In „Martins Place Kuchenmanufaktur" beherrscht man Backkunst in Perfektion. Da werden Torte für Torte ideenreiche Kreationen geschaffen, Stück für Stück feinste Leckerbissen serviert. Aber auch Klassiker wie Omas Apfelkuchen locken Genießer nach Neukölln.
Rote Beeren spielen Obstgarten auf einer weißen Cremetorte. Abgeflämmtes Marzipan wellt sich als Kuscheldecke über eine mit Erdbeeren gefüllte andere. Unter schmuckvollen Oberflächen wie diesen verbergen sich sahnige oder cremige Füllungen, frische Früchte oder Käse-Quark-Massen. Meist bilden Biskuit- und Mürbeteigböden oder Rührteige die Grundlage für raffinierte Aufbauten oder versunkenes Obst. Es wird oft hochgestapelt in „Martins Place Kuchenmanufaktur". Joseph Martin ist der Tortenbaumeister, der die ansehnlichen Gebilde für Vitrine und Verkauf kreiert. Gemeinsam mit seinen drei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Backstube zaubert er wochentags mindestens 14 Torten. An den Wochenenden sind es bis zu 30. Sie werden dann Stück für Stück nach vorn geholt und aufgeschnitten.
An Ideen für seine Kreationen mangelt es Joseph Martin nicht. Nur an Platz in dem kleinen Laden. Zwei Tischchen mit Stühlen drängen sich innen vorm Schaufenster. Draußen stehen sommers mehr Tische auf dem Bürgersteig. „Ich bräuchte mindestens eine Zwei-Meter-Vitrine", sagt der Konditormeister. „Ich würde gern auch französische Patisserie machen, aber dafür ist einfach zu wenig Platz." Zur Verfügung stehen ihm lediglich 1,20 Meter für die 14 Torten. Dauerbrenner wie Omas Apfelkuchen, Orientalische Orange, New York Cheesecake, Käse-Nuss-Karamell und Sachertorte teilen sich den Platz mit Neu-Kreationen wie Kokoscremetorte oder Schoko-Mousse sowie mit saisonalen Obstkuchen.
Einen lange festgelegten Produktionsplan gibt es nicht. Häufig überrascht Martin mit einem Foto auf Facebook oder Instagram und weckt den Appetit der Süßmäuler auf Neues. „Es gibt die Basis", sagt Martin, „ich probiere, ich nehme dies und das und mache etwas Neues daraus, etwa aus Karotte und Kürbis zusammen in einem Kuchen." Das ist Improvisationskunst, wie sie sich Könner erlauben können. So spontan-verspielt Martin seine Kuchen und Torten erfindet, so streng ist er bei der Qualität. Vorgefertigtes und Convenience kommen ihm nicht in die Form. „Sahne, Butter und auch die Eier sind frisch." Spricht’s, verschwindet hinter den Tresen, zieht eine Backofentür auf und wirft einen Kontrollblick auf die Bleche: „Wir trocknen gerade Birnen und Bananen."
Eine Bekannte streckt überraschend den Kopf in den Laden, lässt den Blick über die Auslage schweifen, erblickt den Fotografen und mich. Großes Hallo. Sie ist gerade nicht auf Süßes aus. Aber sie hinterlässt uns einen schönen Satz zum Abschied: „Der Geruch allein ist schon zum Kauen schön." Das finden wir ebenfalls und fügen dem Duft- nun das Geschmackserlebnis hinzu. Ein Stück Zwetschgenkuchen unter einer Baiserhaube und Pecan-Walnuss-Haselnuss-Streuseln sowie ein Stück Schoko-Mousse-Torte landen auf dem Tischchen vor uns. Rosenstrauß, Teelicht, Tischdeckchen. Cappuccino. Wir fühlen uns wie in einer Puppenstube mit Hipster-Flair. Einen Happen vom vollfruchtigen, aber schön bissfest strukturierten Pflaumenteil des Kuchens, die schmelzende Süße des leicht cremigen Baisers und knuspriger Mürbeteig. Der Zwetschgenkuchen ist voll von fein kontrastierenden Nuancen aus Frucht und Süße, Fluff und Knack. Die Schoko-Mousse-Torte dagegen vereint eine Mousse au Chocolat mit weißer Schoko-Ganache mit Kaffee und Alkohol unter der mit Marzipan-Scheiben geschmückten Oberfläche. Sie ist eher herb im Ton. Joseph Martin setzt auf einen Tick weniger Zucker als üblich und lässt lieber Cremes, Früchte und Aromen direkt wirken. Der schockverliebte Fotograf beginnt zu rechnen, wie viele Stunden er im Gym trainieren muss, wenn das mit dem Probieren so üppig weitergeht. „Was kostet ein ganzer Zwetschgenkuchen?", überlegt er dennoch sofort in Anbetracht eines nahen Festes. Um die 44 bis 54 Euro etwa. Ein Stück ist in „Martins Place" für 3,70 bis 3,90 Euro haben.
Ausnahmslos streng in Sachen Qualität
Das ist nicht preiswert, aber angesichts von Güte und Genuss angemessen. Joseph Martin würde es nicht übers Herz bringen, nach seinem freien Montag und Dienstag, nicht mehr tipptopp taufrische Kuchen vom Wochenende zu verkaufen. Er bringt es aber ebenso wenig fertig, Sonntagabend übriggebliebenes wegzuwerfen. Lieber teilt er es mit Menschen, die sich so etwas gerade nicht leisten können. Er packt bei Geschäftsschluss Kuchenpakete und gibt sie an Bedürftige weiter, ohne groß Aufhebens zu machen.
Joseph Martin mag selbst, was er herstellt. „Ich mag Kuchen, ich mag es zu essen. Kaffee und Kuchen, hmmm", sagt er mit glimmenden Augen. Praktischerweise hat ihn die Natur zu dieser Vorliebe passend mit einer schlaksigen Silhouette ausgestattet, die nicht erahnen lässt, dass er 62 Jahre alt ist und mit Sohn Edi Martin bereits die zweite Generation in der Backstube steht. Joseph Martin ist täglich vor Ort. Erfindet zwischen Rührgerät und Waage, Backblechen und Tortenringen Neues. Fertigt Festtags- und Hochzeitstorten, die auch zum Wochenanfang verlangt werden. Die Stammkunden kommen von überallher angefahren, und stapeln, wie bei unserem Besuch an einem Freitagmittag, zum Abholen auch gleich drei Kartons mit ganzen Torten übereinander.
Die Torten sind so lecker wie fotogen
Der Beruf ist Joseph Martins Berufung, und sie fand ihn über den Umweg der Hotellerie. In Tel Aviv hatte er Hotel-Management studiert, machte sein Pflichtpraktikum nach dem Abschluss im örtlichen Hilton. Bei Hans Bertele in der Hotel-Konditorei sprang der Funke über. Eine Ausbildung bei Lenôtre in Paris zum Maître folgte. Im Hotel Sacher in Wien erhielt er Einblick in die österreichische Tortenbäckerei. In Deutschland legte er schließlich noch die Konditormeisterprüfung ab. Ehefrau Iris gab den Anstoß für den Umzug im Jahr 2006 von Tel Aviv nach Berlin: „Meine Frau ist Deutsche und hat gesagt: ‚Komm Baby, wenn, dann gehen wir nach Berlin.‘"
So kommen die Kunden im nördlichen Neukölln seit März 2013 in den Genuss von original inspirierter Sachertorte, aber auch von Sesamkuchen mit Pistazienglasur und von „Orientalischer Orange". Der mit viel Grieß gebackene und mit Orangensaft getränkte Kuchen vereint westliche und östliche Backtraditionen würzig-frisch und ausgesprochen saftig in sich. „Rogalach" – kleine, mit Schokolade gefüllte Croissants – und „Schneckalach", Zimtschnecken, gibt es manches Mal am Wochenende zu kaufen, wenn die späten Frühstücker ab Mittag ihre Croissants und Brioches holen. Wenn nur das Platzproblem nicht wäre! Dann gäbe es öfters die traditionellen französischen „Baba au Rhum", mit Rum getränkte Hefeküchlein, die mit Sahne und frischen Früchten gegessen werden. Joseph Martin hält die Augen offen nach neuen, größeren Räumlichkeiten. Die treue Kundschaft aus der Gegend hat indes gelernt: Laden betreten, Fotos machen, per Messenger verschicken. Die Daheimgebliebenen fragen, was es werden soll. Kuchenpäckchen packen lassen, zu Hause konditern. Sehr fotogen sind die Torten, ganz gleich, ob in Gänze oder im Anschnitt, ohnehin. Cheesecake, Schoko-Mousse-Torte und Orangen-Mohntorte sind es bei einem jungen Mann geworden, der praktischerweise gleich einen Kinderwagen für den Transport dabeihat. „Ist viel, aber man ist ja Nachbar", sagt er beinah entschuldigend.
Wir stimmen zu. Es ist wirklich viel auf dem Teller, so ein Stück, das mit dem Diminutiv nichts zu tun hat. Wie heißt doch gleich diese Schoko-Karamellbombe vor mir? „Ich weiß nicht, die ist noch ganz neu", ruft mir Joseph Martin zu. Auf einem knusprigen Mürbeteigboden lagert eine klebrige Karamellschicht mit knackigen, ganzen Erdnüssen. Ein Schoko-Topping aus 62-prozentiger Bitterschokolade gibt sich harmlos und uns den kalorienreichen Rest. Am Rand weisen Erdnuss-Crossies auf das hin, was sich unter der dunklen Haube verbirgt. Ich sage wohlig seufzend: „Das ist der Torte gewordene Snickers-de-Luxe-Riegel."
Der Traum vom ausgewachsenen Café wird wohl wahr
Es hat wieder einmal funktioniert: Ein Besuch in der Kuchenmanufaktur ist immer eine Überraschung. Auch in Zukunft wird das so bleiben. Klappt es mit einer größeren Backstube plus Café andernorts, sollen die bisherigen Stammkunden nicht woanders hinfahren müssen. Aus den Räumen in der Pannierstraße soll dann endlich ein ausgewachsenes Café werden. Mit Zwei-Meter-Vitrine und noch größerer Tortenauswahl, versteht sich.