Der Wahlsieg der ÖVP in Österreich sorgt für eine neue Dynamik in der EU.
Die Sorgen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sind seit vergangenem Sonntag noch größer geworden. Nicht nur, dass sie die politische Quadratur des Kreises schaffen muss, um eine Jamaika-Koalition zusammenzubasteln. Zu unterschiedlich sind die Positionen von FDP und Grünen etwa in der Flüchtlings-, Wirtschafts- oder Klimapolitik. Auch die von der Union vergeigte Landtagswahl in Niedersachsen schwächt Merkels Position.
Hinzu kommt, dass es für die Kanzlerin künftig noch schwieriger wird, in Europa eine moderierende Führungsrolle einzunehmen. Die Zentrifugalkräfte in der EU werden stärker. Auf der einen Seite setzt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit seinen Forderungen nach einer Vertiefung der Eurozone Merkel unter Druck. Auf der anderen Seite bremst der sehr wahrscheinlich neue Kanzler Österreichs, Sebastian Kurz, bei einer weiteren Integration der Staaten-Gemeinschaft. Er hat vor allem mit einer Botschaft die Parlamentswahl am Sonntag gewonnen: Keine neuen Flüchtlinge.
Der Wahlsieg des 31-jährigen Chefs der konservativen ÖVP sorgt in mehrerlei Hinsicht für eine neue Dynamik in der EU. Die bislang auf strikte Abschottung bedachten osteuropäischen Regierungen in Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei bekommen mit Kurz einen neuen Verbündeten. Er hatte sich bereits als Außenminister der großen Koalition vehement für eine Schließung der Balkanroute eingesetzt – sehr zur Freude von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und seinen Amtskollegen im Osten. Später machte er sich dafür stark, Migranten in Auffanglagern in Libyen und anderen nordafrikanischen Ländern festzuhalten. Dort sollte ein möglicher Anspruch auf Asyl geprüft werden und nicht erst auf EU-Boden.
Nach Kurz’ Wahl-Triumph ist klar, dass Merkel Österreich endgültig als engen Partner in der Flüchtlingsfrage verloren hat. Es war der ehemalige sozialdemokratische Kanzler Werner Faymann, mit dem sie im September 2015 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Öffnung der Grenzen vereinbart hatte, um Hunderttausende Migranten aufzunehmen. In europäischen Hauptstädten wurde dies später als „einsame Entscheidung“ kritisiert.
Der Senkrechtstarter Kurz hat mit seiner Mischung aus kantiger Rhetorik, höflichem Auftreten und jugendlichem Charme den Nerv vieler Österreicher getroffen. In großen Teilen der Bevölkerung herrscht eine Jetzt-reicht’s-Haltung, was die Beherbergung weiterer Flüchtlinge angeht. Der machtbewusste Kurz hat dies früh gemerkt und das zugkräftigste Wahlkampf-Argument der rechtspopulistischen FPÖ gekapert.
Eine Koalition zwischen ÖVP und FPÖ ist daher die plausibelste Regierungs-Variante unter einem Kanzler Kurz. Und dieses Mal dürfte eine derartige Konstellation nicht mehr als Skandal-Veranstaltung über die Bühne gehen. Als „Schwarz“ und „Blau“ zwischen 2000 und 2007 gemeinsam im Kabinett saßen, schwappten Wellen der Empörung über Europa. Insbesondere die fremdenfeindlichen Äußerungen der FPÖ-Ikone Jörg Haider sorgten für Proteste. Die restlichen EU-Staaten verhängten Sanktionen gegen Österreich.
Das Bündnis wird auch deswegen weniger Widerstand auslösen, weil sich die seit 1955 existierende FPÖ von einer Rechtsaußenpartei zu einer rechts verorteten Volkspartei entwickelt hat. Immerhin machte fast jeder dritte Österreicher bei der Gruppierung sein Kreuz. Parteichef Heinz-Christian Strache gab sich betont moderat. Den Paria-Status, der ihr noch in der Haider-Ära anhing, hat sie jedenfalls abgelegt. Darüber hinaus verfügen ÖVP und FPÖ über beträchtliche inhaltliche Schnittmengen. Beide wollen einen Migrations-Stopp – die FPÖ verfolgt allerdings einen noch schärferen Kurs und will eine Minus-Zuwanderung. Nah beieinander liegen die Parteien auch bei den Themen Sicherheit und Wirtschaft (keine Erbschaftsteuer, Verschlankung des Staates und Kürzung von Leistungen für Asylbewerber und Ausländer).
All dies deutet darauf hin, dass sich die Kräfteverhältnisse in Europa ändern werden. Kurz und die Osteuropäer dürften künftig die Rolle Großbritanniens vor dem Brexit-Referendum einnehmen: weniger Flüchtlinge, mehr nationale Kompetenzen, ein kritisches Auge auf regelungswütige EU-Behörden. Die Suche nach Kompromissen in der Gemeinschaft wird noch komplizierter. Auch Merkel wird das bald spüren.