Bei einem Aufenthalt in Lissabon und beim Verköstigen etlicher Sardinenkonserven kam Thomas Vetter der Gedanke, dass auch Berlin reif für die Dose sei. So entstand die Idee, das erste Feinkostbistro deutschlandweit speziell für Fischkonserven, die „Sardinen.Bar“, in Schöneberg zu eröffnen.
Dosen-Fisch! Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet Sardinen, Makrelen und Thunfisch in Weißblech in eine Genuss-Kolumne Einzug halten würden. Ich nicht. Aber da kannte ich die „Sardinen.Bar“ in Schöneberg noch nicht. Der kleine, glänzende Schwarmfisch war mir bislang ausschließlich auf dem Grill oder in Supermarkt-Konserven begegnet. Die in portugiesische Köstlichkeiten verliebte kulinarische Freundin wusste dagegen natürlich gleich in Sachen Dosenfisch de luxe Bescheid. Sie kannte die Köstlichkeiten mit den ausgesuchten und in Familienbetrieben von Hand verarbeiteten und eingelegten Fischen von dort.
„Die Speisekarte kannst du mir als Bettlektüre mitgeben“, rief sie Thomas Vetter, dem Besitzer der „Sardinen.Bar“, sogleich beglückt zu. 120 Sorten Fisch, davon allein 70 Sardinen, stehen in dem umfangreichen Druckwerk.
Thomas Vetter schmückt die Wände des ersten und bislang in Deutschland einzigen derartigen Lokals mit den kunstvoll gestalteten Dosen. Fisch und Meeresfrüchte gibt’s ausschließlich aus der Edel-Konserve: Sardinen, Thunfisch, Bacalhau, den portugiesischen Stockfisch, sowie Miesmuscheln. „Wir bieten nur ‚sauberen‘, geangelten Thunfisch“ an“, sagt Thomas Vetter. Und Makrelen, denn: „Die Portugiesen sind regelrecht makrelenabhängig.“
Die Sardinen stehen in vier Kategorien auf der Karte. „Für Puristen“ sind sie in kalt gepresstes Olivenöl eingelegt. „Jahrgangssardinen“ sind die edleren Verwandten ausschließlich aus der Bretagne. An sie kommt nur kaltgepresstes Olivenöl aus erster Pressung. Ähnlich wie bei Wein reifen sie, ziehen im Öl durch, werden mehrfach gewendet und entwickeln eigene Aromen. „Die Klassiker“ kommen mit Tomaten, Zitronen oder in Muscadet-Wein in die Dose. Die „Extravaganten“ erhalten etwa durch Sesamöl einen asiatischen Touch oder werden nach baskischer Art mit Piment d’Espelette und Bayonner Schinken eingelegt.
„Ich suche Zitronensardinen“, sagt eine Frau, die den Laden betritt. Ein Blick auf die Wand mit der Dosen-Dekoration und in die Regale am Tresen hilft. „Im freien Verkauf kosten die Dosen zwei Euro weniger als auf der Karte“, sagt Thomas Vetter. Die Frau findet die mit Zitronenscheibchen in Olivenöl eingelegten Sardinen von „la belle-iloise“, zahlt 7,80 Euro und verlässt zufrieden das Lokal. „Wenn Sie mehr brauchen, schauen Sie bei Maître Philippe vorbei. Dort sind sie günstiger“, verweist Thomas sie an den französischen Feinkost-Händler in Wilmersdorf. Aus gutem Grund: Von dort bezieht auch er seine Konserven, und die familiären Bande sind eng.
Der Fotograf, die Begleiterin und ich sind mit vier Dosen, die wir von Thomas serviert bekommen, bestens bedient. Zumal wir dazu frischen Salat, Brot und eine Flasche gefiltertes Leitungswasser – mit oder ohne Sprudel – erhalten. Letzteres ist Thomas ebenso wichtig wie eine ausführliche Erklärung der Karte bei den Gästen am Tisch. Die „Berliner Rohrperle“ von den Wasserbetrieben sei von hervorragender Qualität und nachhaltig.
Zum Fisch gibt’s Salate und Brot
Auf einem Holzbrett haften unsere Dosen per Magnet – Rutschgefahr ade! Wir probieren eine „junge“ Sardine, eine 2017er „Saint Georges“ von „la belle-iloise“ aus Quiberon und als Kontrast eine 2012er Jahrgangssardine von „Les Mouettes d’Arvor“ aus dem bretonischen Concarneau. Die gereiften Jahrgangssardinen sind weicher im Geschmack und mürber in der Textur, das Fleisch der jüngeren Sardine fester und bissiger. Alles ist letztlich reine Geschmackssache und keine Frage der Qualität. Die Sardinen stammen zudem ausschließlich aus dem Atlantik. Dort sind – im Gegensatz zum Mittelmeer – die Bestände nicht gefährdet.
Mit Karotte, Gurke und Piment d’Espelette gewürzt sind die „Petingas“ von „Pinhais“. Vier pummelige portugiesische Sardinen kommen mit fruchtigen kleinen Chilis angenehm geschärft angeschwommen. „Die Portugiesen sind einfach immer ‚down to earth‘ mit ihrer Küche“, sagt Thomas. Wir bekommen von ihm außerdem zwei ausgefeiltere Salate gereicht, die es zu „Tasting-Menüs“ mit mehreren Sardinensorten gibt: einen orientalischen Karottensalat der mit Cumin, Rosinen, Haselnüssen, Fenchelsaat und Ras el Hanout vollmundig gewürzt ist, und einen erfrischenden Grün-Roten mit Radieschen, Tomaten und Gurken. Steht die Hauptspeise fertig im Regal, tobt sich der Küchenchef an den Salaten aus.
Der 42-Jährige weiß, wovon er spricht. Der Koch und Küchenmeister kam als Küchenchef weit herum und aß in Frankreich und Portugal so manchen Fisch. „In Lissabon haben wir im ‚Sol e Pesca‘ nach zwei Flaschen Wein herumgesponnen und uns ein Konzept für Berlin überlegt.“ In der angesagten Bar überführte Besitzer Henrique Vaz Pato den für Portugal typischen traditionellen Dosenfisch stylisch serviert in die Gegenwart. Der andere Teil vom „Wir“ bei Thomas Vetters Reise war Lebenspartnerin Anaïs Causse. Sie ist Tochter des Gründers und Mitinhaberin von „Maître Philippe et Filles“. Klar war: „Berlin ist reif für die Dose!“ Bis zur Eröffnung der „Sardinen.Bar“ Ende Oktober 2016 vergingen noch drei Jahre. „Ich wollte unbedingt in Schöneberg bleiben“, erzählt Vetter. Dort, wo er selbst wohnt und ein Stammpublikum jenseits von Hypes und Touristen gern immer wieder kommt. Das funktioniert. An dem Freitagabend unseres Besuches sind alle 30 Plätze an den Holztischen reserviert. Das unkomplizierte und auf ein Produkt fokussierte Essen ist gesund und variantenreich, und es überfordert den Geldbeutel nicht – ein Gericht kostet zwischen acht und 18,50 Euro. Für die höhere Summe gibt’s Jahrgangssardinen; fast immer in einer hübschen, oft von Illustratoren eigens gestalteten Dose. Nixen, Frauen, Fischer oder Fische sind typische Motive. Die Freude am schönen Essen überdauert so die Mahlzeit, die Dosen können ausgewaschen mit nach Hause genommen werden.
Meilenweit entfernt von Supermarktware
Die „Sardinen.Bar“ gibt Thomas Vetter die Freiheit, sich auf die Zubereitung des frischen Teils des Essens direkt am Tresen konzentrieren zu können. Greift der Chef in die „Salat-Schublade“ und zur Vinaigrette-Flasche, sind ein Blick und ein Scherz mit den Gästen allemal drin. Lasche hoch, Dose auf: Der Fisch kann direkt aus dem Öl gegabelt und verzehrt werden. Wer ohne Fisch-Vorliebe ins Lokal kommt, kann auf Charcuterie oder Käse, ebenso in bewährter „Maître Philippe“-Qualität, zurückgreifen. Oder sich durch die umfangreiche Karte „mit so einigen Madeiras bei den Aperitifs“, wie die kundige Begleiterin feststellt, und durch portugiesische und französische Weine hindurchtrinken. Etwa einen der vom Chef ausgewählten „Sardinenbar-Weine“, einen „Contraste“ und einen „Alento“, die die Fischlein unkompliziert frisch begleiten. „Ich will eine entspannte Atmosphäre“, sagt Thomas. „Die Leute sollen in Ruhe genießen können.“
Wir trinken einen Roten, einen Weißen und einen Rosé vom „Contraste“ aus dem Douro-Tal und probieren portugiesischen Thunfisch von den Azoren. „Schau mal, die Balken“, sagt die Begleiterin angesichts der breiten Streifen vom „Santa Catarina Filete de Atum com Molho Cru“. Das hat nichts mit Supermarkt-Ware, „gepresstem Katzenfutter“, wie Thomas bemerkt, zu tun. Die heilige Katharina hält auf der Banderole einen Bonito-Thun liebevoll im Arm, und die Fischer von São Jorge steuerten aus ihren Gärten die Zutaten für die inseltypische Sauce „Molho Cru“ bei: Zwiebeln, Knoblauch, Petersilie, Paprika und Chili. Schön, dass wir genug vom weißen Landbrot mit der knusprigen Krume auf dem Brett haben und ordentlich aufstippen können. Saucen und Öle sind mehr als rein konservierende Flüssigkeiten und möchten mitgegessen werden.
Ein Besuch in der „Sardinen.Bar“ ist also, trotz des einzigartigen Konzepts und des Zuspruchs, ein unkompliziertes Rundum-Erlebnis für viele Tage im Jahr und nicht nur für den besonderen Anlass. Selbst der Fotograf verlangt nach den schmackhaften Omega-3-Fettsäure-Bömbchen nicht mehr nach Süßigkeiten zum Dessert. Er geht gut gesättigt und gelaunt als Erster nach Hause. Vielleicht entdeckt er beim nächsten Mal die Platte mit den „Pasteis de Nata“, den portugiesischen Vanille-Blätterteigtörtchen, auf dem Tresen?