Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Die Linke) über unsichtbare Abgeordnete, Fraktionszwang, hasenfüßige Entscheidungen und eine gute Debattenkultur.
Frau Pau, irgendwie hat es den Anschein, man würde am 24. September Merkel oder Schulz wählen.
Es ist ein weitverbreitetes Missverständnis, dass am 24. September der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin oder gar schon die Minister gewählt werden. Zur Bundestagswahl wählt man einen Kandidaten oder eine Kandidatin in seinem Wahlkreis – das ist die Erststimme. Mit der zweiten Stimme bestimmt man, wie stark eine Partei im Bundestag wird, die dann eine Fraktion bilden kann oder auch nicht. Die Zweitstimme ist ausschlaggebend für die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag. Wem Sie die Erst- und wem Sie die Zweitstimme geben, kann durchaus unterschiedlich sein – in meinem Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf machen CDU-Wähler regelmäßig ihr erstes Kreuz bei Petra Pau und ihr zweites bei der CDU.
Bilder vom Plenarsaal im Bundestag zeigen oft leere Stuhlreihen. Hat das damit zu tun, dass sich die politische Debatte in die Talkshows verlagert hat?
Ich erinnere mich an die Anfänge der Talkshow in Deutschland mit Erich Böhme, als es noch um politische Aufklärung ging. Heute ist das Format zu einem verbalen Schlagabtausch verkommen, wo es nur noch darum geht, wer wem am meisten rhetorisch vors Schienbein tritt. Das leere Plenum hat einzig und allein damit zu tun, wie der Bundestag seine Arbeit organisiert. Dazu kommt, dass jeder Abgeordnete in der Regel im Monat zwei Wochen in seinem Wahlkreis und zwei Wochen im Bundestag ist.
„Es gibt wie im richtigen Leben solche, die fleißig sind – und andere“
Wie sieht so eine typische Bundestagswoche aus?
Bundestagswoche heißt: Montag bis Mittwochfrüh Gremiensitzungen in den Fraktionen und Fachausschüssen. Ab Mittwochmittag um 13 Uhr tritt das Plenum zusammen und beginnt seine Sitzungen, die bis Freitag dauern. Parallel dazu tagen aber weiterhin Fachausschüsse und andere Gremien.
Wann wird denn nun wirklich debattiert?
Kernzeit dafür ist Donnerstag zwischen 9 und 13 Uhr. Da dürfen höchstens die Untersuchungsausschüsse zusammentreten, sonst keine. In dieser Zeit versuchen die Fraktionen ihre allgemein interessierenden Themen oder Debatten auf die Tagesordnung setzen, wie zum Beispiel eine Regierungserklärung und die Antwort darauf oder eine Debatte wie vor ein paar Wochen über die Ehe für alle. Oft liegen in dieser Zeit auch die namentlichen Abstimmungen, bei der alle Abgeordneten dabei sein müssen.
Also wenn jemand immer im Plenum sitzt, heißt das nicht, dass er besonders fleißig ist?
Genau. Es gibt wie im richtigen Leben überall solche, die fleißig sind – und andere. Also nicht diejenigen, die am meisten im Plenarsaal sitzen, sind besonders eifrig. Sondern diejenigen, die sich am tiefgründigsten mit den Themen beschäftigen, die ihnen von den Fraktionen zugewiesen wurden, in den Fachausschüssen, bei den Expertenanhörungen, die Änderungsanträge formulieren, der Fraktion Vorschläge machen, wie sie verfahren soll.
Der Bundestag insgesamt soll ja die Regierung kontrollieren. Ist er dieser Aufgabe in der letzten Legislatur mit einer Großen Koalition gerecht geworden?
Es ist die Aufgabe jedes einzelnen Bundestagsabgeordneten, die Regierung zu kontrollieren. Das Instrument dazu sind Anfragen: mündliche, schriftliche, kleine und große Anfragen. Die Opposition nutzte diese Möglichkeiten eifrig, die Koalitionsfraktionen eher zurückhaltend. Aber insgesamt stimme ich dem Urteil unseres scheidenden Bundestagspräsidenten Norbert Lammert zu: dass wir stolz sein können auf unseren Bundestag und auf die Art und Weise, wie wir unsere Arbeit organisieren. Und dass wir dann, wenn es wirklich um etwas geht, auch die entsprechenden Debatten führen.
Also alles schön – nichts, was man besser machen könnte?
Doch: Wir sollten in den nächsten Jahren mehr Kraft darauf verwenden, sowohl die Kontrollfunktion des Parlaments als auch den Prozess seiner Meinungsbildung mit neuen Mitteln der Kommunikation transparenter zu machen. Ich denke da an einen Film wie „Applaus für Felix“, der sich an Kinder und Jugendliche richtet und sich auf unserer Webseite „kuppelgucker.de“ findet. Für Jugendliche gibt es „mitmischen.de“. Und für alle kann ich nur unsere ausgezeichnete Webseite „bundestag.de“ empfehlen, wo man das gesamte Plenar- und Ausschussgeschehen nachvollziehen kann. Leider wird dieses Angebot in Schulen und auch in der politischen Bildungsarbeit kaum genutzt. Es reicht nicht, wenn wir alle vier Jahre kurz vor der Bundestagswahl an die Leute appellieren: Geht wählen!
Wie ist es denn um die Freiheit eines Abgeordneten bestellt? Eigentlich soll er ja nur seinem Gewissen unterworfen sein. Jetzt gibt es aber den Fraktionszwang, da bekommt er vorgeschrieben, wie er abstimmen muss …
Den Fraktionszwang gibt es als Gesetz nicht. Aber auch in meiner Fraktion haben wir wie in jeder anderen eine Verabredung, die besagt, dass die jeweils Zuständigen in den Arbeitsgruppen für die Fraktion die inhaltliche Vorbereitung zu einem Thema bis hin zu einem gemeinsamen Votum für oder gegen ein Gesetz übernehmen. Kein Abgeordneter kann Experte für alle Themen von der grünen Gentechnik bis zum Bürokratieabbau sein. Ich sage das aus meiner Erfahrung als fraktionslose Abgeordnete in der Zeit von 1998 bis 2005, bevor die Die Linke als Partei in den Bundestag einzog. Gesine Lötzsch und ich mussten uns damals alle Positionen selbst erarbeiten. Das ist in einer Fraktion sinnvoll arbeitsteilig organisiert.
Aber was ist, wenn einer aus der Fraktion doch nicht mit der Mehrheit übereinstimmt?
Dann soll er das der Fraktion vorher mitteilen, damit nicht plötzlich ein Redner aus der gleichen Fraktion auftritt, der genau das Gegenteil von dem sagt, was sein Vorgänger gerade verkündet hat. Wenn das in der Fraktion klar ist, dann steht natürlich die Frage im Raum: Ist jetzt meine abweichende Position so wichtig, ist es wirklich eine Gewissensfrage, sodass ich sie durch ein abweichendes Abstimmungsverhalten deutlich machen muss? Oder ist das alles vielleicht nicht ganz so dringend? Dann nehme ich schlicht an der Abstimmung nicht teil.
Der Kollege Wolfgang Bosbach hat mehrfach sein abweichendes Verhalten von der CDU erklärt.
Ich bin froh, dass ich in dieser Legislaturperiode einem Präsidium angehört habe, in dem wir alle der Auffassung waren, es muss jedem Parlamentarier möglich sein, seine von der Mehrheit abweichende Meinung und sein Abstimmungsverhalten in angemessener Weise öffentlich deutlich zu machen. Sei es durch mehr Debattenzeit oder durch Gewährung von Extra-Redezeit.
War das anders, als es keine Große Koalition gab?
Ich habe es bei der Verabschiedung der Hartz-IV-Gesetze erlebt, ich habe es mitbekommen, als es um Auslandseinsätze der Bundeswehr ging – da gab es immer Kollegen, die mit sich gerungen und das auch im Plenum deutlich gemacht haben. Das muss möglich sein.
Jedem Abgeordneten zu seinem Recht verhelfen
Wenn man die Fernsehbilder aus Rom, London oder Paris sieht, wirken andere Parlamente lebendiger.
Ich kenne selbst die berüchtigten Befragungen der Regierungschefin im britischen Unterhaus. Die Fragestunde am Mittwochmittag gibt es bei uns auch. Und genau da wollten wir als Präsidium eine Reform durchsetzen, was uns leider nicht gelungen ist: Ich halte es für paradox, dass in dieser Fragestunde die Bundesregierung bestimmt, wozu sie befragt werden darf. Wir wollten, dass die Fraktionen im Wechsel das Thema vorgeben und Minister befragt werden.
Woran ist das gescheitert?
Dafür waren die parlamentarischen Geschäftsführer der Regierungsfraktionen wohl zu hasenfüßig. Dabei wäre eine echte Regierungsbefragung auch für die Öffentlichkeit attraktiv. Ich kann da wieder nur Norbert Lammert zitieren, der gesagt hat, es werde zu viel geredet im Parlament, aber zu wenig debattiert.
Die parlamentarische Demokratie wird oft auch als zu abgehoben, zu elitär kritisiert. Brauchen wir mehr direkte Demokratie?
Ich halte die parlamentarische Demokratie nicht für elitär, sondern für eine bewährte Methode, politische Prozesse zu regeln. Aber – und jetzt spreche ich als Abgeordnete der Linken – ich bin seit Langem der festen Überzeugung, dass wir gegen Demokratie- und Politikverdruss nur ein Mittel haben: mehr direkte Demokratie. Das wurde auf kommunaler und auf Länderebene eingeführt, und es wird auch eifrig davon Gebrauch gemacht. Im Grundgesetz ist ausdrücklich von „Wahlen und Abstimmungen“ (Artikel 20) die Rede. Ausgenommen von jeglicher Abstimmung sind die ersten 20 Artikel – sie haben die sogenannte Ewigkeitsgarantie. Also kann niemand eine Abstimmung über die Wiedereinführung der Todesstrafe verlangen. (Nach heutiger Rechtsmeinung verstößt die Todesstrafe gegen Artikel 1 – „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Artikel 102 verbietet die Todesstrafe auch formal. – Anm. d. Red.)
Also sind Sie für Volksabstimmungen?
Ich möchte direkte Demokratie auch auf Bundesebene, wenn es um gesellschaftliche Weichenstellungen geht. Ich lasse mir auch nicht einreden, dass die Fragen meistens zu komplex wären. So wie es den Parlamentariern zuzumuten ist, sich mit komplexen Fragen zu befassen, so ist es auch den Bürgerinnen und Bürgern zumutbar, sich eine Meinung zu bilden.
Wir werden demnächst wohl eine weitere Partei im Parlament haben, die AfD. Wie wirkt sich das auf die Arbeit aus?
Es gibt keinerlei Sonderregelungen, sondern wir müssen sie argumentativ stellen. Weder rassistische noch völkische Elemente haben in den Debatten des Bundestages etwas zu suchen.
Wenn Sie den Vorsitz bei einer Debatte führen: Verhalten sich da die Abgeordneten anders als etwa bei Norbert Lammert?
Die sind genauso unruhig oder ruhig wie beim Präsidenten. Wir verhalten uns im Präsidium völlig unparteiisch. Ich muss jedem Abgeordneten zu seinem Recht verhelfen. So habe ich den Chef der CDU/CSU-Fraktion, Volker Kauder, einmal ermahnt, zu seinem Platz zu gehen und nicht bei einem Plausch mit einem Staatssekretär dem Plenum den Rücken zuzukehren – während der damals noch junge Abgeordnete Philipp Lengsfeld seine Jungfernrede hielt.
Sie entscheiden also spontan, wenn einer gegen die Regeln verstößt?
Ja, da gibt es klare Regeln – vom Mikro abdrehen bis zum Ausschluss von der Sitzung. Seit dieser Legislaturperiode gibt es auch die Möglichkeit, eine Rüge auszusprechen und dann deutlich zu machen, dass das Präsidium oder der Ältestenrat über den Fall beraten und möglicherweise weitere Sanktionen beschließen wird.
Was sind Ihre Pläne? Treten Sie wieder für das Präsidium an?
Ja, ich würde gerne weitermachen. Dafür muss ich aber vom gesamten Plenum gewählt werden, das bestimmt nicht eine Fraktion.