Frankreichs Präsident setzt die Kanzlerin unter Druck
Es gibt eine neue Dynamik in Europa. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schwingt sich nicht nur zum großen innenpolitischen Reformer auf, der das starre Arbeitsrecht lockert und auf einmal für einen stabilen Haushalt sorgt. Er drückt auch in der Eurozone aufs Gaspedal. Mehr Integration und bitte bald, heißt die Devise in seiner Grundsatzrede zwei Tage nach der Bundestagswahl.
So soll ein milliardenschweres Budget für den Währungsverbund aufgelegt werden, um schwächelnden Volkswirtschaften neue Kraft zu verleihen oder Investitionen anzukurbeln. Ferner will Macron ein gemeinsames Verteidigungsbudget samt Eingreiftruppe, ein abgestimmtes Asylrecht und einheitliche Unternehmenssteuersätze. Die Eurozone begreift er dabei als Avantgarde, der sich später auch andere EU-Staaten anschließen können.
Der Franzose legt ein solches Tempo vor, dass es anderen fast die Sprache verschlägt. Dagegen wirkt Angela Merkel auf einmal merkwürdig defensiv. Die Bundeskanzlerin war lange Zeit die Schrittmacherin in der Gemeinschaft – das galt jedenfalls für das Management der Finanz-, Euro- oder Flüchtlingskrise. Doch seit den Vorstößen des Euro-Turbos Macron geriet sie ins Hintertreffen. Verstärkt wurde der Eindruck durch die schwere Schlappe der Union bei der Bundestagswahl. Merkels Manövrierspielraum ist deutlich geschrumpft. Die Sondierungsgespräche mit den in wichtigen Punkten überkreuz liegenden Jamaika-Koalitionären CSU, FDP und Grünen werden schwierig und langwierig.
Beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs im estnischen Tallinn vor einer Woche bemühte sich die Kanzlerin zwar, als Tandem-Partnerin von Macron aufzutreten. So lobte sie den „guten Impuls“ aus Paris. Es gebe „ein hohes Maß an Übereinstimmung, auch zwischen Deutschland und Frankreich“, so Merkel. Der Verdacht liegt allerdings nah, dass es sich hier eher um taktische Verbal-Kosmetik handelt. Die Kanzlerin will neben Macron nicht als Bremserin dastehen. Dafür spricht, dass Merkel auf die noch zu klärenden „Details“ verweist, in denen bekanntlich der Teufel steckt.
Zwei ihrer potenziellen Koalitionspartner, den Liberalen und der CSU, gehen Macrons Europa-Pläne zu weit. So fordert FDP-Chef Christian Lindner eine Rückkehr zur „alten stabilitätsorientierten“ Linie. Also: ausgeglichener Haushalt, Strukturreformen zur Entlastung von Unternehmen. Auch der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) mahnt zur Vorsicht: „Was Macrons finanzpolitische Vorstellungen angeht, bin ich sehr, sehr skeptisch. Es läuft letztendlich auf mehr Transfer hinaus.“
Dagegen wittern die Südeuropäer, die jahrelang die im Maastricht-Vertrag festgeschriebenen Defizitgrenzen überschritten hatten, auf einmal Morgenluft. „Jetzt ist die Zeit des Ehrgeizes gekommen“, schwärmt Italiens Ministerpräsident Paolo Gentiloni. Aus Spanien kommt ebenfalls Zustimmung. Griechenlands Premier Alexis Tsipras trommelt bereits seit einiger Zeit für einen Schuldenschnitt. Auch EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker preist den französischen Staatschef. Macrons Ansprache sei „sehr europäisch“ gewesen. Und Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn appelliert an Merkel: „Man erwartet in Europa, dass auch eine Rede aus Deutschland kommt, die nicht europapolitisch zerknirscht ist, sondern nach vorne zeigt.“
Allerdings sind nicht alle begeistert. Die Niederländer und Skandinavier fremdeln mit den Plänen für ein „souveränes Europa“, das nicht mehr auf Freihandel und Wettbewerb, sondern auf Steuerharmonisierung und Umverteilung setzt. Die Osteuropäer fürchten, an den Rand gedrängt zu werden, wenn die Eurozone – wie von Macron geplant – zum harten Kern der EU ausgebaut wird.
Keine Frage: Der französische Präsident hat neuen Schwung in die Europa-Debatte gebracht. Das wirkt in einigen Ländern wie leicht euphorisierendes Stimmungs-Doping. Doch jeder einzelne Vorschlag muss in mühevoller politischer Kleinarbeit abgeklopft werden, ob er sinnvoll und machbar ist. Unbestritten: Europa braucht einen Krisen-Mechanismus für den Fall, dass einzelne Volkswirtschaften katastrophal erwischt werden. Doch die Wettbewerbsfähigkeit sollte in der Verantwortung der einzelnen Länder bleiben. Ansonsten besteht die Gefahr, dass nur über Verteilschlüssel für soziale Wohltaten geredet wird.