in Europa
Haben Sie den Eindruck, dass Verständnis und Geduld für solche Politik bei den Menschen vorhanden wäre?
Na ja, wir sehen ja, dass eine Partei wie die AfD auch deshalb Zuspruch hat, weil sie mit der einfachen Lösung kommt: Abschotten und Schluss. Aber alle, die etwas länger darüber nachdenken, wissen auch, dass es Gründe gibt, warum Menschen fliehen. Und wenn man das Problem wirklich lösen will, muss man an diese Gründe ran. Dazu gehören auch Kriege und Bürgerkriege. Wir beliefern nach wie vor viele Regionen, in denen Krieg herrscht, mit Waffen. Wenn man eine Politik machen will, die auch nur ansatzweise mit humanitären Werten vereinbar ist, muss man dieses Geschäft mit dem Tod unterbinden.
Sie haben die „einfachen Lösungen“ angesprochen. Es ist ja ein schmaler Grat zwischen Populismus und Zuspitzung in der Politik. Wie viel Zuspitzung ist in einer Demokratie nötig und ab wann fängt Populismus an?
Der Vorwurf des Populismus wird ja schon inflationär gebraucht. Die Regierung gebraucht ihn gern: Wenn man sie kritisiert, ist man populistisch. Deshalb würde ich den Begriff gar nicht verwenden. Was mich an der AfD stört, ist, dass sie in Teilen rassistisch ist, dass sie ein Wirtschaftsprogramm hat, das überhaupt keine sozialen Verbesserungen vorsieht. Der Begriff Sozialstaat kommt bei ihr im Programm nicht einmal vor. Populär sein sollten Politiker schon, sich also darum bemühen, die Mehrheit der Menschen zu erreichen. Das ist für mich kein Populismus, das ist Auftrag jedes demokratischen Politikers. Die AfD hat ja auch deshalb Zulauf, weil sich so viele Menschen von der herrschenden Politik im Stich gelassen fühlen. Und dieser Eindruck ist ja durchaus berechtigt, wenn ich mir die Politik der letzten Jahre ansehe.
Man hat den Eindruck, dass die Außenpolitik, auch die Europapolitik, sehr viel größere Aufmerksamkeit hat als in früheren Zeiten, sicher auch ausgelöst durch den neuen US-Präsidenten und den Brexit. Liegt darin eine neue Chance oder ist das eher der Aktualität geschuldet?
Ich glaube schon, dass viele Leute sich Sorgen machen, wohin sich Europa entwickelt. Es gibt ja zwei falsche Extreme. Das eine ist, dass immer mehr nationalistische Kräfte an Boden gewinnen und am Ende Europa zerfällt, das ist eine große Gefahr. Die andere Gefahr ist, dass die Demokratie immer stärker ausgehebelt wird, weil die Brüsseler Lobbykraten immer unverfrorener in die einzelnen Länder hineinregieren. Und beides ergänzt sich. Gerade wenn immer mehr Menschen die EU nicht mehr als ihr Europa empfinden, ist das Wasser auf die Mühlen der Nationalisten. Deswegen brauchen wir einen europäischen Neuanfang, wir brauchen gute Zusammenarbeit zwischen den Ländern. Aber man muss sich sehr genau ansehen, was wirklich auf die europäische Ebene gehört und was in den Mitgliedsstaaten entschieden werden sollte. Ich halte es nicht für sinnvoll, immer mehr Kompetenzen nach Brüssel zu verlagern, wo es keine funktionierenden demokratischen Strukturen gibt.
Das klingt nach dem ursprünglichen Ziel eines „Europa der Regionen“, von dem man derzeit aber nichts mehr hört.
Aber das war ja nicht falsch, im Gegenteil. Ich glaube, dass die meisten Menschen ein Europa gut finden, wo man die Grenzen nicht mehr spürt, wo man sich beispielsweise den Arbeitsplatz auch woanders suchen kann. Dahinter will ja eigentlich keiner mehr zurück und jetzt plötzlich wieder Schlagbäume haben. Wir sollten ein in seiner Vielfalt geeintes Europa anstreben, keine Uniformierung, weder sollte Deutschland Italien vorschreiben, welche Wirtschaftspolitik sie machen sollen, noch sollten unsere Sparer für marode Banken in Südeuropa haften.
Wir erleben jetzt im Wahlkampf, dass Politiker übelst angegangen werden. Was drückt sich da aus?
Es gibt eine ziemliche Verrohung der Debatte, gerade im Netz, das erfahre ich ja selbst. Was da teilweise an Beschimpfungen, an Hass, oft unter dem Deckmantel der Anonymität vom Stapel gelassen wird, das ist in diesem Ausmaß neu. Aber ich bin der Auffassung, dass diese Verrohung des Diskurses ein Spiegelbild der Verrohung der Gesellschaft ist, Folge zunehmender sozialer Kontraste. Wenn es Politiker gleichgültig lässt, wenn sie mit ihren Entscheidungen Menschen in Armut und Verzweiflung treiben, sollten sie sich über Wut und Frust bei den Betroffenen nicht wundern. Ich will das nicht rechtfertigen. Aber ich sage: Wer das nicht will, muss eine andere Politik machen. Wer eine Gesellschaft will, die solidarisch ist, in der die Menschen sich sozial verhalten, der muss die extreme Ungleichheit überwinden.
„Das Leben ist unsicherer“
Parteien können im Wahlkampf besonders mobilisieren, wenn sie eine Machtoption haben. Die ist für die Die Linke derzeit überschaubar.
Das ist ja auch das Traurige an diesem Wahlkampf: Es gibt deshalb keine Wechselstimmung, weil die meisten Menschen die Hoffnung auf einen wirklichen Wechsel aufgegeben haben. Frau Merkel und Herrn Schulz stehen ja beide für die Fortsetzung der Politik der letzten Jahre. Beide stehen für ein Weiter so. Es wäre natürlich auch für die Demokratie besser, wenn unterschiedliche Regierungsoptionen mit unterschiedlichem Profil zur Wahl stünden. Aber dafür müsste die SPD wieder eine sozialdemokratische Partei werden. Die SPD hatte ja eine große Chance. Als Martin Schulz nominiert wurde, war bei vielen die Hoffnung da, dass die SPD nicht nur ihren Kanzlerkandidaten verändert, sondern auch ihre Politik. Aber Schulz hat diese Hoffnung zerstört, indem er immer wieder deutlich gemacht hat, dass auch er in der Tradition der Agenda 2010 steht. Es war ja schon fast Realsatire, als auf dem letzten SPD-Parteitag unter dem schönen Slogan „Zeit für Gerechtigkeit“ ausgerechnet Gerhard Schröder gefeiert wurde, der für den größten Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik verantwortlich ist.
Können Sie nicht nachvollziehen, dass Menschen in unsicheren Zeiten denken: Bloß nichts ändern, es ist gut so, wie es ist, auch wenn nicht alles optimal läuft?
Aber die Zeiten sind doch gerade unter Frau Merkel immer unsicherer geworden. Sie ist nicht das, als was sie dargestellt wird, nämlich Garant für Sicherheit. Das Leben in Deutschland ist heute viel unsicherer als vor zwölf Jahren. Sozial: Heute haben wir viel mehr unsichere, prekäre Jobs als zu Beginn ihrer Amtszeit. Aber auch weltpolitisch. Frau Merkel hat zugelassen, dass sich das Verhältnis zu Russland dramatisch verschlechtert hat. Sie hat sich lange Zeit völlig den USA untergeordnet. Dabei sind die großen Flüchtlingsströme Ergebnis der Destabilisierung der Region durch die US-Kriege. Der IS hat sich im Ergebnis des Irak-Krieges gegründet. Das heißt, die USA haben einen großen Anteil daran, dass sich die Probleme auch in Europa vergrößert haben, und Merkel stand dennoch immer fest an der Seite Washingtons. Stattdessen müssen wir endlich eine eigenständige Politik machen, die auf Abrüstung und Entspannung setzt, und das Verhältnis zu Russland wieder verbessern. Das hat Frau Merkel aber nicht auf ihrer Agenda.