Sex sells: Dass dies inzwischen nur noch bedingt gilt, zeigt auch die Messe „Venus" in Berlin. Die Erotikbranche ist im Umbruch: Statt in Clubs und aufwendigen Filmen räkeln sich Cam-Girls online. Dabei passiert offenbar viel im rechtsfreien Raum.
Nadeschda arbeitet seit knapp zehn Jahren im Erotikgewerbe, lange Zeit war sie vor allem Table-Dancerin. Eigentlich hat sie eine klassische Tanzausbildung, doch in Nachtclubs an der Stange konnte sie das Zehnfache pro Abend verdienen wie in der Oper. Der Job machte ihr unheimlich Spaß, nicht nur, weil sie gutes Geld verdienen konnte, sondern auch immer mit dem Publikum „ganz natürlichen, direkten Kontakt" hatte. Die Gäste luden sie auf einen Drink ein, die Entscheidung, ob es dann noch ein zweiter wurde, lag bei ihr. Meist blieb es aber bei einem, weil sie ja dann auch wieder an die Stange musste.
Dieses Nachtclubleben liegt nun schon einige Jahre zurück, die festen Gagen in den Dance-Clubs wurden kleiner und nur mit der Umsatzbeteiligung allein lohnte sich dieser Job dann nicht mehr. Immer mehr Leute saßen lieber vor ihrem Rechner und genossen die Digital-Erotik. „Nach Abzug meiner Taxirechnung am Abend konnte ich dann von dem Verdienst noch mal meinen Kühlschrank auffüllen und das war‘s dann auch", erzählt Nadeschda und guckt noch im Nachhinein bestürzt. Eine Freundin brachte sie dann auf die Idee für ihren neuen Job: Es geht zwar immer noch um Erotik, aber nicht mehr um Tanz, sondern nur noch ums Räkeln auf dem Stuhl, im Sessel oder im Bett vor der Livestream-Kamera. Dass sie dabei auch an sich selbst ein bisschen herumspielen muss, stört die 32-Jährige dabei weniger, denn das Geld als Cam-Girl stimmt nun nach einer Sechs-Stunden-Schicht wieder. „Was mir aber als erstes auffiel: Der Umgangston der Stream-Kunden war ein völlig anderer als in den Clubs", so Nadeschda. „Die Internet-Kunden sind völlige Egomanen, es geht nur um das eigene Vergnügen. Sie geben Kommandos wie bei der Armee: ‚Mach jetzt so, und dann so, das geht noch besser!‘ Nach spätestens fünf Minuten sind sie weg."
Was Nadeschda heute fehlt, ist der persönliche Kontakt zu ihren Kunden. Und teilweise wird sie mit einer Fäkalsprache belegt, dass ihr Hören und Sehen vergeht. Aber den „Schweine-Streamer" einfach rausschmeißen geht auch nicht, dann verdient sie kein Geld. Ihre Kollegin Denise hat ihr da einen Trick verraten: den Kunden darauf aufmerksam machen, dass man auch Mensch ist und so behandelt werden möchte. Fängt der Streamer an zu diskutieren, haben die Cam-Girls gewonnen, denn je länger der dabei ist, desto mehr wird verdient.
Doch Nadeschda sehnt sich zurück in die Clubs mit menschlichen, höflichen Kontakten, „ab und zu kriege ich noch solche Aufträge, das ist immer was ganz Besonderes für mich." Live-Auftritte gehören für sie inzwischen zur „guten alten Zeit". Kollegin Denise kann dies nur bedingt verstehen, sie kommt aus dem Filmgeschäft, hat jahrelang Pornos gedreht. „Keine besondere Sparte, eher die softe Art, rein-raus, rein-raus, nach einer halben Stunde war alles im Kasten und wir haben gut verdient", erzählt die Enddreißigerin und zündet sich noch eine an –
schließlich ist sie jetzt offline, hat also Feierabend. „Die Gagen am Porno-Set sind mittlerweile beschi…", bringt Denise die Lage in der Branche sehr deutlich auf den Punkt. „Die Pigs (gemeint sind die Produzenten) locken dich jetzt mit dem Argument: ‚Wenn du bei mir mitmachst, dann sehen dich viele und wollen dich dann persönlich streamen, dann verdienst du genug Kohle.‘"
Ein Argument, das nicht nur am Set für Pornofilme gerne angeführt wird, aber nirgendwo so offensiv wie dort. Denn auch die Porno-Produzenten sind in den vergangenen Jahren finanziell reichlich unter die Räder gekommen. Für eine professionelle 20-Minuten-Filmszene winken den Darstellern zwischen 200 und 400 Euro, meist aber im unteren Segment der genannten Spanne. Wer drei Aufträge pro Monat kriegt, ist gut, aber immer noch sozialhilfebedürftig. Die Produzenten argumentieren, sie bilden nur noch die Bühne für die Präsentation ihrer Darsteller. Ihr Geld müssen „die Stars" dann über Klickraten, Follower, Streaming und Sonderwerbeformen wie Auftritte verdienen.
Ohne Streaming läuft nichts mehr
Einer, der das Geschäft seit 35 Jahren in- und auswendig kennt, ist Geschäftsführer Andreas Kirchen von VPS Film-Entertainment. Er hat als Filmhändler im klassischen Unterhaltungsbereich angefangen, ist in der Erotikbranche gelandet: „Da haben wir in den 90er-Jahren noch richtig viel Geld verdient. Doch dann kam das Internet und hat alles auf den Kopf gestellt." Früher hat man für die Produktion eines guten Pornos mit Drehbuch und ausgesuchter Location pro Szene noch mit um die 25.000 Euro gerechnet. „Das ist heute natürlich absolut illusorisch, in dieser Größenordnung geht kaum noch was, das ist High End", sagt Kirchen.
Normal geht es heute pro Szene noch um 5.000 Euro, eher weniger. „Früher haben wir die Produktionskosten allein über den DVD-Verkauf wieder reingeholt", so Kirchner. „Der DVD-Handel war an erster Stelle in der Wertschöpfungskette, dann kamen die Filme in die Kinos." Heute gehen zwar immer noch die blitzenden Scheiben über die Ladentheke, aber die Konkurrenz durch das Internet ist übermächtig. Wobei sich der frühere Pornofilmproduzent glücklich schätzt, als Händler überhaupt überlebt zu haben. Vielen seiner Kollegen ist längst die Luft ausgegangen.
Dabei ist weniger das Internet als solches das Problem, denn auch im normalen Film-Unterhaltungsbereich existieren ja Video-Verleih, Streaming-Dienste und DVD friedlich nebeneinander. Das Problem, so der Bundesverband Erotik Handel (BEH) in Hamburg, ist der Jugendschutz, „der im Internet generell seit fast zwei Jahrzehnten nicht stattfindet und offenbar auch niemanden interessiert", so der Vorsitzende des BEH, Uwe Kaltenberg.
„Jede DVD-Hülle, jedes Plakat, auf dem mehr zu sehen ist, als was der Jugendschutz zulässt, führt umgehend zu einer Abmahnung. Doch dass im Internet Hardcorepornos für alle verfügbar sind, ist zur Normalität geworden", schimpft der Rechtsanwalt.
Erster Ansprechpartner, sollte man denken, ist eigentlich die Telekom, die ja Herr über die Internetleitungen ist und dafür Sorge tragen müsste, dass Jugendliche nicht an solche Filme rankommen. Doch der Telekommunikations-Riese aus Bonn weist alle Verantwortung von sich. In einem Schreiben, das auch FORUM vorliegt, macht die Telekom das „Provider-Privileg" für sich geltend. Das heißt, sie stellt nur die Technik zur Verfügung und ist damit für die Inhalte, die da transportiert werden, nicht verantwortlich. Grundlage ist das Teledienst-gesetz. Für Rechtsanwalt Uwe Kaltenberg ist klar: Der Gesetzgeber müsste dieses Provider-Privileg neu fassen. „Denn die Frage ist ja, wie kann es sein, dass fortgesetzt Straftaten begangen werden und die Telekom das weiß, aber nicht reagieren muss."
Ausgehebelter Jugendschutz
Doch der Vorkämpfer gegen Netzkriminalität, Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), zuckte – auf diesen Zustand angesprochen – im Bundestag nur mit den Schultern. Denn der Bund ist dafür gar nicht zuständig: Jugendschutz im Internet ist Ländersache. Genau genommen sind aber auch die Landesmedienanstalten nicht direkt verantwortlich, sondern diese haben wiederum die „Kommission für Jugendmedienschutz" (KJM) eingerichtet. Die ist tatsächlich die Stelle für „Überwachung und Jugendschutz im Internet".
Man muss an dieser Stelle eigentlich nicht erwähnen, dass diese Kommission personell unterbesetzt ist. Dennoch ließ sich Rechtsanwalt Kaltenberg nicht abschrecken und probierte es: „Aber die KJM hat uns dann echt die kalte Schulter gezeigt. Ja, man könnte handeln, hieß es, aber wir machen das nicht. Ende der Durchsage." Also weiter: Da sind ja noch als letzte Instanz die Staatsanwaltschaften, die müssen von Amts wegen aktiv werden, sonst wäre es Strafvereitelung, dachte sich Rechtsanwalt Kaltenberg.
Der Vertreter der Erotikhändler stellte bei der Staatsanwaltschaft Hamburg fast 60 Strafanzeigen wegen Verbreitung pornografischer Schriften und Verstoß gegen den Jugendschutz im Internet. Er hatte den Strafermittlern die gängigsten Internetseiten inklusive Beweismaterial fein säuberlich aufgelistet. Die Überraschung kam im Doppelpack: Die Staatsanwaltschaft Hamburg gab zwar dem Rechtsanwalt in allen Punkten Recht, tut aber trotzdem nichts. Immer wieder hieß es: „Die Internetseite enthält zwar in Deutschland strafrechtlich relevante Inhalte, eine Strafverfolgung ist jedoch nicht möglich, da ein inländischer Betreiber nicht ermittelt werden konnte." Kaltenberg: „Und genau an dieser Stelle beißt sich die Katze dann endgültig in den Schwanz. Man kommt zwar nicht an den Betreiber der Seite, aber zumindest an das Unternehmen, das diese Seiten durchleitet, doch nichts passiert." Ein kleiner Trost ereilte Rechtsanwalt Kaltenberg vor sechs Wochen, nach über zehn Jahren zumindest ein kleiner Achtungserfolg: „Das Bundesfamilienministerium hat uns signalisiert, sich der Sache Porno-Jugendschutz im Internet anzunehmen, und will nun seinerseits Kontakt mit dem Bundesjustizministerium aufnehmen. Mal gucken, was da rauskommt: Denn das Bundesjustizministerium ist ja eigentlich gar nicht zuständig..."