Ein Loch in der Erde. Muss man da hineinsteigen? Seit Zehntausenden von Jahren zieht es Menschen in Höhlen. Ging es am Anfang der Menschheit um Schutz und Überleben, dominiert heute der Entdeckergeist. Ein Ausflug in die Unterwelt.
Sand bedeckt den Höhlenboden. Wasser tropft von oben herab, es hat kleine Kuhlen und an manchen Stellen winzige Tropfsteine gebildet. Einer aus der Gruppe setzt den Fuß in den Sand – sein Abdruck ist der wohl allererste hier unten: ein komisches Gefühl, erhebend und traurig zugleich. Denn der über Jahrtausende gewachsene, unberührte Zustand ist damit zerstört.
Ein halbes Dutzend erfahrene Bergführer sind mit Seilen, Klettergurten, Helmen und Haken losgezogen, um diese noch namenlose, bisher unbekannte Höhle am Fuße des Vulkans Lanin in den chilenischen Anden zu erkunden. Sie liegt an der Grenze zu Argentinien. Nun stehen sie nach nur einer halben Stunde einfachen Fußmarsches am Ende der Lavaröhre. Sie schauen hinauf zu bizarren Felsformationen. Einer entdeckt darin ein Haifischmaul, bei dem Tropfsteine die Zähne sind. Ein anderer meint eine Jungfrauengestalt zu erkennen. Ein Dritter wäre zu gerne noch weiter und tiefer in die Erde vorgedrungen. Doch die Höhle endet hier.
Höhlen locken Menschen seit jeher an. Suchten unsere Vorfahren dort Schutz, so treiben Höhlenforscher heute Neugier, Abenteuerlust und Entdeckergeist an.
Raumfahrer kennen diese Faszination. Science-Fiction-Filme entführen uns in aufregende, ferne Galaxien. Bergsteiger wiederum wetteifern um die Erstbesteigung der höchsten Berge und schwierigsten Wände. Dabei ist heute auf der Erdoberfläche fast jeder Berg erklommen. In der Tiefe jedoch existieren weiter Gegenden und Landschaften, die noch nie ein Mensch gesehen hat.
„Immer wieder neue Hallen, neue Gänge finden. Die Unberührtheit in einer Höhle, das Ungewisse – was erwartet uns hinter dem Schein der Lampe oder nach der nächsten Stufe? Das ist die Faszination“, sagt der Münchener Höhlenforscher Peter Forster (51). „Das ist der Motor für unsere Leidenschaft.“
Neue Höhlenzugänge durch Klimawandel
Höhlen gibt es schließlich weltweit. Manche sind durch Gesteinsbewegungen oder Erosion entstanden. Andere haben sich zeitgleich mit dem Gestein, das sie umgibt, gebildet – wie die Lavahöhle am Lanin. Die meisten der Gewölbe und Gangsysteme entstehen durch die Kraft des Wassers im löslichen Untergrund.
Nicht zuletzt der Klimawandel öffnet neue Zugänge, die bisher mit Eis verschlossen waren. Zugleich lassen sich Höhlen als Klimaarchive lesen, wie Bärbel Vogel vom Verband der deutschen Höhlen- und Karstforscher erzählt. Denn Tropfsteine und Höhleneis konservieren die Spuren des Klimageschehens der vergangenen Jahrtausende.
Tropfsteine lassem sich mit den Jahresringe bei Bäumen vergleichen. Diese geben Aufschluss über Temperaturen und Niederschläge. Eine dicke Steinschicht zeugt von viel Regen. Außerdem wächst ein Tropfstein stärker, wenn es wärmer ist, weil sich der Kalk besser abscheidet.
Für Bärbel Vogel sind die unterirdischen Hallen und Tunnel deshalb nichts Statisches. Sie verändern sich ständig. Wasser sucht sich neue Wege – und bildet damit neue Gänge. Eis wächst oder schwindet. „Die Höhle lebt. Sie bildet sich ständig – und vergeht“, schwärmt Vogel.
Vor einiger Zeit drang Höhlenfan Forster mit Freunden tiefer als je zuvor in ein Gewölbe im Lattengebirge in den Berchtesgadener Alpen vor. Das Eis hatte sich zurückgezogen und einen Zugang geöffnet.
Zwischen Eissäulen schlängelten sich die Forscher durch, seilten sich über einen Eisfall hinunter – und standen plötzlich in einer bläulich schimmernden, mit Eis noch immer weit zugewachsenen Halle. Sie sahen: Danach folgt eine weitere Halle. Doch sie ist noch voll Eis. Endstation. Vorerst. „Kann sein, dass die Halle mit der Klimaerwärmung irgendwann aufgeht“, sagt Forster. Klar, dass er zurückkehren wird, um ein Stück tiefer vorzustoßen ins Unbekannte.
Den Beruf des „Höhlenforschers“ gibt es allerdings gar nicht. Vielmehr versuchen begeisterte Biologen, Paläontologen, Geologen und Archäologen, den Geheimnissen unter der Erde auf die Spur zu kommen. An Universitäten fristet der Bereich oft ein Randdasein. Vielfach haben sich so Hobbyforscher als Experten etabliert.
Geforscht wird in Deutschland etwa in der Wendelsteinhöhle bei Bayrischzell. Das Labyrinth der Gänge des 1.836 Meter hohen Berges ist schon lange bekannt. 573 Meter weit und 106 Meter tief sind die Experten darin schon vorgedrungen. Außerdem führen Forster und seine Kollegen auch völlige Neulinge in die Höhle in Oberbayern. Denn Teile des Gangsystems sind als Schauhöhle ausgebaut. Diese Touren sind Wochen vorher ausgebucht.
Seit der spektakulären Rettung des Forschers Johann Westhauser im Sommer 2014 aus der Riesendinghöhle bei Berchtesgaden ist in der Öffentlichkeit das Interesse an Höhlen gestiegen. Die Welt unter der Erde bietet den Besuchern neue Einblicke: Seen, Tropfsteine in fantastischen Formen, tiefe Schächte, im Schein der Stirnlampe schillerndes Eis. Und Dimensionen, die kaum zu fassen sind. Wie groß mag die Felsfigur am Ende des Saales sein? Wenn Vergleiche wie Bäume und Autos fehlen, ist eine schnelle Schätzung fast unmöglich.
Grünes Moos ist an manchen Wänden zu sehen: Lampenflora. Es konnte gedeihen, weil früher dort eine Lampe installiert war. Sonst fehlt Licht zur Fotosynthese. Pflanzen können in Höhlen nicht gedeihen. Wohl aber Tiere.
Mit Fallen sammelten die Experten in den vergangenen zwei Jahren aus der Wendelsteinhöhle und sechs anderen Gewölben 13.000 Tiere ein. Dabei zählten sie mehr als 200 Arten. Bei einer Höhlenwasserassel und einem Höhlenflohkrebs aus der Wendelsteinhöhle könnte es sich um bisher unbekannte Wesen handeln, berichtet der Fuldaer Höhlentierspezialist Stefan Zaenker, der die Untersuchung leitete.
Von beiden Tieren werden zusammen mit der Zoologischen Staatssammlung in München die Erbanlagen bestimmt. Sie sollen mit einer weltweiten DNA-Datenbank abgeglichen werden. „Die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich hoch, dass das Arten sind, die wir bisher nicht kannten. Ich bin ganz gespannt“, sagt Zaenker (51), der im Alltag Finanzbeamter ist. „Es gibt Forscher, die fahren an den Amazonas, um neue Arten zu entdecken. Das schaffen wir hier in der Höhle.“
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iele in der ewigen Nacht lebende Tiere haben kein Pigment und keine Augen, wie der Grottenolm, eine mit Salamandern verwandte Art. Weil es wenig Nahrung gibt, sind die meisten nur einige Millimeter groß.
Wer mit Peter Forster auf Tour geht, bekommt diese Tiere eher nicht zu sehen. Hinweise auf Leben dort unten geben nur die bräunlichen Stäbchen, die wie verbogene Zahnstocher aussehen: Fledermausknochen. Peter Forster leuchtet sie an. Mit geschultem Auge sind sie zwischen den millimeterhohen Mini-Tropfsteinen am Boden zu finden.
Am Wendelstein lockte das Abenteuer Höhle schon früh die Menschen. Dort, am 1883 erbauten Wendelsteinhaus, gab es bereits vor mehr als hundert Jahren Fackeln und Seile für eine Begehung zu leihen. „Besondere Anzüge, Lichter (…) werden vom Pächter verabfolgt“, schrieb August Edelmann in seinem 1887 veröffentlichten Reiseführer „Der Wendelstein im bayerischen Hochland“. Und weiter: „Schon die Vorhalle bildet einen natürlichen Eiskeller. Kalte Luft weht uns entgegen. Wassertropfen fallen monoton herab.“
Damals waren es vorwiegend erfahrene Berggänger, die sich über den steinschlaggefährdeten natürlichen Zugang in den Schlund wagten. Heute kann man die Wendelsteinhöhle fast als Touristenmagnet bezeichnen. Ein künstlich geschaffener Eingang unweit des Gipfelkreuzes führt über 82 Stufen in die Tiefe. Der vordere Bereich ist beleuchtet und gut ausgebaut. Es ist die höchstgelegene Schauhöhle Deutschlands.
Touristenmagnet Wendelsteinhöhle
Bis zum Dom, etwa 200 Meter vom Eingang entfernt, kommen Besucher sogar alleine. Ein Kruzifix markiert den Endpunkt für die Einzeltouren. Hier hatten die Begeher schon Ende des 19. Jahrhunderts ehrfürchtig ein Muttergottesbild und ein Kreuz angebracht.
Fröstelnd stehen Besucher selbst an einem warmen Sommertag in kurzen Hosen und T-Shirts in dem Gewölbe. Mit dieser Kälte haben die meisten nicht gerechnet. In Höhlen in unseren Breiten liegt die Temperatur konstant zu jeder Jahreszeit zwischen sechs und neun Grad, in der Wendelsteinhöhle ist es sogar noch etwas kühler.
Wer mit Peter Forster unterwegs ist, darf noch weiter vordringen. Er führt seine Gruppe tiefer hinein, über glitschigen Fels und enge Schächte klettern seine Begleiter vorwärts. Sie ducken sich unter Felsen durch.
Metalltritte erleichtern an schwierigen Stellen den Weg durch den schluchtartigen Herz-Canyon bis in die Herzkammer. „Eine sehr gute Luft ist hier drin“, stellen die Tour-Teilnehmer fest. In manchen Höhlen gibt es deshalb Therapien bei Asthma und Allergien. Die hohe Luftfeuchtigkeit kondensiert Wasser an Partikeln, die zu Boden sinken. Die Luft ist reizarm. Der hohe Kohlendioxid-Gehalt hat zudem beruhigende Wirkung.
Die Höhlenkletterer bewegen nach ihrem Ausflug in Bayern zunächst ganz andere Gefühle: „Ein Abenteuer“, schwärmen die Teilnehmer. Und: „Eine ganz neue Erfahrung.“ Fast wie der erste menschliche Fußabdruck in einer Höhle in den Anden.