Wie viele Teile der Welt wurde auch die Südsee heimgesucht von den Kolonialmächten. Das Leben der Insulaner wurde auf den Kopf gestellt. Plötzlich änderte sich für sie alles – auch ihre Religion. Noch heute sind die Menschen hier gläubiger als im Vatikan, auch im Königreich Tonga.
Sie waren Pioniere, Heilsbringer, Krankenpfleger, Lehrer und oft auch Märtyrer. Die Rede ist von Missionaren in der Südsee, die versuchten den christlichen Glauben ab dem 17. Jahrhundert nach Ozeanien zu bringen. Zahlreiche Herausforderungen galt es zu meistern: Die klimatischen Bedingungen waren alles andere als einfach, es gab schlechte hygienische Zustände und natürlich sprachliche und kulturelle Barrieren. Alle Prediger erlernten zudem noch die Lokalsprachen. Auch das heutige ethnologische Wissen wäre ohne die Missionare nicht denkbar. Denn sie leisteten auch einen erheblichen Beitrag zur Dokumentation der einheimischen Sprachen und Kultur. Konflikte mit den Insulanern führten oft auch zum Tod der Verkünder.
Sonntags ist der Gottesdienst ein Muss
Doch es wird auch Kritik an der Christianisierung der Südsee laut. Während der langen Zeit, die seit der Entdeckung der südpazifischen Inseln vergangen ist, hatten Missionare das traditionelle Leben der Insulaner beeinträchtigt, wenn nicht gar ganz zerstört. Ihre Nacktheit war auf einmal tabu, sie mussten Kleider tragen. Ihr Animismus wurde untersagt, und gerade auf Tonga sind die Menschen gläubiger als im Vatikan. Druck auf die Bevölkerung üben auch immer wieder Priester aus, die über den Alltag ihrer Schützlinge wachen und diesen auch in den sonntäglichen Predigten in den Mittelpunkt stellen.
Ein Sonntag auf Tongatapu, der Hauptinsel des Königreiches Tonga. In Nuku’alofa geht es ruhig zu. Alle Geschäfte und Büros der Hauptstadt sind geschlossen. Weder Taxis noch Busse fahren. Es ist still, wohltuend still. Die Fahrer der wenigen Autos, die nach
einem Parkplatz suchen, wollen zum Gottesdienst.
Aus der katholischen Basilika klingen Stimmen und Musik. Trompete wird gespielt oder besser noch geübt. Die Atmosphäre ist feierlich, denn jeder wartet auf die Ankunft des Priesters. Der Kirchenbesuch am Sonntag gehört zum Alltag der Tongaer dazu und ist in dem Inselreich im Südpazifik fest in der Gesellschaft verankert. Auch in den kleinsten Dörfern gibt es beeindruckende Gotteshäuser. Die meisten Tongaer sind Christen. Der überwiegende Teil der Bevölkerung gehört mit 41,3 Prozent der Freien Wesleyanischen Kirche von Tonga an. 16 Prozent der Bewohner sind römisch-katholisch, und zwölf Prozent sind Mitglieder der Freien Kirche von Tonga. Mit 14 Prozent sind die Mormonen als Anhänger der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage verhältnismäßig stark vertreten. Diesbezüglich ist Tonga Rekordhalter, da es in keinem unabhängigen Staat auf der Erde am Bevölkerungsanteil gemessen mehr Mormonen gibt.
Aloisio Kaitapu schreitet langsam die breite Treppe zum Kircheneingang hinauf, seine Tochter und Enkel folgen ihm. Der elffache Familienvater kommt jeden Sonntag zum Gottesdienst. „Anders könnte ich mir mein Leben nicht vorstellen. Die Kirche gehört immer dazu", sagt der 67-Jährige. Er und seine Familie tragen Sonntagsstaat, obligatorisch ist der Bastrock, den Frauen wie auch Männer über ihre Kleider tragen. Ältere Damen wedeln sich in der Schwüle des Vormittags mit einem Bastfächer Luft zu, bevor sie auf den Kirchenbänken Platz nehmen.
Maria Fainhaanuku trifft auf der luftigen Balustrade ihre Freundinnen. Für die 67-Jährige aus dem Umland der Hauptstadt ist der Kirchenbesuch eine willkommene Abwechslung. Sonst käme sie nie raus aus dem Vorort, ein Auto hat sie nicht und außerdem ist sie auf die Hilfe ihres Sohnes angewiesen. Und er geht eben auch jede Woche zum Gottesdienst. Für Maria ist nicht nur das Zwischenmenschliche wichtig, sondern auch die Begegnung mit Gott. Damit ist sie aufgewachsen. Nicht mehr in die Kirche gehen zu können, sei unvorstellbar für sie. „Unser Leben wird in erster Linie vom Glauben bestimmt", betont sie. „Unsere ganze Gesellschaft gründet sich auf den Glauben an Gott."
Endlich ist er da: Priester Francis Paul Niukapu. Begleitet von Ministranten schreitet er zur Kanzel und beginnt mit einem Gebet. Gepredigt wird in Tongaisch, die offizielle Sprache von Tonga. Sie gehört zu den polynesischen Sprachen. Viele Tongaer sprechen auch Englisch, und es gibt auch Gottesdienste in englischer Sprache. Der Klang von Posaunen ertönt. Die Gottesdienstbesucher singen laut mit, kennen die Liedzeilen auswendig. Kinder und Teenager sitzen jeweils mit Gleichaltrigen zusammen. Gemeindehelferinnen sprechen Psalmen. Auch sie tragen Baströckchen. Darunter moderne, farbenfrohe Kleider und Schuhe mit hohem Absatz.
Wie die Legende erzählt, tauften erste Missionare im August 1831 Taufa‘ahau, den späteren König George Tupou I. Der Überlieferung zufolge weihte er die Tonga-Inseln Gott, indem er eine Handvoll Erde nahm und sie betend zum Himmel hob. Später, im Jahr 1891, kamen die nordamerikanischen Missionare der Heiligen der Letzten Tage nach Nuku‘alofa und gründeten den Distrikt Tonga, der zur Mission Samoa gehörte. Die erste Mission auf Tonga wurde 1916 gegründet. Doch ab 1922 bekamen die Glaubensbrüder – von wenigen Ausnahmen abgesehen – kein Visum mehr.
Die Polygamie wurde abgeschafft
Um die dadurch entstandenen Schwierigkeiten zu bewältigen, berief der Missionspräsident einheimische Missionare, die in ihrer Heimat dienen sollten. Nach zwei Jahrzehnten gab es auf Tonga eine große Zahl von glaubenstreuen Brüdern. Als die Ausländer Tonga im Jahr 1940 wegen des Zweiten Weltkriegs verließen, gab es bereits starke ortsansässige Führungskräfte. Noch heute ist es für junge Tongaer durchaus üblich, auf Mission zu gehen.
„Mit Beginn des Christentums wurde Polygamie auf Tonga abgeschafft. Der Mann bekannte sich nur noch zu einer Frau", sagt Priester Francis Paul Niukapu nach dem Gottesdienst. „Sobald ein Dorf-Chef zum Christentum konvertierte, folgte ihm auch der Rest seiner Untertanen. Hinzu kommt, dass die Familie bei uns immer an erster Stelle steht." Dabei werden die Ältesten ganz besonders respektiert. Mutter, Vater, Kinder, Großeltern, Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins sowie Nichten und Neffen werden als Familie betrachtet und nicht als Verwandte. Francis Paul Niukapu kennt auch den westlichen Lebensstil. Nach seinem Theologiestudium auf Fidschi studierte er im kanadischen Ottawa. „Das Christentum hat in der Südsee sehr viel bewirkt und verändert. Die Parallelen zwischen unserer Kultur und dem Evangelium reichen weit in die Familien hinein", fügt er hinzu. Gerade auch mit seiner westlichen Erziehung will er seine Gottesdienste moderner und weniger hierarchisch machen. Denn einen starken Einfluss auf die Gemeinde haben die heutigen Prediger immer noch.
Die Gemeindemitglieder strömen aus der Kirche. Sie wollen dem Priester kurz die Hände drücken oder ein paar Worte mit ihm wechseln. Dann gehen alle nach Hause. Das Städtchen Nuku’alofa liegt wieder so verlassen da wie vor dem Gottesdienst. Nun geht die Feier in der Familie weiter, um mittags die beste Mahlzeit der ganzen Woche einzunehmen. Und die gibt es eben immer am Sonntag – nach dem Gottesdienst.