Die Kanzlerin ist angeschlagen – eine Jamaika-Koalition wird sie kaum retten
Lange Zeit hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ein untrügliches Gespür für politische Mehrheiten im Land. Sie wusste, wo der „Mainstream“ der Republik verortet war. Und: Mit der Präzision eines Roboters schob sie ihre Partei dahin, wo Mehrheiten für Wahlen winkten. Sie war eine effiziente Architektin der Macht.
Nach Ausbruch der Griechenlandkrise Anfang 2010 willigte Merkel zwar bei drei Rettungspaketen ein, koppelte diese aber an strenge Reformvorgaben. Rufen nach dauerhaften Finanztransfers trat sie entgegen. Kurz nach der Reaktor-Katastrophe von Fukushima im März 2011 drückte sie den Ausstieg aus der Kernenergie durch, obwohl sie kurz zuvor eine Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken beschlossen hatte. In der zu Ende gehenden Großen Koalition hielt sie den Juniorpartner SPD mit saftigen Zugeständnissen bei Laune: Mindestlohn, abschlagsfreie Rente mit 63, Frauenquote in Aufsichtsräten und zuletzt Ehe für alle.
Bis vor wenigen Wochen sah es so aus, als ob die Kanzlerin alles richtig gemacht hätte. Die Sozialdemokraten und ihr Spitzenkandidat Martin Schulz rackerten sich ab, setzten mehr „rote“ Akzente in der Regierung. Doch Merkel, deren Union im August noch an der 40-Prozent-Marke kratzte, fuhr die Ernte ein.
Seit der Bundestagwahl ist klar, dass die Unverwundbarkeit der Kanzlerin ein Mythos ist. Unter Merkel hat die CDU/CSU das schlechteste Ergebnis seit 1949 eingefahren. Die Stabilität, die sie verhieß, existierte nur zum Schein. Unter der Oberfläche brodelte es im ganzen Land.
Zu den Irrtümern der Union – aber auch der SPD – gehört, dass man die Flüchtlingskrise im Ansatz für gelöst hielt. Zwar kommen in diesem Jahr deutlich weniger Migranten nach Deutschland als 2016. Doch in weiten Teilen der Bundesrepublik herrscht das Gefühl vor, dass mit mehr als einer Million zu viele Menschen auf einmal aufgenommen wurden. Vor allem unter Geringverdienern kursierte die Frage: Warum gibt der Staat für Ausländer Milliarden Euro aus und nicht für uns? Insbesondere im Osten, in einigen Regionen Bayerns sowie Nordrhein-Westfalens profitierte die AfD vom Protest der Enttäuschten.
Der zweite Grund, warum Union und SPD an den Wahlurnen abgestraft wurden, sind die prekären Beschäftigungsverhältnisse. Ein Viertel der Arbeitnehmer in Deutschland arbeiten für 9,50 Euro oder weniger die Stunde. Mit einem monatlichen Bruttoeinkommen von höchstens 1.400 Euro kann man jedoch nur sehr schwer über die Runden kommen.
Merkel hat diese Defizite nicht erkannt. In einer Mischung aus Realitätsverweigerung, Sturheit und Abgehobenheit sagte sie am Montag: „Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssten. Ich habe diesen Wahlkampf gut durchdacht (…) und bin jetzt auch am Tag danach nicht der Meinung, dass ich das anders sehe als ich das gestern oder vorgestern oder vor zwei Wochen gesehen habe.“ Die Kanzlerin will keine Fehler eingestehen – geschweige denn, Konsequenzen aus Irrtümern ziehen.
Wer jedoch bei der Bewältigung der Vergangenheit die Wirklichkeit ausblendet, kann die Zukunft nicht erfolgreich gestalten. Merkel klammert sich noch an die Hoffnung, dass die SPD ihren Gang in die Opposition revidiert und sich am Ende doch noch zu einer weiteren Großen Koalition breitschlagen lässt. Diese Rechnung wird nicht aufgehen. Die Sozialdemokraten wissen, dass dies der Todeskuss für sie wäre.
Die einzige Alternative der Kanzlerin – eine Jamaika-Koalition zwischen CDU/CSU, FDP und Grünen – ist ein Himmelfahrtskommando. Merkel ist geschwächt und müsste beträchtliche Zugeständnisse machen. Das Problem: Die Gegensätze zwischen den vier Parteien sind so groß, dass sich haltbare Kompromisse kaum schmieden lassen.
Zwei Beispiele: Die Grünen wollen in ihrem Wir-retten-die-Welt-Gutmenschentum weitere Flüchtlinge in großer Zahl aufnehmen. Das kollidiert mit der CSU-Forderung nach einer Obergrenze. Auch die FDP würde hier nicht mitziehen. Die Öko-Partei hat sich zudem dem Ziel verschrieben, den Verbrennungsmotor bis 2030 abzuschaffen und voll auf Elektromobilität umzuschalten. Bayerns Ministerpräsident und Patron der Auto-Industrie Horst Seehofer, der bei den Landtagswahlen 2018 bibbern muss, würde hier eine Vollbremsung machen. All dies unterstreicht: Das Ende von Merkels Kanzlerschaft hat begonnen.